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Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Die Erzählung

Am Morgen des 10. April erwachte Mr. French aus angenehmen Träumen, um die Sonne hell und klar durch das Fenster seines Schlafzimmers scheinen zu sehen.

Ihm hatte von dem großen Rennen geträumt; er hatte gesehen, wie das Feld um Tattenham Corner bog, Garryowen dem Favoriten um eine Länge voraus, hatte das Tosen der Menge gehört und Glückwünsche von Traummenschen aller Art entgegengenommen. Das Erheiternde dieser herrlichen Vision hing ihm noch an, während er sich ankleidete, und wich auch beim Frühstück nicht von ihm.

Seit dem Briefe, der meldete, daß Giveen sich in Sicherheit befinde, hatte Mr. Dashwood kein Lebenszeichen gegeben, aber in diesem Fall bedeutete keine Nachricht gute Nachricht.

Es waren jetzt nur noch drei Tage bis zu dem verhängnisvollen Dreizehnten, und wenn Dashwood seinen Gefangenen noch drei Tage zurückzuhalten vermochte, war alles gut. Die Möglichkeit, daß Garryowen im Rennen geschlagen werden könne, kam Mr. French nie in den Sinn. Er war seiner Sache sicher und diese Sicherheit gründete sich unter anderem auf den Widerstand, den das Schicksal ihm leistete. Er hatte die unklare Empfindung, daß dieses sich niemals so bemüht hätte, seine Pläne zu durchkreuzen und ihm so viele Hindernisse in den Weg zu legen, wenn es nicht überzeugt gewesen wäre, daß beim Fallen der Flagge Garryowen zweifellos Sieger sein würde.

Nach dem Frühstück begab er sich hinaus, um das Pferd galoppieren zu sehen.

Die Länge der City- und Suburban-Bahn war auf der weiten flachen Hochebene abgesteckt und hier erhielten Garryowen und die Katze (das schnellste Tier, das French außer Garryowen jemals im Stall gehabt hatte) einen Galopp; Garryowen mit Andy und die Katze mit Buck Slane im Sattel. Moriarty, einen Strohhalm im Munde, beobachtete sie.

»Die Sache macht sich, Moriarty,« sagte French, als er sich neben seinen Vertrauten stellte und seine Augen in die Ferne auf die Pferde richtete, die im Schritt zurückgeritten wurden.

»Allmählich glaube ich das auch, Sir,« entgegnete Moriarty, »wir werden den Nagel gerade auf den Kopf treffen am Fünfzehnten. Der Gaul is nich übertrainiert. Die letzten Tage hab' ich ihn zurückgehalten, denn 'n hiddeliges Pferd is auf die Rennbahn nich zu gebrauchen, akkurat wie dem Barbier seine Katze bei 'n Konzert nix nütze is. Haben Sie nich gehört, Sir, von die Studenten, die in ihr Examen 'reingehen, wenn all' der gelehrte Kram ihnen aus dem Kopp 'raussticht und drinnen is nix als man bloß konfuses Zeug? Meiner Treu, davon hat mich Mister Casey vom Trinity College erzählt, als er zur Jagd da war. Er sagte, er hätte Jungens gesehen, die immerzu und immerlos lernten, bis sie vor die Examensherren stehen, mit die Bücher in die Hand bis zur letzten Minute, und diese Art Menschen, sagt er, sitzt immer fest, denn ihr Rechnen vermengelt sich mit Latein, und wenn sie ihr Maul aufmachen, um zu reden, so kömmt Gegraphie 'raus, wenn das Griechisch sein soll. Halten Sie's mit die Jungens, sagt er, die langsamer werden vor'm Examenstag, die kommen immer durch, denn die sind die Schlauen. Na, mit'n Pferd is es ganz dasselbigte; wenn man seine Beine mit Übertrainieren konfus macht, so is es nich zu brauchen.«

»Er ist ein guter Starter und ein guter Steher und hat einen Jockei, der ihn kennt,« sagte French, während er die sich nähernden Pferde betrachtete. »Und der Jockei macht viel.«

»Viel, Sir! Gott bewahre mich, er macht alles! Gerade, was 'ne Frau für ihren Mann tut, Sir; und is 'ne Frau, Sir, wenn sie 'ne vernünftige Frau is, woll was anneres für 'n Mann, as 'n Jockei, der ihn durchs Ziel bringt, wenn er das Laufen in sich hat?«

Mr. French stimmte Moriartys weisem Ausspruch zu und kehrte in bester Laune nach dem Hause zurück. Gerade als er die Veranda betrat, fiel sein Blick auf etwas, das den Weg heraufkam. Sein Atem stockte.

