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Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Der Brief

Nachdem Miß Grimshaw beobachtet hatte, wie Bobby Mr. Giveen zum Basarausgang geleitete, widmete sie sich ihren Pflichten mit so zerstreuten Sinnen, daß sie Mrs. Passover, der Frau des Sanitätsinspektors, eine Tischdecke, deren Preis mit sieben Schilling sechs Pence angegeben war, für zwei Schilling sechs Pence verkaufte und sich dieser Tatsache erst bewußt wurde, als Miß Slimon, der Schutzengel des Tisches, sie darauf aufmerksam machte.

Unter dem Vorwand von Kopfschmerz legte sie um fünf Uhr ihr Amt nieder und eilte nach The Martens zurück, wo Mr. French, eine Zigarre im Munde, einen Roman las und sein Versprechen, den Basar zu besuchen, gänzlich vergessen hatte.

»Was ist los?« fragte French, während er sein Buch und sein Augenglas, das er zum Lesen benutzte, niederlegte und das junge Mädchen anstarrte, deren Mienen Neuigkeiten verkündeten.

»Er ist da.«

»Wer?«

»Mr. Giveen.«

»Er ist da? Wo? Er ist da, der –«

»Halt!« unterbrach sie ihn, halb beängstigt durch seine Wildheit. »Vielleicht ist es nicht so arg, wie Sie glauben. Mr. Dashwood ist bei ihm und will sein möglichstes tun. Mit Gewalt ist nichts zu erreichen. Setzen Sie sich hin und hören Sie mir zu, ich erzähle Ihnen alles.«

French ließ sich wieder in den Stuhl nieder, von dem er aufgesprungen war. Die tierische Wut, die der Gedanke an Giveen in ihm wachgerufen hatte, hätte ernste Folgen nach sich ziehen können, wenn die Ursache seiner Erregung in erreichbarer Nähe gewesen wäre. Und kein Wunder, denn Garryowens Training war auf dem Höhepunkt der Vollendung angelangt. Moriartys monatelange fürsorgliche Behandlung und sein Genie hatten das Pferd auf jenen Grad der Vollkommenheit gebracht, der nichts anderes als den Renntag zu wünschen übrig läßt. Nur wenige Tage trennten sie noch von dem großen Augenblick, in dem die schwarzgelben Drumgooler Farben als erste das Ziel passieren würden, falls das Schicksal gnädig war; die Möglichkeit, ein Vermögen zu gewinnen, war fast zur Gewißheit geworden, und nun kam plötzlich Dick Giveen, um die Hoffnungen seines Vetters zunichte zu machen und ihn für allezeit zu ruinieren.

»Aber was brachte ihn auf den Basar?« fragte French, als Miß Grimshaw ihren Bericht beendet hatte.

»Die Vorsehung, glaube ich,« entgegnete sie. »Stellen Sie sich vor, wenn er nicht hingegangen wäre! Er ist anscheinend nur hierher gereist, um sich zu überzeugen, daß Sie hier sind. Wäre er nicht auf dem Basar erschienen, so hätte er ohne unser Wissen seine Erkundigungen einziehen und nach London zurückkehren können und die unmittelbare Folge wäre gewesen, daß ein Gerichtsbeamter Besitz ergriffen hätte.«

French erhob sich und ging, ohne zu sprechen, ein paarmal auf und nieder; dann brach er los: »Ich weiß nicht, was Dashwood mit ihm machen soll; wenn er ihn nicht umbringt, so kann er ihn nicht davon abhalten, daß er zu Lewis geht und den Angeber spielt. Was soll es nützen, hinter ihm herzulaufen? Es wäre besser, ihn in Frieden zu lassen. Dann wäre die Sache ein für allemal überstanden und aus. Na, meinetwegen können sie tun, was sie wollen, aber den Gaul kriegen sie nicht, denn so gewiß, wie ich hier stehe, wenn Lewis Besitz ergreift, erschieße ich ihn.«

»Mr. Lewis?«

»Nein, das Pferd.«

Er schritt aus dem Zimmer und begab sich durch die Hintertür nach den Stallgebäuden.

Moriarty war auf dem Hof und arbeitete an einer Falle eigener Erfindung; ein Ding, einfach wie die Sünde, verhängnisvoll wie der Tod und listig wie der Geist seines Schöpfers. Miß Grimshaw hatte Mrs. Driscoll den Text gelesen wegen des Wilderns. Das Fangen von Kaninchen und dergleichen sei vielleicht noch zu entschuldigen, hatte Miß Grimshaw gesagt, aber das Wildern von Schafen und Eiern wäre unverzeihlich. Es sei tatsächlich Diebstahl, und wenn ihr noch einmal etwas davon zu Ohren käme, so würde sie es Mr. French mitteilen. Mrs. Driscoll leugnete energisch jegliche Kenntnis dieser Vorkommnisse, hörte aber dennoch auf die Worte der Erzieherin und hinterbrachte sie Moriarty.

