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II
Sozialdemokratische auswärtige Politik

7. Die Arbeiterbewegung als ein Faktor der auswärtigen Politik unserer Zeit

In der auswärtigen Politik, sowie auch in der inneren, nehmen heutzutage, seitdem die Zeit der politischen Religionsstreitigkeiten vorüber ist, die wirtschaftlichen Macht- und Wohlfahrtsfragen die erste Stelle ein, neben den Bestrebungen des Nationalismus und des Demokratismus und oft in unzertrennlicher Verbindung mit ihnen. Die politischen Parteien sind wesentlich wirtschaftliche Interessenvertretungen, sofern sie nicht um nationale Gleichstellung innerhalb eines aus mehreren Nationen zusammengesetzten Staates oder um konstitutionelle Reformen liberalistischer oder demokratischer Art kämpfen. Und auch die Verhältnisse zwischen den Staaten werden im Frieden und im Kriege überwiegend durch wirtschaftliche Interessen bestimmt, soweit nicht rein nationale Einheitsbestrebungen oder rein staatliche Selbständigkeits-, Macht- und Ehrenfragen entscheiden.

Da ist es denn selbstverständlich, daß die Arbeiterbewegung und die auswärtige Politik tiefliegende Berührungspunkte miteinander haben müssen.

Die politische Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts wird nicht nur durch das Vordringen des Demokratismus und des Nationalismus zu Rangstellungen von entscheidender Bedeutung im inneren und äußeren Leben der Staaten gekennzeichnet, sondern auch durch das Hinaufsteigen der Arbeiterklasse zu sozialem und politischem Selbstbewußtsein und zu einer politischen Machtstellung. Und während des letzten Jahrzehntes des neunzehnten Jahrhunderts sowie im ersten des zwanzigsten haben die politischen Parteiorganisationen und wirtschaftlichen Fachorganisationen der Arbeiter auch auf internationalem Gebiete bedeutungsvolle Tätigkeit entwickelt – d. h. eine eigene Art auswärtiger Politik neben der der Staatsbehörden betrieben und auch einen gewissen Einfluß auf diese letztere ausgeübt.

Die Frage, wie sich die Arbeiterbewegung vor dem Ausbrechen des Weltkrieges, beim Kriegsausbruche und nachher verhalten hat, ist daher eine in hohem Grade zeitgemäße politische Frage. Und es ist nicht schwer zu erkennen, daß sie dies auch unter rein prinzipiellen Gesichtspunkten sein muß.

Die »Arbeiter« – d. h. die körperlich arbeitenden, besitzlosen, ihr ganzes Leben hindurch den Unternehmungen anderer dienenden Lohnarbeiter und die ihnen kulturell und wirtschaftlich am nächsten stehenden untersten Intelligenzarbeiter, die scheinbar selbständigen, aber im Grunde sehr abhängigen ganz kleinen Landwirte, die Handwerker und die Krämer – bilden die Hauptmasse der Bevölkerungen der modernen Industriestaaten. In jedem Lande vergrößert sich die Proportion dieser wirtschaftlich dienenden oder sonstwie unselbständigen Bevölkerung in demselben Maße, wie die Industrialisierung oder Kommerzialisierung des Erwerbslebens fortschreitet.

In England ist vor zehn Jahren ausgerechnet worden, daß die »kleinen« Einkommen, d. h. in der Mittelzahl um 2000 Mark herum pro Familie von Durchschnittsgröße, etwas mehr als die Hälfte des gesamten privaten Nationaleinkommens betragen und daß 88% der Bevölkerung von solchen »kleinen« Einkommen leben. Die eigentlichen Lohnarbeiter und ihre Familien wurden auf 75% der Bevölkerung und ihr Anteil am Nationaleinkommen auf 38% geschätzt.

So unsicher derartige Berechnungen in ihren feineren Einzelheiten auch sind, so lassen doch die auf anderem Wege, z. B. auf dem der Berufsstatistik, gemachten Beobachtungen keinen Zweifel daran bestehen, daß der wirtschaftliche und soziale Zustand, dessen Typus die Verhältnisse des Lohnarbeiters oder »Arbeiters« kennzeichnen, in den modernen Gesellschaften bereits das Los der meisten Staatsbürger ist oder es schnell wird.

Daher hat es für den Gesellschaftsforscher die größte »typologische« Bedeutung, zu beobachten, wie der »Arbeiter« in unseren Tagen seine wirtschaftlichen und politischen Interessen auffaßt und wie er sie innerhalb der inneren und der auswärtigen Politik zu fördern und zu schützen sucht.