Dies Etwas war ein Telegraphenbote.

»French?« fragte der Junge, ein Telegramm präsentierend. Mr. French riß es auf.

»Giveen frei, total verschwunden, mit Auto unterwegs. Dashwood.«

»Eine Antwort, Sir?«

»Nein,« sagte French, »braucht keine Antwort.«

Er blieb einen Augenblick stehen, das Papier zusammengeballt in der Hand haltend. Das Pfeifen des sich entfernenden Knaben drang an sein Ohr. Dann ging er ins Haus hinein.

»Norah!« rief Mr. French.

»Ja, Sir.«

»Bring mir die Whiskykaraffe und bitte Miß Grimshaw, zu mir zu kommen.«

Er begab sich ins Wohnzimmer. »Giveen frei, total verschwunden.« Die Worte tanzten vor ihm im Kreise, sangen in seinen Ohren, schossen Purzelbäume und standen auf dem Kopf wie eine lästige Horde von Straßenjungen.

In den Krisen einer verwickelten phantastischen Komödie gleich derjenigen, deren Mittelpunkt French war, macht sich die Unfähigkeit, die ganze Situation zu überblicken und philosophisch hinzunehmen, am peinlichsten fühlbar. Ein Bankkrach, der einem das ganze Vermögen wegrafft, ist ein Unglück schlecht und recht, greifbar, wenn auch überwältigend; aber diese Garryowenaffäre war unberechenbar, nicht mit den Händen zu fassen und ebensowenig zu bekämpfen, wie ein Alpdruck. Einen Augenblick befand das Pferd sich in scheinbarer Sicherheit, den nächsten in höchster Gefahr. Das Glück war jetzt ganz nahe und bot einem die Hand, dann wieder war es weit entfernt und machte einem eine lange Nase. Gestern weilte der gefürchtete Giveen wohlbehalten in Irland, heute besuchte er den Dorfbasar. Einen Tag war er Mr. Dashwoods Gefangener an der Küste von Essex, am andern war er entflohen. Die Jagd nach dem Glück hatte lange gedauert, schwierigste Hindernisse waren überwunden – sollte es schließlich alles in Mißgeschick enden?

Als Miß Grimshaw das Zimmer betrat, fand sie Mr. French am Tische sitzend, das offene Telegramm vor sich, daneben ein Glas Whisky mit Wasser und eine Karaffe.

»Lesen Sie das,« sagte er.

Sie nahm das Papier und las, während ihr Herz sich zusammenzog.

»Nun,« fragte er, »wie denken Sie darüber?«

Bevor Miß Grimshaw antwortete, nahm sie die Whiskykaraffe und setzte sie auf den Nebentisch.

»Oh, meinetwegen brauchen Sie sich nicht zu ängstigen,« sagte French, »ich bin am Ende meines Fassungsvermögens angelangt und mir ist es ganz gleich, was noch geschieht. Wirklich, die Mühe, die ich mir geben müßte, um mich zu betrinken, wäre schon zuviel für mich.«

»Trotzdem,« entgegnete das junge Mädchen, »müssen wir dieser neuen Wendung mit möglichst kühlem Kopf begegnen. ›Mit Auto unterwegs‹« (sie las das Telegramm nochmals). »Wen meint er wohl? Natürlich muß er sich selbst damit meinen, denn augenscheinlich weiß er nicht, wo Mister Giveen sich aufhält und was er tut. Das Telegramm ist heute morgen um neun Uhr fünfzehn in Regentstreet aufgegeben; aufgenommen um zehn Uhr zwei. Jetzt ist es gleich elf –«

»Hören Sie!« sagte French.

Von dem niedriger gelegenen Gelände drang jeder Ton deutlich herauf. Das Geräusch, das Frenchs Aufmerksamkeit erregt hatte, war das Surren eines sich auf dem Bahnhofsweg nähernden Automobils.

