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III
Die Sozialdemokratie im Weltkriege

12. Die Sozialdemokratie beim Kriegsausbruche

Die Haltung der sozialdemokratischen Parteien in den verschiedenen Ländern – den kriegführenden und den neutralen – beim Ausbrechen des Weltkrieges und hinterdrein ist schon Gegenstand einer ziemlich umfangreichen Literatur geworden. Eine gute Materialsammlung bis zum Ende des Jahres 1914 ist A. W. Humphreys International Socialism and the War London 1915.. Eine Dokumentensammlung aus der Zeit um den Kriegsausbruch herum findet man in den August- und Septembernummern des Jahrgangs 1914 der schwedischen sozialdemokratischen Zeitschrift Tiden. Unter deutschen Darstellungen sind besonders zu beachten Eduard Bernstein, Die Internationale der Arbeiterklasse und der europäische Krieg Tübingen 1915., Eduard David, Die Sozialdemokratie im Weltkrieg Berlin 1915., Paul Lensch, Die deutsche Sozialdemokratie und der Weltkrieg Berlin 1915. und Heinrich Cunow, Partei-Zusammenbruch? Berlin 1915. Auch die Zeitschriften der deutschen Sozialdemokratie Neue Zeit und Sozialistische Monatshefte sind wichtige Quellen zu hierher gehörenden Studien – gleichwie die österreichischen, englischen und französischen Parteiorgane. Unter Hinweisung auf diese Literatur will ich mich hier darauf beschränken, einige zusammenfassende Züge zu geben und sie durch einige, anderen Quellen entnommene Einzelheiten zu vervollständigen.

 

Allgemeiner Streik, sobald ein Krieg auszubrechen droht, um ihn dadurch unmöglich zu machen – dieser ebenso unsozialistische wie wirklichkeitsfremde, durch und durch das Gepräge anarchistischer und syndikalistischer Oberflächlichkeit und Verworrenheit im Denken tragender Gedanke hat während der letzten Jahrzehnte sehr in der Arbeiterwelt Frankreichs, Englands, Hollands, Italiens und Rußlands gespukt. Die deutsche Sozialdemokratie hat ihn scharf zurückgewiesen. Und beim Ausbrechen des Krieges im August 1914 kam es in Frankreich und Rußland ebensowenig zu einer derartigen Kraftäußerung gegen den Krieg, wie in Deutschland.

Der Gedanke machte bei der großen Probe das gründlichste Fiasko – weil auch dem Arbeiter die Nationalität ein unvergleichlich viel stärkeres Band ist als die Internationalität und weil die Staatssolidarität unvergleichlich viel stärker bindet als die Klassenentzweiung löst, sobald die Existenz des Staates und seine Lebensmöglichkeiten auf dem Spiele stehen.

Einer der Väter des Kriegsstreikgedankens, der Holländer Domela Rieuwenhuis, verkündete 1891 auf dem Brüsseler Kongresse der Internationale, daß der »Chauvinismus« erst dann ein Ende nehme, wenn der Streik gegen jeden Krieg, Verteidigungskrieg sowohl wie Angriffskrieg, beginne, und daß er jegliches Unterscheiden zwischen Verteidigungskrieg und Angriffskrieg »verwerfe«. Hierauf antwortete der alte Wilhelm Liebknecht: »Der ganze Weltstreik ist nichts anderes als eine jämmerliche Phrase!« »Laßt euch nicht von der Phrase beherrschen! Es wäre der Fluch der Sozialdemokratie, unter die Herrschaft der Phrase zu geraten. Befreit euch von der Phrase.« Eduard David, op. cit., S. 43-44.

Dies hinderte die französische Sozialdemokratie von Hervé bis Jaurès nicht, noch 1907 in Stuttgart auf dem Kongresse der Internationale gewaltig für einen allgemeinen Streik bei drohendem Kriegsausbruche zu schwärmen – obgleich der russische Sozialdemokrat Plechanoff schon 1893 (in Zürich) darauf hingewiesen hatte, daß »der Militärstreik« in erster Linie gerade die Kulturvölker entwaffnen und »diese den russischen Kosaken ausliefern werde«. Op. cit., S. 45.

Dieselben französischen Sozialdemokraten (außer dem in dem den wirklichen Kriegsinteressenten günstigsten Augenblicke ermordeten Jaurès) sind im Weltkriege und durch ihn fanatische theoretische und praktische Eiferer für die »Auslieferung« des deutschen Volkes an die russischen Kosaken geworden. Und damit dürfte wohl der Kriegsstreikgedanke auch in Frankreich einstweilen begraben sein! Aber die Beerdigungsweise, das Ritual, ermangelt ja nicht der charakteristischen französischen Liebenswürdigkeit. Die Prinziptreue ist ja großartig! Und eine wirklich verständnisvolle internationale Brüderlichkeit leuchtet ja hell durch das Dunkel!

 

Das internationale Sozialistenbureau beschloß in seiner Sitzung, die am 29. Juli 1914 in Brüssel stattfand, »das Proletariat aller durch den drohenden Krieg berührten Länder einstimmig aufzufordern, ihre Demonstrationen gegen den Krieg, für den Frieden und für eine schiedsgerichtliche Entscheidung des österreichisch-serbischen Konfliktes nicht nur fortzusetzen, sondern noch zu vergrößern«. »Die deutschen und französischen Arbeiter sollen einen energischeren Druck als je zuvor auf ihre Regierungen ausüben, damit Deutschland mäßigend auf Österreich einwirke und Frankreich Rußland bestimme, sich nicht in den Konflikt einzumischen. Das Proletariat Großbritanniens und Italiens hat seinerseits diese Bemühungen aus allen Kräften zu unterstützen.« Tiden, August-September 1914, S. 229.

