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Neunzehntes Kapitel.
Effies Streich

Mr. Dashwoods Brief an Miß Grimshaw, den sie am Montag erhielt und las, lautete: »Sie müssen mich für wahnsinnig gehalten haben, aber wenn Sie alles wissen, werden Sie anders denken. Ich hoffe, die Sache erklären zu dürfen, sobald die Pferdeaffäre erledigt ist. Bis dahin werde ich weder Sie, noch Mr. French sehen. Mehr kann ich jetzt nicht schreiben, denn meine Hände sind gebunden.«

Mr. French erhielt mit derselben Post ein Schreiben folgenden Inhalts: »Mein lieber French – als ich im Shelbourne-Hotel in Dublin einwilligte, als Ihr Gast nach Drumgool House zu kommen, sagten Sie mir im Hinblick auf eine junge Dame klar und offen, daß Sie mir ›freies Feld ohne weitere Vorteile‹ geben wollten. Sie deuteten an, daß Sie selber in jene Richtung zielende Absichten hegten, aber nichts tun oder sagen wollten, bevor die Dame reichlich Gelegenheit gehabt habe, sich zu entschließen – oder uns wenigstens näher kennen zu lernen. Ich machte mich anheischig, die Dinge nicht zu überstürzen und nichts heimlich zu unternehmen. Nun, ich habe mein Wort gehalten. Ich habe ehrliches Spiel gespielt. Weder durch Wort, noch Zeichen habe ich versucht, die Vorteile meiner Lage auszunutzen, bis ich am Sonnabend, durch meine Gefühle überwältigt, mich wie ein Idiot benahm. Das Unerträgliche an der Sache ist, daß ich ihr nicht sagen kann, in welcher Situation ich mich befinde. Für einen Mann, der sich bemüht hat, offen und ehrlich zu handeln, ist es sehr hart, in eine derartige infame Patsche zu geraten.

Ich kann die Dinge nur erklären, wenn ich um ihre Hand anhalte, was ich, das sage ich Ihnen geradeheraus, tun werde, aber noch nicht jetzt. Ich weiß, wie verwickelt Ihre Affären und Pläne sind, so lange jenes Rennen nicht stattgefunden hat, und bis dahin beabsichtige ich mich abwartend zu verhalten. Dann, aber nicht vorher, werde ich ihr schreiben und Ihnen den Tag und die Stunde mitteilen, zu der ich den Brief absende. Ich erwarte, daß Sie sich mir gegenüber ebenso benehmen, wie ich es Ihnen gegenüber tue, und daß Sie nicht die Vorteile Ihrer Lage ausnutzen.

Ich will Sie nicht wiedersehen, bis der große Tag kommt, an dem ich in Epsom sein werde, nicht nur, um Sie zu begrüßen, sondern um Ihre Farben als Sieger durchs Ziel gehen zu sehen.«

Ein jugendlich aufrichtiger Brief, dessen Inhalt in Anbetracht der außergewöhnlichen Umstände recht vernünftig war.

Als Mr. French ihn las, kratzte er sich den Kopf. Das im Rauchzimmer des Shelbourne-Hotels mit Bobby Dashwood getroffene Übereinkommen hatte er halb im Spaß und halb im Ernst angeregt. Von Anfang an war Violet Grimshaw ihm angenehm gewesen wie etwa ein sympathisches Bild oder ein hübsches Lied, aber bis zu dem Tage im Shelbourne-Hotel hatte er keine Absichten auf sie gehegt. Sie lebte in seinem Hause unter seinem Schutz; er betrachtete sie mehr wie eine Tochter als wie eine zufällig unter seinem Dach weilende Fremde, und wäre Bobby Dashwood nicht dazwischen gekommen, so hätten sich seine Gefühle ihr gegenüber vermutlich nicht geändert. Aber als Mr. Dashwood sprach, wurde Mr. French sich augenblicklich dessen bewußt, daß Miß Grimshaw ihm notwendig, oder vielmehr ein ihm notwendiger Luxus sei. Er war nicht in sie verliebt, aber er fand es reizend, sie im Hause zu haben; sie verbreitete Heiterkeit um sich her und French war durchaus abgeneigt, sie zu verlieren. Und da kam Dashwood und plante, sie ihm zu rauben.

Da er erkannte, daß Bobby die Sache sehr ernst nahm, und auch wußte, daß er nach glücklich überwundener Leichtsinnsperiode für jedes Mädchen einen vortrefflichen Bewerber abgeben würde, hielt sich French, großmütig und gutherzig, wie er war, nicht für berechtigt, hindernd dazwischen zu treten, wenn sich der heimatlosen Waise aus den Vereinigten Staaten eine gute Partie bot. Aber eine Verlobung nach kurzer oberflächlicher Bekanntschaft wollte er nicht. Wenn Violet Bobby, nachdem sie ihn gründlich kennen gelernt hatte, allen andern vorzog – nun gut; zog sie aber ihn, French, vor, um so besser.

