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Zwanzigstes Kapitel.
Die Folgen

Gegen Mitternacht wurde Miß Grimshaw aus ihrem Schlummer geweckt durch Töne, die wie das Jammern und Heulen eines Menschen klangen. Sie setzte sich aufrecht im Bett hin und lauschte. Es war Effies Stimme, die wiederholt ihren Namen rief.

»Miß Grimshaw – Miß Grimshaw – Miß Grimshaw!«

In einem Augenblick sprang sie aus dem Bett und hüllte sich in einen Schlafrock; in der nächsten Sekunde stand sie in Effies Zimmer.

Das Kind saß bei hellem Mondlicht aufrecht im Bett. Ein Galgen, ein schlechtes Gewissen und eine gestohlene Briefmarke hatten sich in ihren Träumen zu einem schrecklichen Alpdruck verwoben.

»Ich hab' sie aus dem Schubfach im Schreibtisch genommen! aber ich meinte es nicht so – ich tat es zum Spaß,« rief Effie, ihr Gesicht auf Miß Grimshaws Schulter vergrabend. »Und mir träumte – au, au!«

»Was in aller Welt ist hier passiert?«

Es war Mr. French in einem Schlafrock, ein brennendes Licht in der Hand.

In einer gleich dem Resonanzboden einer Geige widerhallenden Villa aus Kiefernholz kann man nicht jammern und heulen, ohne seine Hausgenossen zu stören, und hinter Mr. French bewegten sich Gestalten, die an den auf sein Auftreten wartenden Chor in einem griechischen Drama erinnerten.

»Ich weiß nicht,« erwiderte Miß Grimshaw, deren Gefühle geteilt waren zwischen Sorge um Effie und Dankbarkeit, daß sie Pantoffeln an den Füßen hatte. »Sie scheint eine Briefmarke genommen zu haben oder dergleichen Unsinn. Es ist Alpdrücken. Nun, Effie, weine ruhig weiter, wenn dir danach zumute ist, aber sage mir alles. Die Schrecknisse werden verschwinden, sobald du sie mir erzählst.«

»Ich hab' sie auf den Brief geklebt,« schluchzte Effie, die vom heulenden ins weinende Stadium übergegangen war, »und dann hab' ich den Brief in den Kasten gesteckt – und mir träumte, daß Mister Chopping und der Polizist mich aufhängen wollten.«

»Na, das wollen sie gar nicht. Mister Chopping und der Polizist liegen ruhig im Bett. Also war es ein Brief. Und wie war es mit dem Brief, den dein Vater dir gegeben hat?«

»Ich habe ihr keinen gegeben,« warf Mr. French ein.

»Das hab' ich bloß geflunkert,« sagte Effie. »Vater hat mir überhaupt nichts gegeben. Es war nur mein Brief an Vetter Dick.«

»Dein was?« fragte French, der sich auf das Fußende des Bettes gesetzt hatte und seinen niedrigen Leuchter so hielt, daß ein Rembrandtartiger Lichtschein auf Effie fiel.

»Ich schrieb ihm, um ihn in den April zu schicken.«

»Was sagst du?« fragte French und in seiner Stimme lag eine Spannung, die von seiner Tochter nicht bemerkt, aber von Miß Grimshaw und den draußen lauschenden Dienstboten deutlich herausgehört wurde.

»Ich schrieb nur ›Aprilnarr‹,« antwortete Effie, nur noch leise schnüffelnd, während ein mattes Lächeln ihr Gesicht erhellte.

»Hast du eine Adresse angegeben?«

»Nein. Erinnerst du dich, als ich ihm voriges Jahr am ersten April schrieb, da sagtest du, ich sollte ›Aprilesel‹ schreiben? – na, ich habe wieder ›Aprilnarr‹ geschrieben, geradeso wie damals.«

»Er wird ihre Handschrift erkennen,« stöhnte French, laut zu sich selber sprechend. Dann, als getraue er sich nicht, mit dem Kinde zu reden, wandte er sich um und befahl den auf dem Flur stehenden Dienstboten, zu Bett zu gehen.