Daß die deutsche Regierung ihr Äußerstes tat, um »mäßigend auf Österreich einzuwirken«, ist eine erwiesene Tatsache. Wie aber stand es mit den Bemühungen Frankreichs »Rußland zu bestimmen, daß es sich nicht in den Konflikt mische«? Wie verhielt es sich mit Frankreichs gutem Willen, wenigstens sich selbst für die von Deutschland vorgeschlagene Neutralität zu entscheiden, falls jene eventuellen Bemühungen keinen Erfolg haben sollten?

Es war freilich jetzt nicht das französische Volk, sondern nur das deutsche, das »den russischen Kosaken ausgeliefert« werden sollte, – um noch einmal die Worte des russischen Sozialdemokraten Plechanoff anzuführen.

Erinnern wir uns des Laufes der Begebenheiten, auf welche es hier ankommt.

Die französische Regierung lehnte Deutschlands Neutralitätsgesuch am Vormittage des 1. August ab. Belgien lehnte den als Ultimatum formulierten Vorschlag Deutschlands, daß Belgien passiv neutral bleiben solle, am 2. August ab. Der Einmarsch der Deutschen in Belgien begann am 4. August. Englands Kriegserklärung an Deutschland wurde am 4. August überreicht.

Das am 30. Juli an Kaiser Wilhelm gesandte Telegramm des Zaren gab zu, daß »die jetzt in Kraft tretenden militärischen Maßnahmen« gegen Österreich schon am 25. Juli »beschlossen« worden seien. Rußlands allgemeine Mobilmachung, auch gegen Deutschland, begann spätestens am 31. Juli. Was in den diesem Termine vorangehenden Wochen und Tagen in dem dunklen Zarenreiche vorging, das dürften wohl die Forschungen späterer Zeiten entschleiern. Rußlands Truppen überschritten am 1. August die Grenze Ostpreußens, also an demselben Tage, als Deutschlands Kriegserklärung an Rußland überreicht wurde. Deutschlands Kriegserklärung an Frankreich fand am 3. August statt.

 

Wir können nun zu dem internationalen sozialistischen Bureau in Brüssel zurückkehren.

Die Verlegung des Krieges nach Belgien hinein war für dies Bureau »einer der härtesten Schläge«, wie Bernstein Op. cit., S. 7. sagt, und zersprengte es in nationale Gruppen, deren Mitglieder sich nun alle auf die Seite ihres eigenen Landes in dem Streite stellten.

Der Umstand, daß die Mitglieder des Bureaus über Belgiens Schicksal, der Kriegsschauplatz eines gemeinsamen, so lange schon vorbereiteten und besprochenen Revanche-Panslawistenkrieges Frankreichs und Rußlands gegen Deutschland und Österreich zu werden, so maßlos überrascht waren, legt Zeugnis davon ab, daß sie sich mehr mit ihren Theorien und Dogmen als mit den Realitäten der neuzeitlichen Gesellschaftsentwicklung beschäftigt hatten und infolgedessen intellektuell unvorbereitet waren, mit diesen umzuspringen. Und nicht allein dies. Ihre Überraschung über den Lauf der wirklichen Kriegsereignisse und ihre Art und Weise, damals und später Stellung zu diesen zu nehmen, beweisen auch noch etwas anderes und Bedenklicheres – nämlich, daß es mit der Vertiefung und Echtheit der sozialistischen sowohl wie der pazifistischen Überzeugung in den führenden Kreisen der Internationale kümmerlich bestellt war und noch ist.

Man predigt innerhalb der Internationale seit Jahrzehnten, daß der Kapitalismus die einzige eigentliche Ursache aller modernen Kriege sei und daß alle modernen Kriege kapitalistische Raub- und Konkurrenzkriege seien. Man klagt seit Jahrzehnten die Kapitalisten Rußlands, Englands und Frankreichs sowohl wie auch die Deutschlands an, daß sie, um ihre wirtschaftlichen Privatinteressen zu fördern, die Rüstungslasten in die Höhe trieben, die Völker gegeneinander hetzten, die Staaten zu blutigen Eroberungsabenteuern verleiteten und sich nicht davor scheuten, den Weltfrieden in Gefahr zu bringen.

Als die englischen und französischen Kapitalisteninteressen in Rußland, in Marokko, in der Türkei, auf dem Balkan usw. den Gegensatz gegen die dortigen deutschen und österreichischen Kapitalisteninteressen noch kürzlich mit unverhüllter Aggressivität wiederholt auf den Punkt, wo es biegen oder brechen muß, getrieben hatten und als, in der so vorbereiteten Situation, die Intrigen und Brutalitäten des slawischen Nationalismus schließlich die langerwartete und lange besprochene Explosion hervorrufen – da lassen die führenden Männer der Internationale in panischem Schrecken ihre Theorien über den Krieg des Kapitalismus fahren und werden im Handumdrehen zu gläubigen Nachbetern der speziellen Theorie der bürgerlichen Klassen Frankreichs, Englands und Rußlands, jener Theorie, daß der Weltkrieg der Krieg des »deutschen Militarismus«, der Krieg der »deutschen Barbarei« und der Krieg des »deutschen Kaiserismus« gegen die »Menschheit«, das »Recht« und die »Demokratie« sei.