Aber obgleich French so von Garryowen hingenommen war, daß ihm kaum Zeit blieb, an irgendetwas andres zu denken, hatten sich doch seit jenem im Shelbourne getroffenen Übereinkommen seine Beziehungen zu dem jungen Mädchen viel inniger gestaltet und auch seine freundschaftlichen Gefühle für Bobby waren noch herzlicher geworden.

Diese Tatsachen erfaßte er erst völlig, als er Mr. Dashwoods Brief niederlegte und die Situation kurz und treffend bezeichnete mit dem Wort: »Verwünscht!« Bisher war alles so gut gegangen. Garryowen befand sich in vollendeter Form; die Schuld an Lewis war freilich fällig, aber wenn Dick Giveen nicht durch einen ungünstigen Zufall Frenchs Adresse entdeckte – was fast ausgeschlossen erschien – konnte Lewis einem keine Not machen und fast für tot gelten – und nun passierte diese dumme Geschichte, die Dashwood forttrieb und ihren gemütlichen kleinen Kreis zerstörte. Dashwood war ein unschätzbarer Adjutant, aber French betrauerte in ihm noch mehr den verlorenen Freund. So weit war er in seinen Betrachtungen gekommen, als Effie das Zimmer betrat.

Wenn sich das Unheil uns nähert, erscheint es zuerst meist in freundlicher Gestalt. Auch Effie sah an diesem Morgen freundlich aus, denn sie zeigte niemals eine liebenswürdigere Miene, als wenn sie Unfug im Sinn hatte.

»Papa,« sagte Effie, »was ist heute?«

»Montag,« erwiderte Mr. French.

»Daß Montag ist, weiß ich. Ich meine das Datum.«

»Der dreißigste März.«

Effie nahm diese Auskunft schweigend entgegen und beschäftigte sich damit, aus einer auf dem Boden liegenden alten Quittung dreieckige Hüte zu machen, während ihr Vater sich an dem Schreibtisch mit Rechnungen befaßte. Miß Grimshaw, der gute Geist des Hauses, war vom Schicksal hinausgelockt worden, um Garryowen mit Andy im Sattel galoppieren zu sehen.

»Papa,« fing Effie nach einer Weile wieder an.

»Was?« fragte Mr. French in gereiztem Ton.

»Wie lange ist ein Brief von hier nach Drumgool unterwegs?«

»Fast zwei Tage,« erwiderte French. »Weshalb willst du das wissen?«

»Ich dachte nur so.«

»Na, denke für dich,« entgegnete der Vater. »Ich muß arbeiten und will nicht gestört werden.«

Effie folgte diesem Wink, indem sie unglaublich kleine Hüte aus dem Quittungspapier verfertigte und schmollend die Lippen zusammenzog.

Endlich zerriß French einige Berechnungen, warf die Fetzen in den Papierkorb, erhob sich, zündete eine Zigarre an und schlenderte hinaus.

»Kommst du mit ins Freie?« fragte er, als er das Zimmer verließ.

»Nein, danke,« sagte Effie, »ich habe etwas zu tun.«

Sie wartete, bis sie seinen Schritt auf der Veranda hörte, dann stand sie auf und trat an den Schreibtisch.

Sich auf den eben von ihrem Vater geräumten Stuhl setzend, nahm sie einen Bogen Briefpapier und einen Umschlag, tauchte die Feder in die Tinte und begann mit gespreizter Handschrift die Adresse zu schreiben:

 

Mr. Giveen

              Drumboyne
              Die Villa. Bei Cloyne. Irland.

 

Dann drückte sie das Kuvert auf das Löschpapier und versteckte es in der Schreibmappe. Hierauf ergriff sie den Briefbogen, tauchte die Feder nochmals ein und schrieb mühsam und sorgfältig: »Aprilnarr«.

Nachdem sie dieses weise Wort ebenfalls gelöscht hatte, steckte sie den Bogen in den Umschlag und klebte ihn zu. Darauf stand sie vom Stuhl auf, lief ans Fenster, um zu sehen, ob jemand käme, und über diesen Fall beruhigt, eilte sie zurück an den Schreibtisch und stahl eine Freimarke aus dem Schubfach, in dem sie aufbewahrt wurden. Sie klebte sie auf den Brief, steckte diesen Torpedo in die Tasche und ging hinaus, indem sie Norah zurief, sie möge ihr Hut und Mantel bringen, da sie ausgehen wolle.

