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Einundzwanzigstes Kapitel.
Das Päckchen Briefe

Mr. Dashwoods Wohnung im Albany war seinem Geschmack entsprechend eingerichtet; in der Dekoration hatten die schönen Künste dem Kultus der körperlichen Ausbildung weichen müssen. An den Wänden hingen ein paar alte Stiche von Rowlandson neben Boxerhandschuhen, Fechtstöcken und Rapieren; die wenigen vorhandenen Bücher gehörten weder der philosophischen noch erbaulichen Literatur an.

Er hatte einen sehr traurigen Sonntag verlebt. Nachdem er seine Briefe an Miß Grimshaw und French zur Post gebracht, hatte er sich dem Tabak und düstersten Betrachtungen ergeben. Den Montag begann er mit dem Versuch, sich vorzustellen, wie Miß Grimshaw sein Schreiben aufgefaßt habe; um seinen Gedanken zu entrinnen, begab er sich in den Bridgeklub und erhob sich vom Spieltisch mit einem Gewinn von zwölf Pfund und dem Gefühl, daß die Dinge eine Wendung zum besseren nähmen. Als er am Dienstag beim Frühstück saß, wurde ihm ein Telegramm gebracht.

»Kommen Sie sofort, sehr wichtig. Grimshaw, Crowsnest.«

»French ist tot umgefallen oder das Haus brennt,« sagte Mr. Dashwood, während er vom Frühstückstisch aufsprang und zum Schreibpult lief, um das Kursbuch aufzuschlagen. »Robert, stürze hinaus und verschaffe mir einen Taxameter. Ich habe gerade noch Zeit, um den Zug, der elf Uhr zehn vom Viktoriabahnhof abgeht, zu erreichen. Bekümmere dich nicht ums Packen. Ich werde ein paar Sachen in die Reisetasche werfen. Hol die Droschke.«

Er stopfte einige Sachen in die Handtasche und zehn Minuten später brachte ihn die Droschke nach dem Bahnhof.

Daß irgendein Unglück passiert sei, erschien ihm unzweifelhaft. Die wahre Sachlage kam ihm keinen Augenblick in den Sinn. Die Vorstellungen, daß French tot daläge, Garryowen plötzlich lahm geworden sei oder The Martens in Flammen stünde, wechselten in seinen kreisenden Gedanken mit dem Versuch, sich auszumalen, wie das junge Mädchen ihm begegnen, was es sagen und ob es von dem Vorfall an der Brücke sprechen werde.

Vom Viktoriabahnhof aus hatte er gedrahtet, mit welchem Zuge er käme, und als er in die Station Crowsnest einfuhr, war Miß Grimshaw die erste, die er auf dem Bahnsteig erblickte. Während sie einander die Hand schüttelten, erkannte Dashwood sogleich, daß die Vergangenheit nicht erwähnt werden solle.

»Ich freue mich so, daß Sie gekommen sind,« sagte das junge Mädchen. »Sie haben doch eine Handtasche? Nun, die wird nachgeschickt werden. Wir können zu Fuß nach Hause gehen, und auf dem Wege erzähle ich Ihnen alles.«

»Was ist geschehen?«

»Ein Unheil. Aber eigentlich ist es nicht so sehr das, was geschehen ist, sondern was geschehen wird. Effie –«

»Hat sie einen Unfall gehabt?«

»Nein, das nicht, aber die dumme kleine Liese hat gestern morgen einen Brief an Mr. Giveen abgesandt.«

»Einen Brief an den! Wer hatte ihn geschrieben?«

»Sie selbst. Sie wollte ihn in den April schicken, deshalb schrieb sie ›Aprilnarr‹ auf einen Briefbogen, steckte ihn in einen Umschlag, adressierte den Brief und warf ihn in den Kasten.«

»Gütiger Himmel! Nun wird er Ihre Adresse erfahren und Lewis davon benachrichtigen und die Gerichtsvollzieher werden kommen und Garryowen beschlagnahmen!«

»Ja.«

»Aber warten Sie einen Augenblick,« sagte Dashwood. »Hat sie eine Adresse auf den Briefbogen geschrieben?«

»Nein. Bei einem derartigen Aprilscherz gibt man gewöhnlich keine Adresse an, nicht wahr? Aber der Poststempel –«

»Daran dachte ich gerade,« sagte Mr. Dashwood.

»Es kommt nur darauf an,« entgegnete sie, »ob der Poststempel vielleicht unleserlich gewesen ist. Einige dieser Dorfpostämter brauchen Stempel, die sehr abgenutzt sind. Erinnern Sie sich – ich habe Ihnen, seit wir hier sind, mehrere Briefe geschrieben, um Sie um Besorgungen zu bitten – können Sie sich entsinnen, ob die Poststempel unleserlich waren oder nicht?«

»Nein,« sagte Mr. Dashwood, »das kann ich nicht.« Dann fügte er hinzu, indem er dunkelrot wurde: »Aber das können wir bald sehen.«

Er fuhr mit der Hand in die Brusttasche seines Rockes und brachte ein kleines Päckchen Briefe zum Vorschein. Es waren nur vier Briefe, die mit einem schmalen Seidenband zusammengebunden waren. Als Miß Grimshaw das Seidenband sah, biß sie sich auf die Lippen.