»Schafe?« sagte Moriarty, der Berichterstatterin zublinzelnd. »Was für 'n Schaf meint sie woll?«

»Meiner Treu, ich weiß da nix von, aber sie sagt, sie hätte gesehen, wie Sie und Andy ein Schaf in die Box schleppten neben die, wo die Katze drin is.«

»Ach! den ollen Leithammel! Wahrhaftig, den haben wir da man bloß hingebracht, damit er sich nich verkühlte. Und war es unsre Schuld, wenn er Selbstmord beging und sich tot machte und abzog und in Viertel zerlegt aufhängte?«

Dessenungeachtet widmete er von diesem Tage an seine Fürsorge nicht mehr den Schafen der Nachbarschaft, sondern begnügte sich mit kleinerem Wild.

»Moriarty,« sagte Mr. French, »Mr. Giveen hat herausgefunden, wo wir sind. Er ist heute hier gewesen und es ist alles aus.«

»Meiner Treu, Sir,« entgegnete Moriarty, »das wunnert mich nicht. Mich wunnert man bloß, daß er uns nich schon früher gefunden hat.«

»Na, jedenfalls hat er uns jetzt gefunden, der Henker hole ihn! Aber es gibt noch eine Hoffnung. Mr. Dashwood hat ihn eingefangen und sich an ihn gehängt. Ich glaube freilich nicht, daß er was mit ihm machen kann.«

Moriarty, der seine Falle auf den Vorsprung des Küchenfensters gesetzt hatte, kniff die Lippen zusammen und streichelte sein fuchsiges Kinn.

»Und wo hat Mr. Dashwood ihn, Sir?« fragte er nach kurzem Schweigen.

»Das weiß ich nicht.«

»Wissen Sie vielleicht zufällig, Sir, ob er noch in Crowsnest is? Wenn er nämlich noch hier wär' und wir ein gerades Wort mit ihm reden könnten und ihn hierherbringen –«

»Ja?«

»Na, Sir, da is doch noch 'ne leere Box neben der Katze ihre.«

»Du meinst, wir könnten ihn dort einsperren?«

»Jawoll, Sir.«

»Er würde nie herkommen und wenn auch, so würde er derartig brüllen, daß das ganze Dorf es hörte.«

»Er soll woll leise sein, wenn er mit 'nen Strick geknebelt is.«

»Aber wir könnten ihn hier nicht zehn Tage festhalten, und er würde Grund zu einer niederschmetternden Klage gegen uns bekommen – das wäre mir freilich gleichgültig. Aber höre, Moriarty –«

»Jawoll, Sir?«

»Lauf hinunter ins Dorf und auf den Bahnhof, und wenn du ihn irgendwo mit Mr. Dashwood siehst – auf mein Wort, dann tue ich es. Bring ihn her, sag ihm, ich wünschte ihn zu sprechen. Wir könnten es wenigstens versuchen.«

»Jawoll, Sir.«

Moriarty ging in den Stall und schlüpfte in seine Jacke. Eine Stunde später kehrte er aus dem Dorf zurück mit der Nachricht, daß Mr. Dashwood und der fremde Herr mit dem Fünfuhrzug nach London gefahren seien.

Am folgenden Tage frühmorgens kam zugleich mit den Briefen ein Telegramm, das Dashwood am vergangenen Abend expediert hatte: »Giveen in Sicherheit.«

Nachdem Mr. French es gelesen hatte, zog er seinen Schlafrock an, ging an die Tür von Miß Grimshaws Zimmer, klopfte an und schob die Depesche unter der Tür durch.

»Lesen Sie das!« schrie Mr. French.

»Sehr schön!« antwortete Violets Stimme nach einem Augenblick. »Ich wußte, daß er irgend etwas tun würde. Oh, welche Erleichterung!«

Beim Frühstück erörterten sie das offen auf dem Tisch liegende Telegramm.

»Es ist gestern abend um acht Uhr in Regentstreet aufgegeben,« sagte Miß Grimshaw. »Ich möchte wohl wissen, was er mit ihm gemacht oder wie er ihn überredet hat.«

»Ich weiß nicht, was er mit ihm gemacht hat,« entgegnete French, »aber eins weiß ich, überreden wird er ihn nicht, und wenn er sich einbildet, daß er das kann, so wird er finden, daß er sich geirrt hat.«

»Nun,« sagte das junge Mädchen, »was es auch sei, es ist geschehen. Wir haben unser möglichstes getan, und wenn wir unterliegen, so ist es nicht unsre Schuld. Und darin liegt eine gewisse Befriedigung.«

Der Tag verging, ohne daß Nachricht von Mr. Dashwood kam. Der nächste ebenfalls, aber am dritten Tag kam mit der Frühpost ein Brief.