Vom gleichen Impulse getrieben, traten sie an die zur Veranda führende Glastür. Mr. French öffnete sie und sie gingen hinaus.

Ein großes Tourenautomobil kam langsam heran; nur ein Mensch saß darin und – »Das ist er!« rief Miß Grimshaw, indem sie die Veranda verließ und den Fußweg zur Fahrstraße hinablief.

French folgte ihr und sie erreichten die Straße, gerade als das Auto stoppte. Es war tatsächlich Mr. Dashwood, aber in einer solchen Verfassung, daß der fröhliche, leichtsinnige Bobby kaum wiederzuerkennen war. Sein weit nach hinten geschobener Hut ließ sein rußiges, ungewaschenes, müdes Gesicht völlig frei. Alles in allem hatte er das Aussehen eines Menschen, der die ganze Nacht unterwegs gewesen ist, und seine Bewegungen beim Aussteigen gemahnten an Greisenalter und Rheumatismus.

»Etwas zu essen,« stieß Bobby hervor, nahm Frenchs Arm mit der linken Hand und streckte Miß Grimshaw die rechte hin. »Ich bin fast geliefert. Giveen ist entwischt; wenn ich erst im Hause bin, werde ich Ihnen alles erzählen. Darf ich mich auf Sie stützen? Das Auto ist hier gut aufgehoben.«

»Kommen Sie hinauf,« sagte French.

Es wurde kein Wort gesprochen, bis Mr. Dashwood im Wohnzimmer saß und ein Glas Whisky und Sodawasser in der Hand hielt.

»Ach, dies ist wundervoll!« sagte er. »Ich habe nichts getrunken seit, ich weiß nicht, wie langer Zeit.«

»Trinken Sie nicht, bevor Sie gegessen haben,« sagte das junge Mädchen. »Ich besorge Ihnen gleich etwas. Da ist Büchsenzunge« –

»Nur das nicht!« rief Mr. Dashwood. »Büchsenfleisch und Zwieback dürfen Sie vor mir nicht einmal erwähnen! Ich habe davon gelebt. O Gott! Lassen Sie mich nicht daran denken.«

»Ein Ei?«

»Ja, ein Ei – alles, nur kein Büchsenfleisch. Es ist beinah so schrecklich wie Giveen.«

In fünf Minuten war das Ei gekocht und eine halbe Stunde später rauchte Mr. Dashwood, wieder jung und frisch, eine von Mr. Frenchs Zigarren und begann seine Geschichte zu erzählen.

Er berichtete alles, was wir wissen; wie er Mr. Giveen bewacht hatte, wie dieser einen Fluchtversuch durch das Fenster machte und darin stecken blieb. »Ich zog und zerrte,« sagte Bobby, »aber es nützte alles nichts und wahrhaftig, ich dachte, wir würden das Haus niederreißen müssen.«

»Und wie befreiten Sie ihn schließlich?« fragte French. »Weshalb zum Teufel ließen Sie ihn nicht dort stecken, bis das Rennen vorbei ist? Sie hätten ihn von außen füttern können.«

»So wahr ich lebe, daran habe ich gar nicht gedacht!« erwiderte Mr. Dashwood. »Ich hatte nur das Gefühl, daß ich ihn irgendwie erlösen müßte, und dann kam mir ein famoser Gedanke. Ich habe mal von einem Kerl gehört, der ein Strohfeuer anzündete unter einem Gaul, der nicht gehen wollte, und ich wußte, daß es nur möglich sei, Giveen frei zu bekommen, wenn er sich selber aufs äußerste, und noch mehr als das, anstrengte; also holte ich Stroh aus dem Nebenhaus, machte einen großen Wisch daraus und zündete es an. Eine Fackel, wissen Sie. ›Was machen Sie da?‹ fragte er. ›Warten Sie und Sie werden es sehen,‹ antwortete ich und stach ihn damit ins Gesicht. Es ist kaum zu glauben, aber er fuhr ›puff‹ hinein, wie ein Pfropfen, den man in eine Flasche hinunterstößt. Dann lief ich um das Haus herum und verschloß die Haustür.