Es erscheint diesen Friedensfreunden nun selbstverständlich, daß der Vertrag, der ein »neutrales« Belgien zu einem unverletzlichen Außenfort Englands und Frankreichs in allen ihren zukünftigen Kriegen gegen Deutschland gemacht hat, für das Land, dem die Interessen der Großmächte diesen Vertrag aufgezwungen, heiliger sei als der Friede selbst. Es wird nun gute, ententesozialistische Religion, daß Belgien sich als Kämpfer hinopfern muß, um den Kapitalistenstaaten England und Frankreich in ihren blutigen Auseinandersetzungen mit dem Kapitalistenstaate Deutschland zu helfen.

Seit wann sind denn die trüben, vergänglichen diplomatischen Vereinbarungen kapitalistischer Staaten für Umsturzsozialisten in so heiliger Weise bindend? – für revolutionäre Sozialisten nämlich, die ja den Tag herbeisehnen, da das Proletariat alle Verträge der kapitalistischen Gesellschaft aufheben und zerreißen wird! Belgische Proletarier müssen ein typisches französisch-englisches, durch typische Kapitalistenstaatsdiplomatie aus den heiligen Jahren 1831 und 1839 garantiertes Kapitalistenstaatsinteresse bis zum letzten Blutstropfen verteidigen!

Was man nun auch über den hier zutagetretenden Idealismus sagen möge – speziell proletarisch revolutionär, sozialistisch oder pazifistisch ist er nicht, und mit Marxens materialistischer Geschichtsauffassung oder seiner Klassenkampf- und Proletariatstheorie hat er nichts zu schaffen. Aber eine rein bürgerliche Rechtsideologie ist darin enthalten – welchen Wert sie nun haben möge.

 

Wo war nun jene bürgerliche Rechtsideologie, als die französischen und englischen, sowie verschiedene andere Elemente der Internationale für den großen internationalen Kriegsstreik eiferten? Was wäre ein aufrührerisches Sichweigern der Arbeiter aller mobilisierten Länder, den Gestellungsbefehlen nachzukommen, sowie die zur Mobilmachung notwendige Arbeit im Verkehrswesen, in den Waffen- und Munitionsfabriken auszuführen, und eine, ebenfalls in Aussicht gestellte, unmittelbare Zerstörung des wichtigsten Materials des Transportwesens denn schließlich anderes gewesen als ein auf revolutionäre proletarische Ideologie gestütztes, haarsträubendes Verbrechen gegen alle bürgerlichen Anschauungen über die Heiligkeit und die absolut verpflichtende Kraft der Treugelübde und der Gesellschaftsverträge? Ist das Gelübde der Treue gegen die Regierung des eigenen Volkes, gegen den eigenen geschichtlich entstandenen Staat für die eigene große Masse des Volkes weniger bindend – als die im Jahre 1839 zwischen den reaktionären Regierungen einiger »kapitalistischer Räuberstaaten« über Belgien geschlossene Neutralitätskonvention?

Und wie ist es bei den allgemeinen Streiken, die stattgefunden haben, tatsächlich zugegangen – z. B. bei dem des Jahres 1909 in Schweden? Hat die proletarische Ideologie unbedingtes Aufrechterhalten der geschlossenen Vereinbarungen gefordert? Hat man nicht die Solidarität der Proletarier höher gestellt als ihre vereinbarten Verpflichtungen gegen die Kapitalistengesellschaft? Vielleicht kann der neutrale Herr Branting darüber Auskunft geben.

Zugunsten einer derartigen revolutionären Ideologie läßt sich, unter marxistischem Gesichtspunkte, die weltgeschichtliche Tatsache anführen, daß im Staatsrechte sehr viele » ewig« bindende Verträge und Gesetze enthalten gewesen sind, gegen welche man sich mit der Zeit hat vergehen müssen, weil es unmöglich war, eine Einigung aller Beteiligten hinsichtlich der lebensnotwendigen Reformen zu erzielen, und daß es sich dann und wann auf dem Gebiete des sozialen Rechtes sowohl wie auch auf dem des wirtschaftlichen in ähnlicher Weise verhalten hat.

Es handelt sich also für den Umsturzsozialisten durchaus nicht darum, ob es überhaupt jemals recht sein kann, sich gegen Gesetz und Vertrag zu vergehen, sondern nur um die Frage, wann dies gutes revolutionäres Recht sein könne. Diese Frage hat Marx in betreff der Lohnarbeiterklasse in seinem »Kommunistischen Manifest« ausführlich behandelt.

 

Wenn revolutionäre Sozialisten und Pazifisten im Handumdrehen die proletarische, revolutionäre, sozialistische und pazifistische Ideologie fahren lassen, um sich mit Haut und Haar der bürgerlichen, ja speziell der ententebürgerlichen hinzugeben, so kann dies keinen anderen Grund haben als den sehr menschlichen, aber keineswegs proletarischen, revolutionären, sozialistischen oder pazifistischen, daß man aus nationalen Sympathien für die eine kämpfende Seite, in diesem Falle die Ententeseite, Partei ergriffen hat und daß man die Kampfideale und Streitparolen ihrer kapitalistischen Politiker zu seinen eigenen macht.

Unter diesem Gesichtspunkte ist es selbstverständlich, daß französische und englische Sozialisten sich mit einem französischen und englischen Kapitalistenkriege solidarisch machen mußten, nachdem dieser Krieg nun einmal trotz der Proteste der Sozialisten von den führenden Politikern entfesselt worden war.