Der »Arbeiter« kann nicht, wie der Bauer, durch eigene Arbeit auf eigener Scholle notdürftig für seinen Unterhalt und den seiner Familie sorgen, wenn eine Wirtschaftskrise die übrige Gesellschaft erschüttert. Die Wirtschaft des »Arbeiters« beruht gänzlich darauf, wie es im großen ganzen mit der Gesellschaftswirtschaft steht. Gerät diese ins Stocken, so verliert er sein Einkommen, ganz oder teilweise. Tritt schnell Teuerung ein, so muß er auch dann von verminderten Rationen leben, wenn er das Glück hat, sein altes Geldeinkommen zu behalten. Der Auslandshandel interessiert ihn direkt ebenso sehr wie der Inlandshandel, die Handhabung der ausländischen Produktion oft ebenso sehr wie die der nationalen Produktion.

Als eine dem Existenzminimum nahestehende Haushaltung und als eine vollständig »kommerzialisierte«, von aller Eigenproduktion losgelöste Wirtschaft ist die Ökonomie des »Arbeiters« das gegen äußere und innere Störungen empfindlichste Gebiet der ganzen Nationalwirtschaft. Alles, was Politik – innere und auswärtige – ausrichten kann, um das nationale Erwerbsleben zu fördern und zu stabilisieren und um dem »Arbeiter« einen größeren, sichereren Anteil am Nationaleinkommen zu gewähren, muß ihm im höchsten Grade wichtig sein.

Wenn man als ein den Unternehmungen anderer auf Lebenszeit Dienender seine wirtschaftliche Existenz so eng mit den Wirtschaftsverhältnissen der meisten anderen Mitbürger und zahlreicher anderer Länder verflochten weiß, dann bleibt einem nichts anderes übrig als zu Organisation und Politik zu greifen, um aus dem Chaos und einem Zustande verzweifelter Hilflosigkeit errettet zu werden.

 

Man braucht in der politischen und ökonomischen Geschichte und Statistik unserer eigenen Zeit gar nicht sehr bewandert zu sein, um zu wissen, daß der moderne Arbeiter tatsächlich in größtem Maßstabe zu diesen beiden zeitgemäßen Universalmitteln im Kampfe einer sozialen Klasse um ihr Dasein gegriffen hat und daß dadurch sowohl in der äußeren wie in der inneren Politik ein neuer Machtfaktor entstanden ist.

Das dem Lohnarbeiter am nächsten liegende Organisationsbedürfnis ist rein wirtschaftlich und gilt der Regelung der Höhe des Lohnes und der Beschaffenheit der Arbeitsbedingungen. Dem Arbeitgeber des modernen Großbetriebes gegenüber kann er nur in festem Verbande mit seinen Kameraden, durch eine Fachgenossenschaft hoffen, das notwendige Mitbestimmen über die Lohn- und Arbeitsbedingungen ausüben zu dürfen. Und dank der zunehmenden Internationalisierung des Erwerbslebens durch den Auslandshandel sind die Lohn- und Arbeitsverhältnisse innerhalb derselben Fächer in verschiedenen Ländern sehr voneinander abhängig geworden – so daß sich ein internationales Zusammenwirken der Fachgenossenschaften vernotwendigt hat.

Diese gemeinsame Tätigkeit war vor dem Weltkriege in der »internationalen Föderation der Fachvereine« konzentriert, die ihren Sitz in Berlin hatte und im Jahre 1912 zweiundzwanzig nationale Zentralorganisationen mit zusammen fast 7 400 000 Mitgliedern umfaßte – obgleich der Anschluß an die internationale Organisation bis dahin noch nicht dazu gelangt war, sämtliche Fachvereinsmitglieder in den angeschlossenen Ländern zu umfassen. Es ist selbstverständlich, daß eine derartige Riesenorganisation, der Kohlengrubenarbeiter, Eisenindustrie- und Metallarbeiter, Textilarbeiter, verschiedene Gruppen der Transportarbeiter, Bauarbeiter usw. angehören, alle Voraussetzungen besitzt, so nach und nach eine außerordentlich bedeutsame international-regulierende Tätigkeit zu entwickeln. Allein schon in den unter diesen Gesichtspunkten wichtigsten der jetzt kriegführenden Länder (außer Rußland, wo statistische Angaben fehlen) – also in Deutschland, Österreich, England, Frankreich und Italien – waren gegen 4 500 000 Fachgenossenschaftsmitglieder an die internationale Organisation angeschlossen. Dies ist indessen nur ungefähr die Hälfte sämtlicher Fachvereinsmitglieder in den genannten fünf Ländern.