Nun, am nächsten Morgen machte ich ihn auf sein verkehrtes Benehmen aufmerksam, und er versprach, keine weiteren Fluchtversuche zu unternehmen. ›Hören Sie,‹ sagte ich, ›ich habe Ihnen gegenüber so getan, als sei ich verrückt. Ich bin es nicht und habe Sie nur hergebracht, weil ich Frenchs Freund bin und verhindern will, daß Sie Lewis auf ihn hetzen. Hier werden Sie bleiben, bis es mir gefällt, Sie frei zu lassen. Es ist ebenso unangenehm für mich, wie für Sie – sogar schlimmer, denn Sie sind ein verwünscht langweiliger Gesellschafter. Wie dem auch sei, hier sind Sie und hier bleiben Sie, bis ich Ihnen erlaube, fortzugehen.‹ Daraufhin sagte er, daß er gar keine Feindschaft gegen Sie hege, und daß, wenn ich ihn nur freilassen wollte, er nach Irland zurückkehren und nichts gegen Sie tun werde; aber ich erklärte ihm geradeheraus, daß ich ihm nicht traute, und damit endigte das Gespräch. Der Brief, den ich Ihnen geschrieben hatte, war in meiner Tasche. Ein anscheinend geistesschwacher Junge kam in die Nähe des Hauses; ich bat ihn, den Brief auf die Post zu bringen und gab ihm sechs Pence. Haben Sie den Brief erhalten?«

»Ja.«

»Als ich ihn dem Jungen gab, kam ich mir vor wie der alte Noah, der die Taube aus der Arche fliegen ließ. Na, und dann widmeten wir uns wieder dem Büchsenfleisch und Zwieback – oh, du lieber Himmel! Ich will weder davon sprechen, noch daran denken. Wir spielten Sechsundsechzig mit einem alten Spiel Karten. Dann ging mein Tabak zu Ende. Giveen war alles einerlei. Er war ganz vergnügt beim Büchsenfleisch und er raucht nicht und trinkt nicht. Und das Schlimmste war, daß ich es alles ertragen mußte, ohne zu klagen –«

»Ich finde, Sie haben sich großartig benommen!« fiel das junge Mädchen ein. »Erzählen Sie weiter.«

»Bei Gott, großartig ist kaum der genügende Ausdruck,« sagte French. »Einen Freund wie Sie findet man nicht unter einer Million Menschen. Weiter.«

Durch dieses Lob gestärkt, fuhr der müde Bobby in seinem Bericht fort.

»Nun, ein Tag nach dem andern verging, bis ich soweit war wie die Schiffbrüchigen, die kein Zeitgefühl mehr haben. Zum Beispiel hörte ich vorgestern Kirchenglocken läuten und erfuhr dadurch, daß es irgendwo Sonntag sei, obwohl es in jenem schauderhaften Hause weder Sonntag noch irgend ein Tag zu sein schien. Es war, als stehe die Zeit still. Es gab dort keine Bücher, wissen Sie, keine Zeitungen, nichts, und mein Tabak ging zu Ende; und aus all' diesem Elend ragten Büchsenfleisch und Zwieback hoch empor und machten auch die Mahlzeiten zu einem Schrecknis. O Gott! Lassen Sie mich nicht davon reden! Ich möchte versuchen, es zu vergessen.