Nicht ganz so leicht ist zu begreifen, warum Belgiens Sozialisten so erpicht darauf sein konnten, von den Grundsätzen des Pazifismus abzugehen und ein ungeheueres Blutopfer zu bringen, um ihre Treue gegen die im Jahre 1839 geschlossene, in Belgiens Souveränität eingreifende Zwangskonvention zu besiegeln. Der Eingriff in die Souveränität wäre dadurch nicht größer geworden, daß man aus eigener Wahl zur passiven und pazifistischen Neutralität übergegangen wäre – also allen Kriegführenden gleiches Recht auf Durchmarsch zugestanden und ihnen allen dieselbe Entschädigungsverpflichtung auferlegt hätte, ungefähr so, wie Griechenland es später getan hat.

Die Erklärung muß darin liegen, daß die belgischen Sozialisten, als nichtbürgerliche Rechtsideologen betrachtet, sich durch ihre rein nationalen Gefühle und Anschauungen bestimmen ließen auf Kosten der proletarischen und pazifistischen, und daß ihrer Meinung nach den nationalen Interessen Belgiens besser damit gedient sein würde, wenn man gemeinsame Sache mit Frankreich und England gegen Deutschland machte, als wenn man die Neutralität tatsächlich und trotz des Vertrages aus dem Jahre 1839 nach allen Seiten hin aufrechterhielte.

Noch merkwürdiger als die flammende Begeisterung der Belgier und der Entente über die Art und Weise, wie Belgien sein Neutralitätsproblem löste, ist ja die gewisser neutraler Sozialdemokraten, z. B. des Herrn Branting. Der sozialistische Herr Branting findet es geradezu herrlich, daß die Proletarier Belgiens der ihnen 1839 von gewissen Kapitalistenregierungen aufgezwungenen Verpflichtung, zu töten und sich töten zu lassen, um das Heer einer dieser Kapitalistenregierungen am Durchmarsche durch ihr Land zu verhindern, sofort gehorcht haben. Sein ganzes Auftreten während des Krieges beweist jedoch, daß er einerseits, sobald es ihm paßt, ein guter bürgerlicher Ideologe sein kann und daß er andererseits Deutschland mit ganz denselben Augen ansieht, wie seine französischen und englischen Parteigenossen es nunmehr tun.

 

Schon unmittelbar vor und bei dem Ausbrechen des Krieges war die Haltung der Sozialdemokratie wesentlich anders, als nicht nur viele ihrer eigenen Mitglieder, sondern auch viele ihrer Gegner erwartet hatten. Man begnügte sich mit Protesten sehr allgemeinen, oberflächlichen Inhaltes – mit Protesten, deren phrasenreiche, unsachliche Abfassung zeigte, daß man im Grund unkundig, verständnislos, ratlos und ohnmächtig vor der gewaltigen Krisis der Gesellschaftsentwicklung, deren Stunde nun geschlagen hatte, dastand. Es hat großes völkerpsychologisches Interesse, einen Blick auf einige der wichtigsten dieser Dokumente zu werfen.

Die Leitung der deutschen sozialdemokratischen Partei erließ am 25. Juli 1914 infolge des Ultimatums, das Österreich Serbien am 23. Juli gestellt hatte, folgendes Manifest Ich gebe dies und die folgenden Dokumente nach den August- und Septembernummern der » Tiden« (1914) wieder, jedoch nach Vergleich mit den Originalen, soweit sie mir zugänglich gewesen sind.:

»Noch dampfen die Äcker auf dem Balkan von dem Blute der nach Tausenden Hingemordeten, noch rauchen die Trümmer verheerter Städte, verwüsteter Dörfer, noch irren hungernd arbeitslose Männer, verwitwete Frauen und verwaiste Kinder durchs Land, und schon wieder schickt sich die vom österreichischen Imperialismus entfesselte Kriegsfurie an, Tod und Verderben über ganz Europa zu bringen.

Verurteilen wir auch das Treiben der großserbischen Nationalisten, so fordert doch die frivole Kriegsprovokation der österreichisch-ungarischen Regierung den schärfsten Protest heraus. Sind doch die Forderungen dieser Regierung so brutal, wie sie in der Weltgeschichte noch nie an einen selbständigen Staat gestellt sind, und können sie doch nur darauf berechnet sein, den Krieg geradezu zu provozieren.

Das klassenbewußte Proletariat Deutschlands erhebt im Namen der Menschlichkeit und der Kultur flammenden Protest gegen dies verbrecherische Treiben der Kriegshetzer. Es fordert gebieterisch von der deutschen Regierung, daß sie ihren Einfluß auf die österreichische Regierung zur Aufrechterhaltung des Friedens ausübe und, falls der schändliche Krieg nicht zu verhindern sein sollte, sich jeder kriegerischen Einmischung enthalte. Kein Tropfen Blut eines deutschen Soldaten darf dem Machtkitzel der österreichischen Gewalthaber und den imperialistischen Profitinteressen geopfert werden.

Parteigenossen! Wir fordern euch auf, sofort in Massenversammlungen den unerschütterlichen Friedenswillen des klassenbewußten Proletariats zum Ausdruck zu bringen. Eine ernste Stunde ist gekommen, ernster als irgendeine der letzten Jahrzehnte. Gefahr ist im Verzuge! Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die euch im Frieden knebeln, verachten, ausnützen, wollen euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muß den Gewalthabern in die Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!« Wörtlich nach dem deutschen Originale wiedergegeben.