In Deutschland gab es 1912 allein 3 300 000 Fachgenossenschaftsmitglieder, unter denen 2 500 000 an die internationale Föderation angeschlossen waren. In England dagegen waren von 3 000 000 nur 860 000 angeschlossen, und in Frankreich unter 1 000 000 bloß 390 000. Daraus geht deutlich hervor, daß in der Fachvereinswelt Englands und Frankreichs das »internationale« Interesse geringer ist als in der Deutschlands.

Die einzige, von Lohnarbeitern als solchen gebildete politische Organisation, die Bedeutung hat, ist die sozialdemokratische Arbeiterpartei – die allerdings in verschiedenen Ländern unter ein wenig abweichenden Bezeichnungen und mit nicht ganz gleichlautenden Programmen auftritt. Auch auf diesem Gebiete gibt es, wie allgemein bekannt, eine internationale Organisation – gewöhnlich »die Internationale« genannt – die noch tiefer in dem Programme und den Bestrebungen der Bewegung selbst wurzelt, als es bei der internationalen Föderation der Fachgenossenschaftsbewegung der Fall ist. Die Sozialdemokratie ist bisher ihrer Idee nach zuerst international und nachher national gewesen, während hinsichtlich der Fachgenossenschaftsbewegung das Gegenteil gilt – obgleich diese letztere in gewissen Ländern in sehr großem Umfange von der Sozialdemokratie großgezogen und geleitet worden ist.

Die sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands hatte 1912 gegen 970 000 Mitglieder, erhielt aber bei den Wahlen zum deutschen Reichstage 4 250 000 Stimmen und damit 110 der 397 Volksvertreter. Die österreichische Sozialdemokratie hatte etwa 290 000 Mitglieder, erhielt aber (1911) 1 000 000 Stimmen und 82 Mandate von 516. Noch schärfer tritt in Frankreich und Italien das Mißverhältnis zwischen der relativ niedrigen Parteimitgliederziffer und den großen parlamentarischen Stimmen-und Vertreterzahlen hervor. In Frankreich beliefen sich 1914 die sozialistischen Stimmen auf 1 400 000 und die Parlamentsvertreter auf 101 von 595; Italien hatte (1909) 339 000 sozialistische Stimmen zu verzeichnen und unter 508 Volksvertretern 42 Sozialisten. In diesen vier Ländern – Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien – besitzen die sozialdemokratischen Parteien also einen politischen Anhang und eine parlamentarische Macht, die das, wozu ihre bloße Mitgliederzahl sie berechtigen würde, weit übersteigt. Die unter den Fahnen der Sozialdemokratie politisch organisierten Arbeiter bilden in diesen Ländern eine Kerntruppe, um welche sich gewaltige Massen der Reichstagswähler scharen, zum großen Teil ganz gewiß, ohne in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung der Arbeiterklasse ganz gleichgestellt zu sein.

Schon diese Tatsache muß argwöhnen lassen, daß die internationalistischen Ideen der »Internationale« schwerlich von allen den Reichstagswählern, die in diesen Ländern sozialdemokratisch stimmen, gleichmäßig stark umfaßt sein können – denn es liegt nahe, anzunehmen, daß sie durch ihr »Mitlaufen« mit der Sozialdemokratie vorzugsweise wirtschaftliche und demokratisch-politische, aber national begrenzte Zwecke zu fördern suchen. Die internationalen Ideen und Bestrebungen liegen doch immer dem Denken des gewöhnlichen Staatsbürgers etwas ferner als die nationalen.

Was England anbetrifft, so gab es dort 1912 zwar eine »Arbeiterpartei« mit ungefähr 1 540 000 Mitgliedern – aber es sind wenig Sozialdemokraten darunter, und diese haben wenig theoretische und internationalistische Interessen. Von den mehr als 3 Millionen Fachgenossenschaftsmitgliedern in England stimmen die meisten konservativ oder liberal, nicht mit der »Arbeiterpartei«.

Die großen inneren und äußeren Voraussetzungen der Arbeiterklasse, eine bedeutende Rolle in der auswärtigen Politik zu spielen, lassen sich nicht in Zweifel ziehen. Die Organisationsfähigkeit und das Interesse sind durch Zahlen, wie die eben angeführten, bewiesen. Die großen Massen der Nationen haben begonnen sich in Bewegung zu setzen – sowohl in außenpolitischer wie in innerpolitischer Hinsicht. Allerdings liegen die Verhältnisse, die eine internationale Föderation nationaler Fachgenossenschaften hervorzwingen, offen zutage. Aber mit der Sozialdemokratie verhält es sich anders. Ihr internationalistischer Ideenvorrat ist geschichtlich bedingt und hat eine geschichtliche Verwandlung erlitten, die gerade durch den Weltkrieg einen kritischen Punkt erreicht hat.


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