»Kommen Sie mit,« sagte er zu Miß Grimshaw, als Effie sich endlich, von ihren Sünden und Ängsten befreit, niedergelegt hatte. »Kommen Sie ins Wohnzimmer.«

Sie gingen ins Wohnzimmer und Mr. French stellte seinen Leuchter auf den Tisch.

»'ne schöne Geschichte,« sagte er.

»Sie hat keine Adresse angegeben,« erwiderte Miß Grimshaw, »aber –«

»Der Poststempel.«

»Ja, der Poststempel. Daran dachte ich auch. Aber es gibt noch eine Hoffnung: der Poststempel kann unleserlich sein. Sie wissen, wie schwer es manchmal ist, einen Poststempel zu entziffern.«

»Achten Sie auf das, was ich sage,« erklärte French mit dramatischer Betonung. »Dieser Poststempel wird nicht unleserlich sein, sondern klar und deutlich wie das Nelsondenkmal. Ich weiß es, denn im wirklichen Leben passieren gerade solche Dinge und speziell mir passieren sie. Der Brief wird nicht verloren gehen; selbst wenn das Paketboot unterginge, würde ein Haifisch ihn aus den Postsäcken herauswühlen und verschlucken, dann gefangen und aufgeschnitten werden, so daß der Brief mit der nächsten Post weiter expediert werden würde. Es ist aus mit uns.«

»Verlieren Sie nicht den Mut.«

»Es ist aus. Ich weiß es. Und zu denken, daß nach all unserm Beratschlagen und Pläneschmieden der alberne Streich eines Kindes mich zugrunde richten muß! Ich könnte es umbringen, wenn ich daran denke!« Er hielt plötzlich inne und kehrte sich um. Eine kleine weiße Gestalt stand in der Tür. Es war Effie. Sie hatte ihres Vaters Stimme gehört und war, erfaßt von überwältigendem Verlangen nach Rechtfertigung und zugleich auf Abenteuer und einen Kuß hoffend, aus dem Bett gesprungen und ins Wohnzimmer gelaufen.

»Ich möchte einen Kuß haben,« sagte Effie.

Im nächsten Augenblick war sie in den Armen ihres Vaters und er küßte sie, als hätte sie ihm das Glück und nicht den Ruin gebracht.

Dann huschte sie davon, um eiligst ihr warmes Bett aufzusuchen, und als das Geräusch ihrer trippelnden Schritte verklungen war, wandte sich das junge Mädchen, die Augen voller Tränen, zu French.

»Es ist nicht aus mit uns,« sagte sie schnell und ungestüm. »Wir werden sie doch noch überlisten. Irgendetwas müssen wir tun, aber wir haben auch Zeit, uns auf die Verteidigung vorzubereiten, denn der Brief wird nicht vor übermorgen in Cloyne eintreffen.«

»Wenn es ihnen gelingt, mich zugrunde zu richten, erschieße ich Garryowen mit eigener Hand und komme an den Galgen wegen Dick Giveen, bei Gott!«

»Still! Es hat keinen Zweck, sich dem Zorn hinzugeben. Wir müssen einen Kriegsrat halten und unsre Hilfstruppen sammeln. Dabei fällt mir ein –«

»Ja?«

»Mr. Dashwood –« Miß Grimshaw zögerte einen Augenblick, dann, als wenn durch die verzweifelte Sachlage alles andre in den Hintergrund gedrängt werde, fuhr sie fort: »Mr. Dashwood benahm sich neulich sehr töricht und reiste gleich darauf nach London zurück. Wir müssen ihm morgen früh telegraphieren, daß er sofort wiederkommen soll. Ich werde selber das Telegramm aufgeben. Und noch eins. Sie wissen, wie unausstehlich ich beim Tee war. Effie hatte mir nämlich in ihrem plötzlichen Lügenanfall gesagt, Sie hätten ihr für die Post einen Brief mitgegeben, den sie vor mir geheim halten solle. Natürlich hätte ich wissen müssen, daß Sie etwas Derartiges nicht tun würden. Ich bitte um Entschuldigung. Gute Nacht.«

Sie hatten, nur mit Schlafröcken und Pantoffeln bekleidet, miteinander geredet. Hätten die Crowsnester das gesehen, so würden sie sie für ewige Zeiten aus ihrer Gesellschaft ausgestoßen haben.


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