Das am 26. Juli erlassene österreichische sozialistische Parteimanifest möge hier unmittelbar folgen – der Vergleichung halber.

»In einer ernsten Stunde wenden wir uns an euch. Die Gefahr eines Krieges mit Serbien nähert sich in bedrohlicher Weise, und noch bevor dieser Tag zu Ende ist, kann der Krieg schon ausgebrochen sein. Die österreichisch-ungarische Regierung hat der Regierung in Belgrad ein Ultimatum überreicht, und die Annahme ist, um die blutige Entscheidung durch die Waffen zu vermeiden, bis Samstag nachmittag 6 Uhr befristet. Der Friede hängt nur noch an einem Faden, und wenn dieser Faden reißt, d. h. wenn Serbien die Bedingungen Österreichs nicht annimmt, so wird der Krieg ausbrechen, der Krieg mit seinen Schrecken, seinen Leiden, seinen Sorgen. Und vor allem ist es die Masse des Volkes, welche die entsetzlichen Lasten und die scheußlichen Folgen zu tragen hat.« Nach »Tiden«.

»– – – Wir sind überzeugt, daß für alles, was Österreich-Ungarn im Interesse des Schutzes seiner Staatlichkeit begehrt, die Erfüllung im Frieden zu erreichen war und immer noch wäre, und daß keine staatliche Notwendigkeit, keine Rücksicht auch auf ihr Ansehen die Großmacht zwingt, die Bahnen der friedlichen Verständigung zu verlassen. Deshalb erklären wir im Namen der arbeitenden Klassen, erklären es als die Vertretung der deutschen Arbeiter in Österreich, daß wir für diesen Krieg die Verantwortung nicht übernehmen können, daß wir für ihn und für alles, was aus ihm an furchtbar ernsten Folgen entsprießen mag, denjenigen die Verantwortung zuschieben, die den verhängnisvollen Schritt, der uns vor den Krieg stellt, ersonnen, unterstützt und gefördert haben.

Zu dieser Feststellung und Erklärung sind wir um so mehr verpflichtet und gedrängt, als die Völker in Österreich seit vielen Monaten ihrer verfassungsmäßigen Rechte beraubt sind und der Tribüne entbehren, von der aus sie ihren Willen künden könnten. Angesichts der Gefahr eines Krieges, der von allen Angehörigen des Staates die volle Hingabe von Gut und Blut in Anspruch nimmt, erscheint die planmäßige Vergewaltigung des Volkswillens, wie sie in der Ausschaltung des Parlaments liegt, um so erbitternder und aufreizender! – – –

Wir wissen, wie entsetzlich groß durch die so lange andauernde wirtschaftliche Krise die Not gestiegen ist; wir wissen, in welchen weiten Schichten das Elend sich niedergelassen hat; wir wissen, in welcher düsteren Lage sich die breiten Massen des Volkes befinden, und welche verzweifelte Stimmung sich ihrer bemächtigt hat. Darum erheben wir unsere Stimme laut zur Warnung, rufen an zur Besonnenheit, zur gewissenhaften Erwägung aller Notwendigkeiten, die aus den Lebensbedürfnissen der Völker entspringen!

Dem Volke ist es nicht gegeben, über Krieg und Frieden zu entscheiden. Das Parlament, durch das es wirkt und spricht, ist stumm. Der politischen Freiheit in den Versammlungen und in der Presse sind Fesseln angelegt. In dem Bewußtsein der schicksalsschweren Stunde soll noch einmal unser Mahnruf laut werden: Der Friede ist das kostbarste Gut des Menschen, das höchste Bedürfnis der Völker!

Wir lehnen jede Verantwortung für diesen Krieg ab; feierlich und entschieden beladen wir mit ihr diejenigen, die ihn, hüben wie drüben, angestiftet haben und entfesseln wollten. Wir wissen uns darum einig mit den klassenbewußten Arbeitern der ganzen Welt, nicht zum wenigsten mit den Sozialdemokraten Serbiens, und feierlich bekennen wir uns zu der Kulturarbeit des internationalen Sozialismus, dem wir ergeben bleiben im Leben und verbunden bis zum Tode!« Wortgetreu nach dem Originale.

 

Es kann genügen, hier die Forderung des deutschen Manifestes hervorzuheben, daß Deutschland sich jeder »kriegerischen Einmischung enthalte«, wenn sich der Krieg zwischen Rußland und Österreich »nicht verhindern« lasse.

Wer, nachdem er jahrelang heftig gegen den »Zarismus protestiert« hat, in einem Dokumente dieser Art so etwas schreiben kann, der hat schwerlich das Recht, zu verlangen, daß seiner Theorie über die »Brutalität« der österreichischen Ultimatumsforderungen an Serbien besondere Beachtung zuteil werde. Es ist unmöglich, der Reflexion zu entgehen, daß so nur der schreibt, welcher im tiefsten Inneren ganz genau weiß, daß er sich in dieser Frage selbst nicht völlig ernst nehmen kann, sondern noch der »Phrase« huldigt.

Am 1. August 1914 erließ die deutsche sozialdemokratische Parteileitung ein neues Manifest, das folgenden Wortlaut hatte:

»Der Kriegszustand ist erklärt. Die nächste Stunde schon kann den Ausbruch des Weltkrieges bringen. Die schwerste Prüfung wird damit nicht bloß unserm Volke, nein, unserm ganzen Weltteil aufgezwungen.