Die Adresse war mit Bleistift geschrieben, der Umschlag schäbig und schmutzig. Mr. French riß ihn auf und las:

 

»Lieber French, – ich habe ihn in Nummer Sicher. Da ich keine Tinte besitze, schreibe ich dies mit Bleistift und ich weiß noch nicht, wie ich es auf die Post bringen soll. Ich schreibe auf alle Fälle in der Hoffnung, Mittel und Wege dazu zu finden. In London brachte ich Giveen in meine Wohnung, ohne im geringsten zu ahnen, als ich ihn glücklich dahatte, was ich mit ihm machen solle. Das Scheusal haßt Sie. Das kriegte ich aus ihm heraus, indem ich vorgab, Ihr Feind zu sein. Er sagte mir ohne Umschweife, daß er Lewis auf Sie hetzen werde, und wahrhaftig, es gab Augenblicke auf der Reise nach London, in denen ich ihn am liebsten aus dem Fenster geworfen hätte. Schließlich, als er in meiner Wohnung saß, kam eine Freundin von mir, die ich um Rat fragte, auf eine glänzende Idee. Ich mietete ein Auto, kaufte Proviant, brachte Giveen ins Auto und fuhr ihn hierher nach einem kleinen Haus, das einem Onkel von mir gehört und von ihm zur Zeit der Entenjagd benutzt wird.

Es ist der abgelegenste Ort der Welt, an der Küste von Essex, weit und breit keine Seele, nur Möwen. Natürlich wurde Giveen auf der Fahrt bockig, aber nur milde. Ich geriet auf den guten Gedanken, so zu tun, als sei ich etwas gestört, und sagte ihm, ich sei der König von Siam – das beruhigte ihn. Er ist fest überzeugt, daß er sich in den Händen eines Wahnsinnigen befindet, und stellt keine Fragen. Er muß für uns kochen – das Wenige, was zu kochen ist – und aufwaschen; ich lasse ihn keinen Augenblick aus den Augen und schlafe nachts in einem Bett quer vor seiner Tür. Das Ganze gleicht einer Geschichte, die man in Büchern liest, aber es gibt keine Worte für das Entsetzliche der Situation. Man kann über nichts mit ihm reden, wir leben von Büchsenfleisch und Zwieback und mein Tabak nähert sich seinem Ende. Ich würde Sie bitten, mir Tabak zu schicken, aber ich wage es nicht, denn wenn der Postbote herkäme, würde Giveen sicherlich einen Versuch machen, seine Freiheit wiederzuerlangen.

Seien Sie überzeugt, daß ich mich bis aufs äußerste an ihn klammern werde, und empfehlen Sie mich allerseits freundlichst.«

 

French las dies wichtige Schreiben Miß Grimshaw vor, während sie beim Frühstück saßen, und das junge Mädchen lauschte ihm mit blitzenden Augen.

»Ich habe Automobile stets gehaßt,« sagte sie, als er geendet hatte, »aber nun will ich kein Wort mehr gegen sie hören. War es nicht wirklich klug von ihm? Und das schlaueste an der ganzen Sache ist die Idee mit dem König von Siam, denn wenn es später irgendwelche Unannehmlichkeiten geben sollte, so kann er die ganze Geschichte für einen derben Scherz ausgeben. Jetzt sind es nur noch fünf Tage bis zum dreizehnten. Am dreizehnten wollten Sie doch das Pferd nach Major Lawsons Stall in Epsom senden, nicht wahr?«

»Ja,« erwiderte French, »ich hatte noch gestern einen Brief von ihm, worin er sich nach dem Gaul erkundigt. Beim heiligen Georg, ich glaube, wir holen das Stück noch trotz allem!«

Er erhob sich in großer Erregung, ging zum Fenster und stand dort, mit den Schlüsseln in seiner Tasche klappernd und die Aussicht betrachtend. Es deuchte ihm, daß das Glück ihm endlich die Wege ebne. Nur ein paar Tage trennten ihn noch von dem Ziel. Wenn Bobby Mr. Giveen bis zum dreizehnten, oder auch nur bis zum zwölften, in »Nummer Sicher« festhalten konnte, so war alles gut. Konnte er es? Die Zeit allein vermochte diese Frage zu beantworten.


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