»Na, die Dinge gingen so weiter bis gestern, und da sagte ich mir, ›dies darf nicht länger währen, denn ich fange an, Stimmen zu hören, und nächstens werde ich mir auch einbilden, Dinge zu sehen. Southend liegt nur zehn bis elf Meilen von hier entfernt. Der Weg ist gut und das Auto steht draußen. Ich werde Giveen in seinem Zimmer einschließen, im Auto nach Southend rasen, mir Tabak, Whisky und Bücher verschaffen und zurücksausen. Das Ganze kann in etwa einer Stunde gemacht werden und es ist richtiger, die Sache zu riskieren, als den Verstand zu verlieren.‹ Also teilte ich Giveen mit, es täte mir leid, aber er müsse sich den Umständen fügen; ich nahm meines Onkels Angelschnur und band Giveens Hände hinter seinem Rücken zusammen; dann machte ich ihn mit einem Tau und einem Fischerknoten an der eisernen Bettstelle fest, sagte ihm, daß ich höchstens eine Stunde fort sein würde, verschloß die Tür, sprang ins Auto und fuhr ab. Ich gelangte in unglaublich kurzer Zeit nach Southend, überfuhr eine Henne und hätte beinahe auch eine alte Frau und einen Hund zur Strecke gebracht. Im ersten besten Buchladen kaufte ich einen Haufen Sixpenceromane und Witzblätter, holte mir dann noch drei Flaschen Johnnie Walker, ein halbes Pfund Marinetabak und einige Zündhölzer und führ wieder zurück. Das war um halb vier und ich war erst zwei Meilen gefahren, als der Wagen plötzlich nicht weiter wollte. Von dem ›Innern‹ eines Autos habe ich keine Ahnung und wußte nur, daß das Ding stillhielt, daß ich neun Meilen von zuhause entfernt war, daß das Auto mitten auf dem Wege stand und ihn für jeglichen Verkehr sperrte. Endlich kam ein Fleischerkarren; der Fleischer stieg ab und half mir, den Wagen an die Seite des Weges zu schieben. Er sagte, er kenne in der Nähe keinen Schmied oder Reparaturladen. Darauf bat ich ihn, mir sein Pferd zu borgen, um das Auto nach Southend ziehen zu lassen, aber das konnte er nicht. Er mußte sein Fleisch abliefern, meinte jedoch, daß ich sicherlich bald Hilfe erhalten werde, da viel Verkehr auf dem Wege sei. Dann fuhr er weiter und überließ mich meinem Schicksal. Mir kam der Gedanke, das Auto stehen zu lassen und zu Fuß zurückzugehen, aber das konnte ich nicht tun, denn ich wäre niemals imstande gewesen, den Wagen später zu holen und er ist acht- bis neunhundert Pfund wert. Also blieb ich drin sitzen, rauchte eine Pfeife und wartete. Ich sage Ihnen, es kochte alles in mir, denn ich wußte nicht, ob ich die Angelschnur nicht zu fest um Giveens Hände gebunden hatte, und wenn die anschwollen, so konnte kalter Brand oder der Himmel weiß was eintreten; und dann begann ich zu fürchten, daß ich, falls seine Hände abgeschnitten werden mußten, vielleicht verpflichtet sein würde, ihn lebenslänglich zu ernähren. Schließlich kam ich so weit, zu denken, daß er daran sterben könnte und daß ich wegen Mord gehängt oder für Lebenszeit ins Zuchthaus gesteckt werden würde.

»Nach einiger Zeit kam ein großes Tourenautomobil den Weg entlang; ein junger Mensch und ein Chauffeur saßen drin, ich winkte ihnen, anzuhalten; es stoppte und wer war es? – Billy Bones! Lord St. Ivels zweiter Sohn, wissen Sie. Das letzte Mal hatte ich ihn im Rag-Tag Club in Corkstreet getroffen, wo er an einem Sonntag um zwei Uhr Bridge spielte, das eine Auge zugekniffen, um die Karten besser unterscheiden zu können. Billy ist einer von den Männern, die alles wissen, und deshalb weiß er auch genau in dem Innern eines Automobils Bescheid – oder glaubt es wenigstens.

›Tag!‹ sagte Billy. ›Was ist los?‹

Ich teilte es ihm mit und er sprang aus dem Wagen und sagte, er werde in einer Minute alles in Ordnung bringen. Er holte sein Reparaturwerkzeug hervor, zog seinen Rock aus, kroch mit seinen Instrumenten direkt unter das Auto und lag dort mit dem Rücken im Straßenstaub – er ist einer von den Kerlen, denen es ganz egal ist, was sie tun. Ich hörte ihn unter dem Wagen arbeiten und es schien, als nähme er die ganze Geschichte auseinander; man konnte hören, wie die Schraubenmuttern sich lösten, die Röhren abgeschraubt wurden und das Benzin herausströmte. Etwa eine halbe Stunde wirtschaftete er unter dem Wagen herum, dann kam er, wie ein Schornsteinfeger aussehend, zum Vorschein und sagte, alles sei in Ordnung, ich brauchte nur loszufahren. Aber das Auto wollte sich nicht vom Fleck rühren.

