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Sozialistische Ideen und Idealkonstruktionen sind ebenso alt wie die Gesellschaftsphilosophie, die von Anfang an eine individualistische und eine sozialistische Denklinie aufgewiesen hat. Ein Faktor des aktiven politischen Lebens wird die sozialistische Gesellschaftsanschauung erst während und unmittelbar nach der großen französischen Revolution – von der Mitte der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts an. Verschwörung und Revolte waren in jener Zeit die politischen Aktionsmittel des Sozialismus, und Frankreich war dazumal das klassische Land der sozialistischen Bewegung. Doch diese Bewegung war noch nicht speziell eine Arbeiterbewegung, sondern eine Propaganda und ein Kampf politischer und wirtschaftlicher Ideologen aus allen Schichten der Gesellschaft, hauptsächlich aus den höchsten und den niedrigsten.
Um das Jahr 1848 herum findet eine Szenenveränderung von fundamental weltgeschichtlicher Bedeutung statt. Der Sozialismus wird die Gesellschaftstheorie und das Gesellschaftsideal einer neuen politischen Partei – der eigenen politischen Partei der modernen Arbeiterklasse – einer politischen Partei mit internationalen Prinzipien und Bestrebungen – einer im äußersten Grade umstürzlerischen politischen Partei – einer Partei, die ihre revolutionären Forderungen und Hoffnungen auf eine streng wissenschaftliche Gesellschaftsauffassung stützt. Zugleich werden die Denkwerkstatt und das Organisationszentrum von Frankreich nach Deutschland verlegt – nicht ohne heftige, noch heute andauernde Proteste von französischer Seite.
Wir haben also in der Geschichte des politisch aktiven Sozialismus mit einer älteren französischen und einer jüngeren deutschen Führerschaft zu rechnen. Und wir haben einen tiefgehenden entwicklungsgeschichtlichen Unterschied zwischen französischer und deutscher Führung zu beachten – einen Unterschied, den der Übergang des Sozialismus von klassenloser, utopistischer Ideologie zu einer politischen Klassenpartei mit einem auf wissenschaftlichem Grunde ruhenden Programm am besten kennzeichnet, worin der Gedanke, daß der soziale Umsturz als evolutionäre Naturnotwendigkeit und nicht als geglückter Revolutionsstreich kommen werde, eine Hauptrolle spielt.
Obwohl der deutsche Sozialismus Frankreich in gewissem Maße erobert hat, findet man doch noch Spuren des alten Gegensatzes, dem es auf französischer Seite niemals an einem nationalistischen und chauvinistischen Zuge gefehlt hat. Es hat stets französische Sozialisten gegeben, welche den, französischem Nationalismus unbequemen, Internationalisms des deutschen Sozialismus als – »Pangermanismus« ausgelegt haben! Eine Erinnerung hieran ist, unter vielem anderen, ein von James Guillaume geschriebenes Buch Karl Marx pangermaniste et l'Association internationale des Travailleurs de 1864 à 1870 Paris, 1915., worauf ich noch wieder zurückkommen werde.
In der langen Geschichte der sozialistischen Theorien und Bestrebungen bildet Karl Marx mit seiner wissenschaftlichen und organisatorischen Tätigkeit den großen Scheideweg. In der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt Marx seinen großangelegten, tiefdurchdachten Versuch, den bis dahin utopisch-spekulativen sozialistischen Ideen eine streng wissenschaftliche Grundlage zu geben. Und zugleich versucht er, einen hiermit engzusammenhängenden nicht weniger genialen Gedanken zu verwirklichen – den, aus der Arbeiterklasse eine politische Partei mit Bestrebungen zu machen, die zugleich grundverschieden von denen aller anderen politischen Parteien sein sollen und nichts anderes bedeuten als das bewußte planmäßige Fördern des eigenen naturnotwendigen Entwicklungsverlaufes der Gesellschaft bis zur sozialistischen Form des Gesellschaftslebens hin.