Bis zur letzten Minute hat das internationale Proletariat seine Schuldigkeit getan, diesseits und jenseits unserer Grenzen, und alle Kraft angespannt, um den Frieden zu erhalten, den Krieg unmöglich zu machen. Waren unsere ernsten Proteste, unsere immer wieder wiederholten Bemühungen erfolglos, sind die Verhältnisse, unter denen wir leben, noch einmal stärker gewesen als unser und unserer Arbeitsbrüder Wille, so müssen wir jetzt dem, was kommen mag, mit Festigkeit ins Auge sehen.

Die fürchterliche Selbstzerfleischung der europäischen Völker ist die grausame Bestätigung dessen, was wir seit länger als einem Menschenalter den herrschenden Klassen mahnend, wenn auch vergeblich, zugerufen haben.

Parteigenossen! Nicht mit fatalistischem Gleichmut werden wir die kommenden Ereignisse durchleben. Wir werden unserer Sache treu bleiben, werden fest zusammenhalten, durchdrungen von der erhabenen Größe unserer Kulturmission.

Die Frauen insbesondere, auf welche die Schwere der Ereignisse doppelt und dreifach lastend fällt, haben in diesen ernsten Zeiten die Aufgabe, im Geiste des Sozialismus für die hohen Ideale der Menschlichkeit zu wirken, auf daß die Wiederholung dieses namenlosen Unglücks verhütet wird, dieser Krieg der letzte ist.

Die strengen Vorschriften des Kriegsrechts treffen mit furchtbarer Schärfe die Arbeiterbewegung. Unbesonnenheiten, nutzlose und falsch verstandene Opfer schaden in diesem Augenblick nicht nur dem Einzelnen, sondern unserer Sache.

Parteigenossen! Wir fordern euch auf, auszuharren in der unerschütterlichen Zuversicht, daß die Zukunft trotz alledem dem völkerverbündenden Sozialismus, der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit gehört.« Wortgetreue Wiedergabe des Originales.

 

Das einzige Positive in diesem sonderbar schwachen Aktenstück scheint mir der Gedanke zu sein, darauf hin »wirken« zu wollen, daß »dieser Krieg« auch »der letzte« bleibe. Ahnte der Verfasser des Manifestes aber auch, daß die Demonstrations- und Phrasenpolitik jetzt endgültig Bankerott gemacht hat – hat er wohl die Notwendigkeit geahnt, daß die Sozialdemokratie sich von der Tyrannei der hohlen Agitationsphrase befreien muß, und ist ihm die Notwendigkeit, die weltpolitischen Realitäten auch in Friedenszeiten mit ehrlichem Willen wissenschaftlich zu studieren und parlamentarisch zu behandeln, wirklich klar geworden?

 

Auch in Frankreich wurden zwei sozialdemokratische Manifeste erlassen – anscheinend beide am 29. Juli 1914, also zwei Tage vor Jaurès Ermordung. Das eine rührt von der »vereinigten französischen Sozialistenpartei« her und lautet folgendermaßen:

»Die fundamentale Anarchie der Gesellschaftsordnung, der Wettstreit der kapitalistischen Gruppen, die Kolonialkonkurrenz, die Intrigen und Gewaltmaßregeln des Imperialismus, die Raffsuchtpolitik auf der einen Seite, die Hochmuts- und Prestigepolitik auf der anderen haben seit zehn Jahren eine permanente Spannung in ganz Europa, eine beständige, wachsende Kriegsgefahr erzeugt.

Durch die aggressiven Züge der österreichisch-ungarischen Diplomatie hat sich die Gefahr plötzlich vergrößert. Was auch die Anklagen des österreichischen Staates gegen Serbien sein mögen, welche Übergriffe auch der panserbische Nationalismus begangen haben mag, Österreich hätte, wie unsere österreichischen Kameraden laut und deutlich erklärt haben, die notwendigen Garantien erhalten können, ohne sich einer so brutalen Note zu bedienen, die plötzlich mit dem erbittertsten, gefährlichsten Kriege droht.

Gegen die Gewaltpolitik, gegen die Methoden der Brutalität, die in einem Augenblicke eine Katastrophe sondergleichen über Europa hereinbrechen lassen können, erhebt sich protestierend das Proletariat. Es manifestiert seinen Abscheu vor dem Kriege und seinen Willen, ihm vorzubeugen. Die Sozialisten und Arbeiter Frankreichs appellieren an das ganze Volk, daß es aus allen Kräften zur Erhaltung des Friedens beitrage. Sie wissen, daß die französische Regierung sich ehrlich und energisch bemüht hat, die Gefahren des Konfliktes zu beseitigen und zu mildern. Was sie von ihr verlangen, ist der Versuch, Versöhnung herbeizuführen und eine Vermittlung zu bewerkstelligen, die durch einen Druck auf Serbien, daß es einen großen Teil der Forderungen Österreichs annehme, erleichtert wird. Was sie von ihr verlangen, ist eine Beeinflussung des uns verbündeten Rußlands, damit es nicht die Verteidigung slawischer Interessen aggressiven Operationen als Vorwand dienen lasse. Ihr Bestreben stimmt darin mit dem der deutschen Sozialisten überein, die von Deutschland verlangen, daß es einen mäßigenden Einfluß auf Österreich ausübe. Beide Parteien handeln auf ihrem Posten in gleicher Weise, streben nach demselben Ziele.