Er kroch wieder unter das Auto und verbrachte noch eine halbe Stunde mit Hämmern, kam dann hervor und sagte, diesmal sei wirklich alles gut, und ich möchte den Wagen in Bewegung setzen. Ich versuchte es, aber ohne Erfolg. Darauf befahl er dem Chauffeur, nachzusehen, was zu tun sei, und der kroch nicht unter den Wagen, sondern untersuchte nur den Benzinbehälter und in etwa sechzehn Sekunden war alles in schönster Ordnung. ›Ich dachte mir, daß ich es schon zurechtbringen würde,‹ sagte Billy, während er seinen Rock anzog.

Auf diese Weise war mindestens eine Stunde vergangen und ich sage Ihnen, wenn ich schon schnell nach Southend hingekommen war, so flog ich geradezu auf der Rückfahrt. Ich brachte den Wagen in den Schuppen und ging ins Haus. Sobald ich eintrat, merkte ich, daß etwas verkehrt sei, denn die Schlafstubentür stand offen. Ich blickte hinein – Giveen war fort.«

»Die Pest über ihn!« sagte French, der dem Erzähler mit größter Spannung gelauscht hatte.

»Ich ging zur Tür, blickte ringsumher und da sah ich ganz hinten auf dem Wege den Idiotenbengel, der meinen Brief mitgenommen hatte. Vermutlich war er wiedergekommen in der Hoffnung, noch mehr Sixpencestücke zu verdienen, und hatte dann Giveen befreit. Mittlerweile war es fast fünf Uhr geworden und die Dämmerung trat ein. Ich stürzte nach dem Schuppen, schob das Auto heraus und fuhr los auf dem Wege nach London. Wissen Sie, wenn er nach Southend gegangen wäre, hätte ich ihm begegnen müssen und sonst gab es keine Richtung, die er einschlagen konnte, falls er nicht ins Marschland oder in die See gegangen war.

Die Biegung von dem Nebenweg auf die Londoner Chaussee nahm ich so scharf, daß der Wagen fast umwarf, und dann ließ ich ihn sausen. Mehrfache Ereignisse drohten mich aufzuhalten. Mein Hut flog ab und ich mußte stoppen, um ihn zu holen. Vor einer Arbeiterwohnung mitten auf dem Wege formten Kinder Sandkuchen und um ein Haar hätte ich die Gören zu Mus zerquetscht; ein Kerl kam aus dem Haus heraus und verfolgte mich eine halbe Meile weit, dann nahm er an einer Stelle, wo die Straße sich wie eine Haarnadel krümmt, einen Richtweg und hätte mich dadurch beinah abgefaßt. Er wollte, glaube ich, meine Nummer lesen – aber es ist ihm nicht geglückt. Darauf fiel mir ein, daß ich die Laternen anzünden müsse, denn die Sonne war schon seit einer Stunde untergegangen, und die Polizisten auf der Landstraße machen sich nichts daraus, wegen zehn Minuten einen Eid zu leisten. Wäre es eine gewöhnliche Fahrt gewesen, hätte ich mich nicht daran gekehrt; aber dies war eine andere Sache, eine gerichtliche Vorladung wäre mir sehr peinlich gewesen, denn ich hätte kein Alibi gehabt für den Fall, daß Giveen eine Klage wegen Entführung gegen mich einreichte. Also stoppte ich und zündete die Laternen an.«

Mr. Dashwood hielt inne.

»Und?« sagten die Zuhörer.

»Hätte ich diese verwünschte dumme Vorsichtsmaßregel nicht getroffen, würde ich Giveen wieder eingefangen haben.«

Mr. French schluckte hastig, als verschlinge er etwas Unschmackhaftes, dann sagte er: »Weiter.«

»Stellen Sie sich vor,« sagte Mr. Dashwood, »ich habe es bis jetzt immer darauf ankommen lassen und bin stets gut durchgekommen und sobald ich vorsichtig bin, verderbe ich alles. Ist es nicht, um rasend zu werden?«