Miß Grimshaw pflegte alle Tage um diese Stunde einen Spaziergang zu machen und Effie mitzunehmen. Als sie heute von der Besichtigung der Pferde zurückkehrte, fand sie zu ihrem Erstaunen Effie fertig angezogen ihrer wartend.

»Wohin sollen wir gehen?« fragte Miß Grimshaw.

»Lassen Sie uns ins Dorf gehen,« sagte Effie. »Das mag ich so gern.«

Es war ein feuchter warmer Tag; Regen lag in der Luft. Die letzte in diesem Winter anberaumte Jagd der Westsussex-Meute war heute; da das Rendezvous in Rookhurst, das sieben Meilen von Crowsnest entfernt lag, stattfinden sollte, so war es möglich, daß man etwas davon zu sehen bekam.

Als Miß Grimshaw und Effie an der Stelle vorübergingen, wo erstere am Sonnabend eine Schlüsselblume gepflückt und in Mr. Dashwoods Knopfloch gesteckt hatte, bemerkte sie, daß noch mehr Blumen aufgeblüht waren.

»Warum wohl –« sagte Effie, als wäre sie eine Gedankenleserin – »Mister Dashwood schon Sonnabend abreiste?«

»Woher soll ich das wissen,« entgegnete das junge Mädchen, zusammenfahrend. »Weshalb fragst du?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte Effie.

Miß Grimshaw blickte ihre Begleiterin von der Seite an. Der koboldartige Ausdruck, der des Kindes hervortretendes Merkmal während der langen, nur in der Einbildung bestehenden Krankheit gewesen, war fast, aber noch nicht ganz verschwunden; zuzeiten lag noch etwas Altkluges, leise Unheimliches in Effies Wesen und ohne Zweifel besaß sie die Eigenschaft, so treffende Dinge zu sagen, daß sie fast auf übernatürliche Begabung hindeuteten. Papageien haben diese Eigentümlichkeit ebenfalls.

»Wenn ich Ihnen etwas erzähle,« begann Effie plötzlich, »sagen Sie es niemand weiter, nicht?«

»Nein.«

»Sagen Sie ›auf Ehre‹.«

»Auf Ehre.«

»Also ich habe was gehört.«

»Was hörtest du?«

»Ich hörte, wie Mr. Dashwood sagte, er wäre ein Esel.«

»Effie,« fiel Miß Grimshaw hastig ein, »du darfst niemals Dinge wiederholen, die du gehört hast.«

»Nun werden Sie böse!« sagte Effie. »Und Sie wollten doch selbst, daß ich es sagte.«

»Das wollte ich nicht.«

»Doch. Sie sagten, ›was hörtest du?‹«

»Ja, aber ich wußte nicht, daß es etwas sei, das Mr. Dashwood gesagt hat.«

»Warum soll ich nicht erzählen, was er sagt?«

»Ach, meinetwegen kannst du es erzählen, wenn du Lust dazu hast. Mir ist es einerlei. Wo hörtest du ihn sprechen?«

»In seiner Schlafstube, während er seinen Koffer packte. Papa war bei ihm; die Tür stand offen und ich hörte, wie Mr. Dashwood das sagte und wie Papa sagte, es wäre noch nie ein Mädchen erschaffen, dem sich kein andres vergleichen ließe, und Mr. Dashwood sollte sich nicht ärgern –«

»Mehr brauchst du mir nicht zu erzählen.«

»Das kann ich auch gar nicht, denn Norah kam und ich lief weg.«

»Wo warst du?«

»Ich horchte an der Tür.«

»Nun, du bist jedenfalls offenherzig.«

»Was heißt das?« fragte Effie.

»Das heißt, daß du Prügel verdientest. Komm, laß uns weitergehen. Aber hörst du, Effie, du darfst niemand etwas hiervon erzählen. Hast du schon mit jemand darüber gesprochen?«

»Nur mit Norah.«

»Was meinte sie?«

»Sie lachte nur.«

Miß Grimshaw hatte die Empfindung, als ob sie durch eine Wolke der Schamröte dahinwandle. Glücklicherweise war niemand da, der sie sah. Bobby Dashwoods außergewöhnliches Betragen auf der Brücke war nichts, absolut nichts im Vergleich mit der Tatsache, daß er es Mr. French mitgeteilt hatte. Zu küssen, wegzulaufen und es zu erzählen!

Der Weg zum Dorf hinan führte durch eine doppelte Reihe von Pappeln und bog bei der Dorfpumpe in die Römische Straße ein.