Der Gedanke, daß Armut und soziale Unfreiheit durch das Betreiben der Produktion mit gesellschaftlich besessenen Produktionsmitteln und gesellschaftlich organisierter Arbeit beseitigt werden sollen, war niemals an besondere nationale Verhältnisse gebunden. Marx macht den Gedanken dadurch noch internationalistischer, daß er ihn auf eine allgemeine soziologische Entwicklungstheorie stützt. Er versuchte zu beweisen, daß der moderne Großindustrialismus mit Naturnotwendigkeit und unabhängig von allen nationalen Verschiedenheiten und Schranken eine Produktionstechnik und ein Eigentumssystem heranreifen läßt, die schließlich die Fortdauer des Privatkapitalismus unmöglich machen und an seiner Stelle den Sozialismus hervorzwingen. Diese wirtschaftliche Entwicklung ist ihrer Natur nach nationalitätsauflösend, internationalistisch, denn sie macht die Produktionstechnik, das Eigentumssystem und die Arbeitsordnung in allen Ländern gleichartig und vereinigt diese, durch den Welthandel, zu einer internationalen Wirtschaft mit beständig abnehmenden nationalen Gegensätzen und Verschiedenheiten.
Der soziale Ausdruck dieses Internationalisierungsvorganges ist das Verschwinden der alten, national gefärbten Gesellschaftsklassen (der Stände) und ihr Ersetztwerden durch zwei, infolge ihrer wirtschaftlichen Lage grundsätzlich nationalitätslose Klassen: die besitzlosen Lohnarbeiter (»die Proletarier«) und die das Eigentum monopolisierenden Unternehmungsleiter (»die Kapitalisten«, die »Bourgeoisie«). Wenn die »Proletarier« zureichend besitzlos geworden, abhängig und verarmt sind, wenn die Mittelklassen verschwunden sein werden und alles Produktiveigentum in den Händen weniger »Kapitalmagnaten« konzentriert ist, dann muß der Umsturz von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsordnung ganz von selbst kommen. Durch ihre Armut und ihre Sklavenstellung hat die »Proletarier«-klasse alle nationale Eigenart verloren. Desgleichen die Kapitalistenklasse, dank ihren ausschließlich wirtschaftlichen Lebensinteressen und der selbstverständlichen Nationalitätslosigkeit des Privatkapitals. Ob der Profit durch Landsleute oder durch Neger oder Chinesen erzeugt werde, das ist dem Privatkapital als solchem gänzlich gleichgültig. Doch daß das Privatkapital auf den Profit verzichten könnte, damit Landsleute imstande seien, wie Menschen zu wohnen und zu leben – das ist eine innere Ungereimtheit.
Werden sich nun die »Proletarier« ihrer Klassenlage bewußt, so werden sie sich zugleich auch ihrer Nationalitätslosigkeit bewußt. Die politische Partei, die sie bilden, um zum »übernehmen der politischen Macht« bereit zu sein, wenn die kapitalistische Gesellschaft zusammenbricht, wird grundsätzlich eine nationalitätslose, eine international fühlende, denkende und strebende Partei. Die sozialdemokratischen Parteien der verschiedenen Länder sind vom ersten Augenblicke ihres Daseins an auf gemeinsames Verständnis und gemeinsames Arbeiten angewiesen – müssen eine »Internationale« bilden.
Das erste Programm der internationalen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung ist das 1847 von Marx(zum Teil gemeinschaftlich mit seinem Freunde Friedrich Engels) verfaßte »Kommunistische Dem damaligen Sprachgebrauch« nach bedeutete das Wort »Kommunist« dasselbe wie heute »Sozialist« und »Sozialdemokrat«. Manifest«. »Den Kommunisten ist vorgeworfen worden, sie wollten das Vaterland, die Nationalität, abschaffen«, heißt es darin. Und die Antwort lautet: »Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.« Das Manifest schließt mit dem bekannten Aufrufe an das Proletariat, sich an der sozialen Revolution zu beteiligen, wenn die Zeit dazu reif sei. »Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Proletarier aller Länder vereinigt euch!«
Zwei Fragen wären also zu beantworten. Denkt Marx sich jene neue »Welt«, welche die »Proletarier« sich so »erobern«, nationalitätslos oder nicht? Und meint er, daß die Arbeiter vor der Revolution nationale Interessen zu verteidigen hätten, oder nicht?
Es läßt sich schwerlich bestreiten, daß Marx die erstere Frage in seinem »Manifest« in negativer Richtung beantwortet. Er sagt dort unter anderem folgendes: »Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie. Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse. Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen.«
Hier wird deutlich genug gesagt, daß das Proletariat nur so lange einen gewissen nationalen Charakter behalte und »noch national« sei, wie es sein Befreiungswerk im Rahmen der Bourgeoisie betreiben müsse. Doch nachdem schon hierbei die nationale Eigenart verringert worden sei, werde sie in der neuen, nachrevolutionären Sozialistengesellschaft »noch mehr verschwinden«.