»Ja,« entgegnete French, »und mir geht es ebenso. Aber weiter!«

»Ich zündete die verflixten alten Laternen an,« fuhr Bobby fort, »setzte das verflixte alte Auto in Bewegung und hatte kaum 'ne halbe Meile hinter mir, als ich, nachdem ich um eine Wegbiegung gekommen war, einen Karren vor mir erblickte, der sehr schnell fuhr. Es war eines dieser zigeunerartigen Gefährte voller Hühner und dergleichen, mit denen die Kerls Hökerei betreiben; das Geschirr besteht halb aus Stricken und das Pferd sieht aus wie 'ne Vogelscheuche, geht aber wie 'ne Lokomotive. In dem Karren saßen zwei Männer; der eine war Giveen. Obgleich es schon recht dunkel war, konnte ich ihn deutlich erkennen, denn er hatte den Hut abgenommen und sein kahler Kopf leuchtete wie ein weißer Stein. Augenscheinlich war er dem Karren begegnet und hatte den Mann dafür bezahlt, daß er ihn mitnahm.

›Nun,‹ sagte ich mir, indem ich etwas langsamer fuhr, um besser Nachdenken zu können, ›was soll ich tun? Wenn ich versuche, mich seiner mit Gewalt zu bemächtigen, so wird der Kerl, der neben ihm sitzt, ihm helfen, sich zu wehren, und wenn er das auch nicht tut, so wird er sicherlich die Geschichte im nächsten Dorf erzählen und mir die Polizei auf den Hals hetzen. Ich weiß – ein Zusammenstoß ist das Einzige. Ich muß mit voller Geschwindigkeit auf den Karren drauffahren, einerlei, was geschieht. Die Gefahr, getötet zu werden, laufe ich ebensogut, wie die beiden. Falls Giveen oder der Lump, der bei ihm ist, umkommt, so ist das das Mißgeschick des Kriegs; wird aber keiner von uns getötet, setze ich mich auf Giveens Kopf und schicke den andern Kerl nach Hilfe aus; dann, wenn der fort ist, packe ich Giveen beim Kragen, schleppe ihn quer über Land nach dem Hause meines Onkels zurück und überlasse das Auto sich selbst?‹«

»Beabsichtigten Sie wirklich, das zu tun?« fragte Violet, indem sie Bobby mit einem Gemisch von Bewunderung und Erstaunen anblickte.

»Beabsichtigen? Freilich. Ich habe es sogar getan, aber das alte Auto refüsierte. Ich stellte den Hebel auf die größte Geschwindigkeit ein und was tut das Ding? Bleibt plötzlich stehen, so daß ich fast herausgeflogen wäre.«

»Hat Giveen Sie gesehen?«

»Nein; er hat sich kein einziges Mal umgesehen und verschwand mitsamt dem alten Karren in der Dunkelheit. Irgendetwas in der Maschinerie muß in Unordnung geraten sein, als ich abstieg, um die Laternen anzuzünden. Vermutlich habe ich zu rasch gestoppt, denn ich hörte etwas knacksen vorn in der Maschine. Wie dem auch sei, jedenfalls saß ich fest. Na, ich konnte nichts andres tun als Hilfe suchen, und beredete schließlich einen Bauern, mir zwei Pferde zu vermieten, die den alten Rasselkasten nach Southend zurückzogen. Vergnüglich, nicht wahr? In Southend fand ich ein Motorenreparaturgeschäft, das einzige am Ort, aber der Mechaniker, der die Reparaturen machte, war mit einem Auto fortgefahren und wurde erst um Mitternacht zurückerwartet. Also bezahlte ich die Pferde, schickte sie nach Hause und suchte mir Nachtquartier. Nun, um die Sache kurz zu machen: heute morgen um sechs stand ich auf, das Auto wurde in einer knappen Viertelstunde in Ordnung gebracht und dann sauste ich in voller Fahrt nach London zurück. Für die Reparatur, das Mieten der Pferde und das Nachtquartier hatte ich jedoch all mein Geld verbraucht; nur noch sechs Pence waren in meiner Tasche und gegessen hatte ich nichts, ich weiß nicht wie lange. Ich hielt in einem Dorf, das am Wege lag, und trank Wasser aus einer Pumpe. ›Einerlei,‹ sagte ich mir, ›wenn ich ins Albany komme, kann Robert mir Geld borgen –‹, das ist mein Diener, wissen Sie. Aber als ich dort anlangte, war Robert fort und meine Wohnung zugeschlossen. Sehen Sie, er dachte, ich bliebe längere Zeit fort, und außerdem telegraphiere ich ihm immer am Tage vor meiner Rückkehr. Es war gerade neun Uhr und ich so hungrig wie möglich, aber mich hatte eine derartige rasende Wut erfaßt, daß ich gar nicht daran dachte, jemand anders anzupumpen, was ich sehr gut hätte tun können. Für sechs Pence ist in Westend kein Essen zu haben, deshalb telegraphierte ich Ihnen damit, holte mir bei Simpson Benzin und fuhr direkt hierher.«