»Sehen Sie!« sagte er, während er das Band abstreifte und in die Tasche steckte. Er zeigte ihr den ersten Brief. Der Crowsnester Poststempel war in der Größe eines Pfennigs klar und deutlich darauf abgedruckt.

Auf den drei andern war es ebenso.

Nachdem er die Briefe wieder in die Tasche geschoben hatte, setzten die beiden ihren Weg schweigend fort. Man würde nie auf die Idee gekommen sein, daß der Mann das Mädchen in seinen Armen gehalten und leidenschaftlich geküßt habe, als sie einander das letzte Mal sahen.

Miß Grimshaw brach endlich das Schweigen.

»Mr. French sagte gestern abend, es wäre ›aus mit uns‹, und ich fürchte, er hat nie ein wahreres Wort gesprochen.«

»Das einzige, was mir bis jetzt einfällt,« erwiderte Mr. Dashwood, »ist, daß ich nach Irland fahren und versuchen könnte, Giveen gut zuzureden.«

»Sie kennen ihn nicht. Er ist nicht nur geistesschwach, sondern auch boshaft. Einen solchen Mann kann man nicht überreden.«

»Na, dann ist er vielleicht zu bestechen.«

»Mr. French hat kein Geld, womit er ihn bestechen könnte. All sein Geld steckt in dem Rennen.«

»Das City und Suburban ist am fünfzehnten,« sagte Mr. Dashwood nachdenklich. »Also haben wir noch reichlich zwölf Tage Zeit. Verwünscht! Der Mann, der Lewis, hat sie auch. Wirklich, dieser Giveen muß ein Lump sein. Weshalb ist er so darauf erpicht, French hereinzulegen?«

»Ich glaube, das ist teils meine Schuld. Hat Mr. French Ihnen nicht die Bootgeschichte erzählt?«

»Nein.«

»Nun, Mr. Giveen machte in Drumgool eine Wasserfahrt mit mir, um mir die Küste zu zeigen.«

»Ja.«

»Er brachte mich in eine Meeresgrotte, den schrecklichsten Ort, den Sie sich denken können, und dann –«

»Nun?«

»Schaukelte er das Boot hin und her, so daß es beinah umkippte –«

»Bestie!«

»Das sagte ich ihm auch. Er lachte die ganze Zeit, wissen Sie. Er wollte, daß ich – daß ich –«

»Ja?«

»Ihm einen Kuß gäbe – uff! Und ich hatte solche Angst, daß ich ihm einen versprach, wenn er mich ans Ufer setzte. Und als wir landeten, stand Mr. French da und wartete auf uns und ich erzählte ihm, was vorgefallen war.«

»Was tat er?«

»Er gab Mr. Giveen einen Fußtritt.«

»Sehr gut,« sagte Mr. Dashwood. »Wäre ich dagewesen, so hätte ich ihn ertränkt.«

»Dazu hatte Mr. French auch Lust. Wenigstens hätte er ihn gern untergetaucht.«

»Ich will Ihnen was sagen,« erklärte Mr. Dashwood, »wenn dies Vieh sich Crowsnest nähert, so stehe ich nicht dafür ein, daß ich ihm nichts antue.«

»Das wäre sehr unklug gehandelt,« entgegnete Miß Grimshaw. »Kommt er her, so müssen wir ihn womöglich mit seinen eigenen Waffen bekämpfen – aber er wird nicht herkommen.« Darin irrte sie sich.

»Die Sache wäre mir nicht so wichtig,« schloß sie, »wenn nur nicht dieser elende Basar am fünften stattfände. Ich soll in einer Bude beim Verkauf helfen. Sie können sich vorstellen, wie einem zumute ist, wenn man ein unbefangenes Gesicht machen und Leute, die einem völlig gleichgültig sind, anlächeln muß, während man sozusagen auf einem Pulverfaß steht. Außerdem, denken Sie sich nur, wie diese ganze Crowsnester Gesellschaft uns verhöhnen und uns den Rücken zukehren würde, wenn sie in Erfahrung brächte, daß ein Gerichtsvollzieher bei uns eingezogen sei. Sie wissen nicht, wie die Menschen hier sind. Ich kenne sie.«

»Es gibt hier eine Menge gräßlicher alter Katzen,« bestätigte Mr. Dashwood, der nicht recht wußte, was er sagen sollte.

»Man hat ein Gefühl, als ob man ihnen vergiftete Milch hinsetzen möchte,« erwiderte das junge Mädchen. »Na, da wären wir und da ist auch Mr. French.«

Sie hatten die Höhe erreicht. French stand gleich einer Wache, die nach Feinden Ausblick hält, auf der Veranda der Villa und winkte ihnen ein Willkommen zu.


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