Dieser starke, mächtige Friedenswille soll auf den Massenversammlungen, zu welchen wir einladen, kundgegeben werden. Um mit größerer Kraft und Vereinigung den gemeinsamen Friedenswillen des europäischen Proletariates zu konstatieren und eine gemeinsame Aktion zu verabreden, versammelt sich die Internationale morgen in Brüssel. In ihr und mit ihr werden wir das abscheuliche Verbrechen, das die Welt bedroht, mit unserer ganzen Energie bekämpfen. Schon die bloße Möglichkeit dieses Verbrechens verurteilt und schändet das ganze Regime.

Nieder mit dem Kriege! Es lebe die soziale Republik!

Es lebe die internationale Sozialdemokratie!«

Hieran schließt sich die Erklärung der französischen sozialistischen Parlamentsgruppe:

»Die sozialistische Gruppe des Parlamentes hat heute (am 29. Juli) die internationale Lage erwogen. Sie schließt sich ganz und einstimmig dem im Namen der Partei entlassenen Manifeste an.

Nachrichten über Österreichs Eindringen in serbisches Gebiet, die eine neue Verschärfung der Krisis markieren, haben zur Prüfung der möglichen politischen Folgen dieses Ereignisses veranlaßt. Die Gruppe ist der Ansicht, daß eine bewaffnete Intervention Rußlands nur die Gefahr ausdehnen und das Übel verschlimmern könne, ohne dem unglücklichen Serbien, das tatsächlich von allen Seiten her in seiner Selbständigkeit bedroht ist, die geringste positive und dauerhafte Garantie zu bieten.

»Sie ist überzeugt, daß diese Intervention nur dem aggressivsten germanischen Imperialismus in die Hände arbeiten würde, jenem Imperialismus, der sich die Gelegenheit zu einem Gewaltunternehmen sondergleichen ausgesucht zu haben scheint, aber eines Tages sehen wird, daß der Mißbrauch, den er mit der brutalen Macht treibt, sich gegen ihn selbst wendet.

Sie ist der Ansicht, daß alle Anstrengungen Frankreichs und Europas sich nun auf den Erfolg der von England vorgeschlagenen Vermittlung konzentrieren müssen und daß jede bewaffnete russische Aktion diesem klugen Plane widerstreiten würde. Sie fügt hinzu, daß Frankreich, das seine Ansprüche auf Elsaß-Lothringen seit mehr als vierzig Jahren den höheren Interessen des Friedens untergeordnet hat, sich Serbiens wegen nicht in einen Konflikt hineinziehen lassen darf.

Sie verkündet laut und deutlich, daß Frankreich allein über Frankreich verfügen kann, daß das Volk auf keinen Fall durch eine mehr oder weniger willkürliche Auslegung heimlicher Verträge und unklarer Verbindungen kann in einen Konflikt hineingezogen werden dürfen und daß es seine ganze Freiheit behalten muß, um in Europa einen friedlichen Einfluß ausüben zu können.

Sie beauftragt ihr Bureau, sich mit der Regierung in Verbindung zu setzen, ihr den festen Friedenswillen, der das Land beseelt, kundzugeben und über ihre Absichten hinsichtlich der Einberufung des Parlamentes Auskunft zu verlangen.«

Auf den ersten Anschein hin wirkt das französische Manifest als etwas mehr durch wirkliche sozialistische Gesellschaftsauffassung (besonders zu Anfang) beeinflußt und etwas realpolitischer als das deutsche. Aber des Pudels Kern ist doch die an die französische Regierung gestellte Forderung einer »Beeinflussung des uns verbündeten Rußlands, damit es nicht die Verteidigung slawischer Interessen aggressiven Operationen als Vorwand dienen lasse.«

Wie weit war dies ernst gemeint? Wieviel wirkliche Kenntnis der wirklichen auswärtigen Politik Rußlands im Jahre 1913-14 stand hinter dem Worte? Und was verstehen diese französischen Sozialisten einerseits unter den »slawischen Interessen« Rußlands und andererseits unter Rußlands »aggressiven Operationen«? Ich kann es nicht anders verstehen, als daß das Manifest Rußland in einer indirekten Wendung das Recht zuerkennt, Serbien zu »beschützen« und dabei Österreich mit Krieg zu bedrohen. Was ist dann mit Rußlands »aggressiven Operationen«, denen entgegengewirkt werden soll, gemeint? Löst sich nicht der ganze Protest gegen Frankreichs Mitlaufen in dem Vernichtungskriege des Panslawismus gegen Österreich in eine lahme, unklare Phrase auf? Und doch war es die Aufgabe der französischen Sozialdemokratie, gerade diesen Protest klar zu formulieren und mit aller Macht zu verwirklichen.

Die »Erklärung« der Parlamentsgruppe ist in diesem Punkte außerordentlich bedeutungsvoll, indem sie deutlich ausspricht, daß »eine bewaffnete russische Intervention nur die Gefahr ausdehnen könne«, ohne Serbien dauernd zu nützen, und daß Frankreich »sich nicht Serbiens wegen in einen Konflikt hineinwerfen lassen« dürfe, sondern »seine Freiheit behalten müsse, damit es ohne Rücksicht auf eine »mehr oder weniger willkürliche Auslegung geheimer Verträge« handeln könne.

Um so eigentümlicher ist es, daß die französische sozialistische Parlamentsgruppe nicht genug wirklichen Einfluß auf die auswärtige Politik ihres Landes hatte, um diese elementaren Forderungen des Sichzurückhaltens Frankreichs durchsetzen zu können, als es sich nun darum handelte, dem »Zarismus« in seinen angeblichen Bestrebungen, Serbien (dessen Sache, der »Erklärung« gemäß, ja keineswegs mit der Rußlands identisch war!) zu »beschützen«, blutige Dienste zu leisten.