Das Ideal, das Marx vorgeschwebt hat, ist ohne Zweifel die beständig fortschreitende Verminderung der nationalen Verschiedenheiten, nicht aber ihre weitere Entwicklung und ihr immer höhere Form annehmendes Weiterbestehen in aller Zukunft als unverlierbarer Zug der geistigen Kraftausrüstung der Menschheit.
Doch die Vereinfachung und Vergröberung einer Idee oder Theorie, die sich bei ihrer Übertragung aus dem Denkleben des Erfinders in das der großen Massen unwillkürlich einstellt, hat unvermeidlich dazu geführt, daß die Sozialdemokratie auf lange Zeit hinaus abstrakt, dogmatisch nationalitätsfeindlich wurde, »vaterlandslos« – in der Theorie, wenn auch nicht im Herzen!
Jedenfalls lag hier eine Ursache zu Unklarheit und Zersplitterung vor. Die aus persönlicher Neigung sowohl im Herzen wie in der Theorie nationalitätsfeindlichen Mitglieder der Sozialdemokratie konnten sich jederzeit auf Marxens hohe Autorität und auf gewisse traditionelle Agitationsphrasen innerhalb der Bewegung berufen. Die Mitglieder hingegen, die in der Nationalität einen großen, ewigen Menschheitswert sahen, waren gezwungen, so lange, wie es ging, sowohl mit der Theorie wie mit ihrer eigenen Überzeugung einen Kompromiß zu schließen, um nicht als offenbare Ketzer gegen das theoretische Programm aus dem einmal gegebenen Rahmen der Bewegung zu fallen.
Dieselbe halbe Unklarheit und denselben halben Negativismus, die also Marxens Standpunkt in der Frage des zukünftigen Wertes der Nationalität und ihrer zukünftigen Bedeutung im Jahre 1848 charakterisierte, finden wir wieder, wenn es sich um die gegenwärtigen Verhältnisse handelt – um die Kapitalistengesellschaften, ihren Kampf miteinander und das Verhalten des Proletariates gegen diesen Kampf.
Auf den ersten Blick hin scheint die Sache freilich ganz einfach zu sein. »Der Arbeiter hat« ja »kein Vaterland«. Er hat »nichts zu verlieren« als seine »Ketten«.
Hier ist der Grundgedanke bei Marx natürlich der, daß der Arbeiter in der bürgerlichen Gesellschaft gezwungen ist, ein viel zu elendes und kulturloses Leben zu führen, daß er einen viel zu geringen Einsatz in die materiellen und geistigen Werte des Vaterlandes hat, um an dessen Geschicken Interesse zu haben, und daß es ihm unmöglich ist, »national zu empfinden«.
Hierbei aber übersieht Marx offenbar, daß die Nationalität »im Blute liegt« und gleich diesem unveräußerlich ist. Die Nationalität ist eine körperliche und geistige Beschaffenheit, die sich weder durch irgendein »Produktionssystem« noch durch wirtschaftlichen Verkehr, noch durch soziales Elend auslöschen läßt. Kapitalismus und Proletenelend können die Menschen verflachen und versumpfen; aber auch diese ihre Erniedrigung trägt die charakteristischen Merkmale ihrer Nationalität; und wenn sie sich wieder aus der Verflachung und Versumpfung erheben, sind sie konkrete, national eigenartige Menschen, die wieder in voller geistiger Kraft und Gesundheit auferstehen, nicht abstrakte internationale Menschen. Nationalität ist kollektive, naturbedingte Persönlichkeit – im Guten wie im Bösen.
Augenscheinlich haben die Vorstellungen, die sich Marx, als er das »Manifest« schrieb, von dem Wesen und der Zukunft der Nationalität machte, unter dem Einflusse nationalitätsverneinender Ideenströmungen gestanden. Daher sind seine Äußerungen über diesen Punkt ebenso unreif, wie seine Theorien über die Aussichtslosigkeit des »Proletariats« auf Erhaltung eines Anteils an den materiellen und geistigen Werten der »Kapitalistengesellschaft« einseitig pessimistisch, unrealistisch und falsch waren.