»Gehen Sie zum Postamt?« fragte Effie, als sie sich der Straße näherten.

»Nein. Ich habe da nichts zu tun.«

»Ich hörte Papa sagen, er brauche Postkarten.«

»Ich habe mein Portemonnaie vergessen, also kann ich sie erst morgen holen.«

»Könnten sie nicht auf die Rechnung geschrieben werden?«

»Nein. Postämter geben keinen Kredit.«

Effie hing sich liebevoll an den Arm ihrer Gefährtin. Gerade als sie die Dorfstraße erreichten, trug der Wind den dünnen nichtssagenden Klang eines Jagdhorns herüber.

»Da ist die Meute,« sagte Effie und kaum hatte sie die Worte gesprochen, als die rotgekleideten Gestalten des Masters und der Piköre, die Meute und hinter der Meute die übrigen Reiter oben auf der Anhöhe zum Vorschein kamen.

Der Fuchs war im Blankney-Gehölz zu Bau gegangen und jetzt sollte Fairholts Busch abgesucht werden.

»Kommen Sie,« rief Effie.

Das Kind flog so schnell über die Straße, daß Miß Grimshaw ihr nicht zu folgen vermochte. Hunde und Pferde versperrten den Weg, aber nicht so dicht, als daß sie nicht hätte sehen können, wie Effie nach dem Briefkasten lief und etwas hineinwarf. Als das Gedränge vorüber und die Dorfstraße frei war, ging Miß Grimshaw hinüber.

»Was stecktest du in den Briefkasten, Effie?«

»Nichts,« erwiderte Effie mit einem Lachen.

»Sage das nicht. Ich sah, wie du etwas hineinstecktest. War es ein Stein?«

»Nein,« sagte Effie, »ein Stein war es nicht.«

»Du weißt doch, was mit den Kindern geschieht, die irgendwelchen Plunder in den Briefkasten werfen?«

»Nein.«

»Sie kommen ins Gefängnis.«

»Na, ich komme nicht ins Gefängnis.«

»Ja, sicherlich; und wenn du mir nicht sagst, was es war, so werde ich hineingehen und Mister Chopping bitten, den Kasten zu öffnen und einen Polizisten holen zu lassen.«

Es war Effie, die während der letzten drei Monate angehört hatte, wie die Erwachsenen Mr. Giveen verspotteten und schmähten, sehr witzig vorgekommen, ihm auf eigene Hand einen Schabernack zu spielen. Von den unheilvollen Folgen, die ihre Tat in sich barg, ahnte sie nichts, aber diese plötzliche Interpellation brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie empfand nicht den Wunsch, zu beichten, um so mehr, da sie die Freimarke gestohlen hatte.

»Tun Sie's nicht,« bat Effie, blaß werdend.

»Doch! wenn du es nicht sagst.«

»Na, es war nur ein Brief.«

»Ein Brief?«

»Ja.«

»Wer gab ihn dir?«

Diese Frage gab Anlaß zu einer Lüge.

»Papa.«

»Nun, wenn er ihn dir gab, warum verstecktest du ihn und brachtest ihn so heimlich zur Post?«

»Papa sagte mir, Sie dürften ihn nicht sehen.«

Effie war keine Lügnerin von Natur, aber Kinder – und auch Männer – haben manchmal ihren schwarzen Tag, was die Moral anbelangt, und heute hatte Effie einen sehr schwarzen. Sie war am Morgen mit einer Neigung zur Naseweisheit aufgewacht; eine leichte Unpäßlichkeit hatte sie verdrießlich gestimmt und Verdrießlichkeit pflegte sich bei ihr in dummen Streichen zu äußern. Diesen pathologischen Zustand ausnutzend, bewog der Teufel sie, Mr. Giveen in den April zu schicken, zu stehlen und zu lügen.

»Oh!« sagte Miß Grimshaw.

Sie verließen das Postamt und schlugen den Weg ein, der bergab zur Brücke führte. Sie gingen rasch, wenigstens Miß Grimshaw tat es – Effie mußte fast laufen, um an ihrer Seite zu bleiben.

In der Tat eine nette Geschichte. Seit Monaten hatte sie sich für das Wohl dieses Mannes abgerackert und jetzt zog er ein Kind in sein Vertrauen, gab ihm einen Brief für die Post mit und verbot ihm, ihr etwas davon zu sagen. Noch schlimmer: sie hatte den unbestimmten Verdacht, daß das Schreiben an Mr. Dashwood gerichtet sei und von jener »Affäre« handle. Unbewußt hatte sie ihren Weg nach der Brücke genommen und als sie dort anlangte und sich an derselben Stelle, wo die Sache passiert war, befand, hätte sie vor Verdruß weinen können, wenn die kleine Sünderin nicht dagewesen wäre.