Doch die Einflußlosigkeit dieser Parlamentsgruppe ist ganz erklärlich. Der unauslöschliche Deutschenhaß machte ein Annehmen des Neutralitätsvorschlages Deutschlands undenkbar. Diese nationale Leidenschaft läßt auch die »Erklärung« in ihren Worten über den »aggressiven germanischen Imperialismus« und darüber, daß Frankreich »seine Ansprüche auf Elsaß-Lothringen« »untergeordnet« habe, deutlich durchblicken.

Haben französischer, englischer und russischer Imperialismus sich nicht »aggressiv« gezeigt? Wie konnte es denn ein besonderes Verbrechen des deutschen Imperialismus sein, wenn er auch aggressiv war? Weshalb darf der Kapitalismus in Deutschland nicht dasselbe Gesicht zeigen, das er in England, Frankreich, Rußland und sogar in Italien zur Schau getragen hat?

Es ist sehr verlockend, hier auch eine andere Frage an die revolutionären und pazifistischen Sozialisten Frankreichs zu stellen.

Ist der 1871 in Frankfurt unterzeichnete Friede ein Friedensschluß oder nur ein Waffenstillstand gewesen? Nur im zweiten Falle konnte Frankreich möglicherweise noch dazu berechtigt sein, einen »Anspruch« auf Elsaß-Lothringen zu erheben. Ist aber der Frankfurter Friede ein wirklicher Friedensschluß, dann hat ja Frankreich sein Recht und seine Ansprüche auf Elsaß-Lothringen in bindender Form abgetreten, und diese Abtretung besteht jetzt zu Recht. Daher kann sich Frankreich, ein Neutralitätsanerbieten ablehnend, nicht zur Eroberung der abgetretenen Provinzen Elsaß und Lothringen in einen Krieg stürzen, ohne sowohl das Recht zu verletzen wie den Frieden zu brechen.

Wie steht es aber mit den Aussichten auf den Weltfrieden der Zukunft, wenn dieser Eroberungskrieg den Franzosen nun nicht den gewünschten Erfolg bringt? Wer wird dann der Friedensstörer sein?

 

Die durch die Parlamentsmitglieder Keir Hardie und Arthur Henderson vertretene englische Abteilung des internationalen sozialistischen Bureaus erließ unmittelbar nach der am 29. Juli 1914 in Brüssel stattfindenden Sitzung des Bureaus folgendes Manifest:

»Der seit lange drohende europäische Krieg ist nun über uns gekommen. Seit hundert Jahren hat der Zivilisation keine solche Gefahr gedroht. Es gilt nun, in voller Erkenntnis der verzweifelten Lage mit Kraft im Interesse des Friedens zu handeln. Euch hat man nie über Krieg um Rat gefragt.

Wie es sich auch mit dem Recht und Unrecht des plötzlichen, zerschmetternden Angriffes Österreichs auf Serbien verhalten möge, gewiß ist, daß die Arbeiter in allen den Ländern, die wahrscheinlich in den Krieg hineingezogen werden können, jeden Nerven anspannen müssen, um ihre Regierungen daran zu verhindern, daß sie sich zum Kriege verpflichten.

Überall haben die Sozialisten und die organisierte Arbeit diesen Weg eingeschlagen. Überall sind heftige Proteste gegen die Gier und die Intrigen der Militaristen und der Rüstungshöker erhoben worden.

Wir ermahnen euch, dasselbe hier in Großbritannien in noch größerem Maßstabe zu tun. Demonstriert in jedem Industriezentrum gewaltig gegen den Krieg. Zwingt diejenigen der herrschenden Klasse und ihre Presse, die euch eifrig zum gemeinsamen Vorgehen mit russischem Despotismus bewegen wollen, zu schweigen und den Beschluß der überwältigenden Volksmehrheit, die mit einer solchen Schändlichkeit nichts zu schaffen haben will, zu achten. Rußlands jetziger Erfolg wäre ein Fluch für die Welt.

Es ist keine Zeit zu verlieren. Schon jetzt werden in Form geheimer Abmachungen, welche der Demokratie der zivilisierten Welt nur aus Gerüchten bekannt sind, Schritte getan, Schritte, die uns alle in Krieg stürzen können.

Arbeiter, erhebt euch gemeinsam für den Frieden! Vereint euch und besiegt den Feind Militarismus und die eigennützigen Imperialisten jetzt und auf immer.

Männer und Frauen Britanniens, jetzt ist uns eine beispiellose Gelegenheit geboten, der Menschheit und der ganzen Welt einen außerordentlichen Dienst zu leisten!

Verkündet, daß für euch die Zeit des Plünderns und des Schlachtens vorbei sei; sendet Botschaft des Friedens und der Brüderlichkeit an eure Genossen, die weniger Freiheit besitzen. Nieder mit der Klassenherrschaft! Nieder mit der Herrschaft der brutalen Kraft! Vorwärts für die friedliche Herrschaft des Volkes!«

»Gemeinsam mit russischem Despotismus vorgehen« ist eine »Schändlichkeit«. »Rußlands jetziger Erfolg wäre ein Fluch für die Welt.«

Jedoch – die wirklich sozialistischen englischen Arbeiter sind eine sehr kleine und sehr einflußlose Schar. Und Sir Edward Grey mit den »freien Händen« Siehe Weltkrieg und Imperialismus (Eugen Diederichs, Jena), Kapitel 17. leitete ja die auswärtige Politik.


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