Als demokratischer Freiheitskämpfer und revolutionärer Mann der Opposition gegen die ganz oder halb automatischen Regierungen der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mußte er gegen nationale Unfreiheit, die Gewalt und Bedrückung, der eine Nation die andere unterwarf, aufs schärfste Front machen! Aber er tut dies unter internationalistisch demokratischen und humanitären Gesichtspunkten, aus allgemeinem demokratischem und pazifistischem Empfinden und Überzeugtsein heraus – nicht etwa aus Besorgnis um das Erhaltenbleiben nationaler Eigenart als solcher.
Mit der Oberflächlichkeit der Marxschen Nationalitätsauffassung hängt auch die Oberflächlichkeit seiner Theorie über die Ursachen des Krieges zusammen. Diese ist ausschließlich eine wirtschaftliche Theorie und einseitig darauf zugeschnitten, daß sie den Krieg zwischen Kapitalistenstaaten soll erklären können.
»In dem Maße, wie die Exploitation des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben«, sagt er im »Manifest«. »Mit dem Gegensatz der Klassen im Inneren der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander«, fährt er fort.
Nach der Theorie, die Marx 1848 aufgestellt hat, sind Krieg, Eroberung und Nationalitätsbedrückung also ebenso unerläßliche wie ausschließliche Kennzeichen der vorkapitalistischen und kapitalistischen, der noch nicht proletarisch revolutionierten Gesellschaft, der Standesgesellschaft und der Klassengesellschaft. Wenn das Proletariat »die politische Macht übernommen hat«, fallen die Gegensätze, die Kriegsursachen und der Unfriede zwischen den Völkern ganz von selbst fort.
Die tiefste Kriegsursache ist nach Marx die wirtschaftliche Ausbeutung und Unterdrückung einer Gesellschaftsklasse durch die andere innerhalb der Nationalgesellschaften. Dem eigenen Wesen des Privatkapitalismus gemäß müssen diese Ausbeutung und diese Bedrückung in Gestalt von Handelskriegen, Kolonialkriegen und Eroberungskriegen über die Grenzen des kapitalistischen Nationalstaates hinausgreifen und die Freiheit anderer Völker beeinträchtigen. Die fundamentale Kriegsursache ist, auch in einem ausgeprägt nationalistischen Kriege, der Kapitalismus, nicht der Nationalismus – denn der Nationalismus erhält seinen kriegerischen Inhalt durch die kapitalistische, wirtschaftliche Expansionsbegierde, die im Grunde eine Expansionsnotwendigkeit ist, solange der Kapitalismus selbst existiert.
Nicht »die Völker«, sondern ihre Herrscher und Ausbeuter stiften Kriege an. Im »Volke«, im »Proletariat« als solchem, liegen keine Kriegsursachen versteckt. Die Arbeiter der verschiedenen Länder haben eitel übereinstimmende Interessen und sympathische Gefühle gegeneinander.
Wer sich für die auslandspolitischen Prinzipe und Tendenzen der Sozialdemokratie interessiert, der tut gut daran, wenn er die fundamentale Unklarheit beachtet, die sich hinter dieser scheinbar so einfachen und klaren Auffassung verbirgt.
Wir dürfen nicht vergessen, daß die Gesellschaftstheorie der Sozialdemokratie naturwissenschaftlich deterministisch ist. Die soziale Entwicklung geht unabhängig von dem »freien« Willen der Menschen vor sich. Höchstens läßt sie sich durch die Menschen beschleunigen oder verzögern – aber niemals in wesentlichen Zügen ändern.
Eine solche Auffassung muß doch für eine grundsätzlich pazifistische Arbeiterklasse in einer Gesellschaftsordnung, die grundsätzlich das Gegenteil von pazifistisch ist, recht eigentümliche Konsequenzen enthalten!
Solange, wie das Proletariat in der Kapitalistengesellschaft leben muß – weil diese Gesellschaft noch nicht reif zum Umsturze ist – können die Lebensinteressen des Proletariates, wie es mir scheinen will, doch unmöglich denen der Kapitalistengesellschaft ganz und gar ungleich sein. Wenn es, geschichtlicher Notwendigkeit und soziologischem Gesetze zufolge, noch keine andere Art, zu produzieren und zu leben (denn man muß ja produzieren, um leben zu können), gibt als das privatkapitalistische System und wenn dies System notwendigerweise imperialistisch ist, Kolonialkriege, Eroberungskriege, Handelskriege und Militarismus mit sich bringt, dann wird wohl ein soziologischer Determinist unmöglich leugnen können, daß das Proletariat sein, allerdings tragisches Interesse bis auf weiteres mit jenem Imperialismus, Unfrieden und Militarismus verflochten sieht – gleichwie mit dem Bestehen und der Entwicklung des Privatkapitalismus überhaupt.