French erhob sich, nahm Dashwoods Hand und schüttelte sie.

»Und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte,« sagte er – er geriet leicht in Rührung, »dies vergesse ich Ihnen nie.«

»Unsinn!« erwiderte Bobby. »Es war nichts. Es – es machte mir Vergnügen – wenigstens teilweise. Jedenfalls würde ich es gleich morgen nochmals tun, so aufregend war die Sache.«

» Ich finde,« bemerkte Miß Grimshaw mit der Miene eines Kritikers, der ein Kunstwerk begutachtet, »das Großartigste an der ganzen Geschichte war Ihr Entschluß, mit voller Fahrt in den Karren hineinzusausen und ihn zu zertrümmern. Es war großartig, wenn auch sündhaft.«

»Hören Sie,« sagte Mr. Dashwood, eifrig bestrebt, den Lobeserhebungen ein Ende zu machen, »vor allem müssen wir jetzt an Giveen denken. Was ist heute? Der zehnte, nicht wahr? Heute geht er zu Lewis, das ist bombensicher.«

»Wenn er das tut,« entgegnete French, »wird Lewis morgen einen Gerichtsvollzieher hersenden und dann bin ich verloren.«

»Das ist noch nicht sicher.«

»Was meinen Sie?«

»Auf dem Wege hierher habe ich mir die Sache überlegt. Wenn er einen Beamten ins Haus setzt, so lassen Sie uns den Mann bestechen.«

»Ich habe nichts, womit ich ihn bestechen könnte,« erwiderte French. »Man kann ihn nur mit Geld bestechen und ich habe keins.«

»Vielleicht könnten wir ihm so und so viel Prozent von dem Gewinn anbieten dafür, daß er die Augen zumacht, wenn das Pferd aus dem Stall genommen wird, um nach Epsom gebracht zu werden,« meinte Mr. Dashwood. »Wir wollen das Pferd ja gar nicht stehlen, sondern es nur für das Rennen leihen.«

»Das ist keine schlechte Idee,« sagte Miß Grimshaw.

»Wenn der Mann Sinn für Sport hat,« fuhr Mr. Dashwood fort, »müßte es leicht zu machen sein. Man gibt ihm ein paar Gläser Whisky, bringt ihn in heitere Stimmung und die Sache ist fertig.«

»Bei Gott, es ist wirklich keine schlechte Idee,« sagte French. »Ich hatte selbst schon daran gedacht, den Kerl zu ergreifen und in einer Box gefangen zu halten, ebenso wie Moriarty mir damals vorschlug, es mit Giveen zu machen; aber ich habe mir das überlegt und es hat keinen Zweck. Die Folge würde sein, daß man mich ins Gefängnis steckte und der Himmel weiß, was sonst noch. Dann wäre ich völlig zugrunde gerichtet. Aber wenn wir den Mann dazu bewegen können, seine Einwilligung zu geben – das ist etwas ganz anderes.«

»O ja, es wäre niederträchtig und grausam, ihn gefangen zu halten,« sagte das junge Mädchen, »aber wenn Sie ihn überreden können, das Pferd in dem Rennen laufen zu lassen, so wird das dem Tier nicht schaden und Sie würden dadurch eventuell aus aller Not befreit. Doch sogar das, fürchte ich, wäre nicht ganz recht. Man belastet das Gewissen des Mannes.«

»Diese Kerls haben alle gar kein Gewissen,« entgegnete Bobby, »wenigstens keins, das der Rede wert ist.«

»Dann,« sagte Miß Grimshaw, »kann man es natürlich auch nicht belasten.«


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