»Sage deinem Vater nicht, daß du mir das erzählt hast, Effie,« sagte Miß Grimshaw, nachdem sie, tief in kränkende Gedanken versunken, sich einen Augenblick auf das Brückengeländer gelehnt hatte.

»Nein,« antwortete Effie, »ich will es nicht sagen.«

Miß Grimshaw nahm ihre Betrachtungen wieder auf und Effie hing sehr still und kleinlaut an ihrer Seite und blickte ebenfalls auf den Fluß hinunter.

Violet gehörte zu jener Art von Menschen, die leicht einen im Zorn versetzten Schlag, aber keine Nichtachtung oder eingebildete Nichtachtung verzeihen. French hatte sie gekränkt und sie würde ihm nie vergeben. Sie hatte ihm geholfen, für ihn geplant und Komplotte geschmiedet, und dies war das Ende! Es blieb nichts übrig, als The Martens so schnell wie möglich zu verlassen und nach London zurückzukehren; und an dem Groll, den sie empfand, erkannte sie erst, welch inniges Band sie mit den Interessen dieser Leute verknüpfte – ein Band, das zerrissen und gelöst werden mußte. Das sagte sie sich in fieberhafter Gereiztheit, während sie auf der niedrigen Brüstung lehnte und auf den Fluß hinunter blickte, indessen Effie Mörtelstückchen aus den Ritzen zwischen den Steinen brach.

Am meisten erbitterte sie vielleicht Frenchs von Effie hinterbrachter Ausspruch: »Es gibt kein Mädchen, dem kein andres zu vergleichen wäre –« oder so ähnlich.

In The Martens wurde das Mittagbrot frühzeitig eingenommen. Als Mr. French um halb zwei Uhr von einem Spaziergang über die Höhen zurückkehrte, stand das Essen bereit. Während der Mahlzeit schien Miß Grimshaw an einer Stummheit zu leiden, die sich nicht nur auf ihre Sprache, sondern auch auf ihr Benehmen erstreckte; ihre Bewegungen waren steif, ausdruckslos und förmlich, sie gönnte Mr. French keinen Blick und widmete sich ganz Effie, die ebenfalls einen niedergeschlagenen Eindruck machte.

Beim Tee war die Stimmung unverändert.

Nach dem Tee zündete Mr. French sich eine Zigarre an und ging auf die Veranda, um dort zu rauchen.

Er begriff nicht, was das alles bedeuten sollte. In dem Zeitraum weniger Stunden mußte etwas geschehen sein, das diese Veränderung in dem Mädchen hervorgerufen hatte. Was konnte es sein? Um elf Uhr schien alles in Ordnung und um halb zwei war sie wie ausgewechselt.

Er war nicht der Mann, der ein Mißverständnis walten läßt, ohne dessen Ursache zu ergründen, und nachdem er seine Zigarre halb aufgeraucht hatte, begab er sich ins Wohnzimmer, wo das junge Mädchen in eine Sofaecke zurückgelehnt saß und im »Punch« blätterte.

»Hören Sie,« sagte French, »was ist los?«

»Pardon, wie sagten Sie?« fragte Miß Grimshaw, während sie sich aus ihrer bequemen Stellung halb aufrichtete.

»Was ist los? Irgendetwas stimmt nicht. Habe ich etwas verbrochen oder was ist es?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Es ist nichts geschehen, wovon ich etwas wüßte.«

»Na also,« sagte French, in ihrer Nähe Platz nehmend. »Wissen Sie, ich dachte, da Sie so still waren, daß Ihnen vielleicht etwas nicht recht sei oder daß ich gar irgendetwas getan hätte, das Ihnen mißfiele. Wenn das der Fall ist, so bitte ich, es mir zu sagen.«

Miß Grimshaw hatte sich erhoben und wandte sich jetzt der Tür zu.

»Was Sie unter ›nicht recht‹ verstehen, weiß ich nicht. Ich nenne leere Ausflüchte nicht recht. Vielleicht irre ich mich – es ist alles Ansichtssache, nehme ich an, aber jedenfalls ist es nicht der Rede wert.«

Damit ging sie hinaus und überließ es dem erstaunten Mr. French, sich mit dem Problem zu amüsieren, wie und gegen wen er leere Ausflüchte gebraucht habe.

Beim Abendessen erschien sie nicht und ließ sich mit Kopfschmerz entschuldigen.

Um neun legte sie sich zu Bett.


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