Die Proletarier der verschiedenen kapitalistischen Nationen geraten miteinander in wirtschaftliche Interessenkonflikte und können zu Kriegen gegeneinander gezwungen sein – nicht deshalb, weil sie selbst einander übelwollen, sondern weil sie von einer ehernen soziologischen Notwendigkeit beherrscht werden; sind sie doch bis auf weiteres an die kapitalistische Gesellschaft und deren Lebenswillen gefesselt.
Und wie wird es dann, wenn die eine Nation die andere in kapitalistischer Entwicklung überflügelt und sich der Weiterentwicklung der anderen mit Gewalt zu widersetzen sucht, um »Suprematie« als Handelsstaat, Kolonialstaat, Kapitalistenstaat zu gewinnen? Wie England z. B. wiederholt getan hat und sichtlich während des jetzt vor sich gehenden Weltkrieges mit Deutschland tun will. Wie wird es dann mit der Interessenharmonie zwischen den Arbeitermassen beider Länder? Werden die Arbeiter in dem um einige Jahrzehnte zu spät gekommenen Lande fordern, daß der Konflikt durch freiwilliges Verzichten ihres Vaterlandes auf seine Weiterentwicklung zu kapitalistischer Großmacht beigelegt werde?
Was wird dann aus den eigenen wirtschaftlichen Zukunftsaussichten jener Arbeiter – solange die Periode des Kapitalismus noch andauert?
Es läßt sich nicht leugnen, daß die Lebenshaltungen der Arbeiter zwischen 1850 und 1915, im großen gesehen, gestiegen sind, teilweise vom Niveau des »Lumpenproletariats« auf das der »Arbeiteraristokratie«, und daß diese, von Marx 1850 nicht vorausgesehene, noch immer fortschreitende Verbesserung der materiellen, kulturellen und sozialen Lage der Arbeiterklasse aufs engste mit der Entwicklung des primitiven, chaotischen Großkapitalismus zu einem reiferen, besser organisierten Großkapitalismus zusammenhängt. Aber es läßt sich auch nicht bestreiten, daß der wirtschaftliche und politische Imperialismus gleichfalls ein wesentlicher Zug dieser Entwicklung des modernen Kapitalismus ist.
Es besteht eine ursächliche Verbindung zwischen Deutschlands 1871 erfolgter Konsolidierung und Machtvergrößerung und seiner ungeheueren, auch der Arbeiterklasse zugute kommenden wirtschaftlichen Entwicklung nach 1871. Die englischen Arbeiter wissen selber ganz genau, daß der gewaltige englische Kolonial- und Handelsimperialismus – dessen Grund im 17. und 18. Jahrhundert durch Handels- und Kolonialkriege gelegt wurde und der sich im 19. durch Kolonialkriege, andere Kriege und Eroberungen weiter entwickelt hat – keineswegs eine für ihren relativen Wohlstand und dessen fernere Hebung bedeutungslose Sache ist.
Moderner Großkapitalismus und moderne Großstaatsbildung imperialistischer Art sind zwei Ausdrücke ein und desselben Grundfaktums: der zunehmenden Bedeutung des Großbetriebes, der Organisation im großen, innerhalb des sozialen Lebens. Und ist das sozialdemokratische Programm in seinem sozialistischen Teile etwas anderes als eine Voraussagung, daß der soziale Großbetrieb schließlich so vollständig zum Durchbruche kommen werde, daß »die Expropriateure expropriiert« werden und die Gesellschaft die Produktion nach einheitlichem Plane selbst übernimmt?
Der Kapitalistenstaat ist ein Raubstaat – im Inneren und nach außen hin – dem Marxismus gemäß. Die Proletarier leben in diesem Raubstaate und können sich auf keine andere Weise von ihm losmachen, als durch seine eigene naturnotwendige innere Entwicklung zu einem Sozialistenstaate – dem Marxismus gemäß.
Entstehen dann nicht mit geschichtlicher Notwendigkeit manchmal Entwicklungssituationen, in welchen der Pazifismus der Proletarier und ihr Wohlwollen gegeneinander über die Nations- und Staatsgrenzen hinaus sowohl mit dem Gesetze der geschichtlichen Entwicklung (dem Marxismus gemäß) wie auch mit dem eigenen, nationalen Proletarierinteresse in Konflikt geraten?
Und sehen wir nicht gerade dies während des Weltkrieges 1914-16 in allergrößtem Maßstabe stattfinden? In diesem Kriege, der den proletarischen Pazifismus in einem proletarischen Nationalismus hat ertrinken sehen – wenigstens in Frankreich und England.
Mit anderen Worten: hier ist noch ein Paragraph im Programme des Marxismus, der sich vor der geschichtlichen Entwicklung unhaltbar erwiesen hat und deshalb der Umarbeitung bedarf.
Der Weltkrieg hat plötzlich einen sehr auffallenden Mangel an Übereinstimmung zwischen den radikal pazifistischen und antiimperialistischen auslandspolitischen Theorien und Bestrebungen der modernen Arbeiterbewegung einerseits und dem radikal imperialistischen und kriegerischen Verlauf der tatsächlichen auswärtigen Politik andererseits aufs gründlichste enthüllt. Dies kann einer Volksbewegung, die ihre Autorität in vielem auf den Glauben gründet, daß sie die reifste wissenschaftliche Auffassung des Ursachenverhältnisses zwischen der wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft und dem politischen Charakter der Staaten und ihrem politischen Zusammenleben besitze, nichts weniger als gleichgültig sein.
Die marxistische »materialistische Gesellschaftsauffassung« ist entweder nicht imstande gewesen, der modernen Arbeiterklasse die richtige Erklärung des notwendigen Verhältnisses der modernen Gesellschaft zu den Problemen des Nationalismus und des Krieges zu geben, oder die Erklärung ist, obgleich wenigstens teilweise wertvoll, aus irgendeinem Grunde innerhalb der Arbeiterbewegung nicht vorurteilslos und folgerichtig angewandt worden.
Die sozialistische Arbeiterbewegung unserer Zeit hat unzählige radikal pazifistische Deklarationen erlassen – in gewissen kritischen Lagen vielleicht nicht ganz ohne Wirkung. Die entscheidende Probe – Ende Juli und Anfang August 1914 – hat sie dennoch nicht bestanden. Europas friedensfreundliche sozialistische Arbeiterorganisationen konnten das Ausbrechen des Krieges nicht verhindern. Ja, sie konnten nicht einmal verhindern, daß der Krieg ihre gewaltige internationale gemeinsame Organisation völlig auseinandersprengte. Die sozialistische »Internationale« zerfiel in nationale, ja in nationalistische Sozialistengruppen, die sich hinsichtlich der unerschütterlichen Durchführung des Krieges bis zum Siege mit der Regierungspolitik der verschiedenen kämpfenden Staaten identifizierten.
Diese entscheidende Tatsache hat man auf sozialdemokratischer Seite durch eine Phrase über unerschütterte theoretische Einigkeit innerhalb der augenblicklich durch den Weltkrieg auseinandergerissenen Nationszweige der Internationale zu bemänteln versucht. Diese Zweige werden sich solange, wie es nötig ist, an der Verteidigung ihres respektiven Vaterlandes beteiligen, und hernach wird die Internationale wieder entstehen, sagt man – ungefähr so, als ob nichts vorgefallen sei.
Das Argument huscht über den entscheidenden Punkt der Situation hinweg. Verschiedene Nationszweige der Internationale stellen unvereinbare, teils nationalistisch, teils chauvinistisch gefärbte Friedensbedingungen auf – schon jetzt, da ich dies niederschreibe (zu Anfang des Jahres 1916). Und es ist vorauszusehen, daß diese Meinungsverschiedenheiten sich noch vervielfältigen und verschärfen werden, wenn der verhängnisvolle Tag kommt, da es wirklich gilt, die Umrisse der neuen Weltlage, die als das politische Resultat, als die Frucht der Aufopferungen, aus der blutigsten, verwüstendsten kriegerischen Kraftmessung der Weltgeschichte hervorgehen wird, endgültig zu bestimmen.