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Siebzehntes Kapitel.
Der Kuß

Was gibt's?« fragte Mr. Dashwood.

»Ärger!« erwiderte Miß Grimshaw. »Lesen Sie dies.«

Dabei gab sie ihm eine sauber bedruckte, in der Mitte zusammengefaltete Karte, die wie ein Ballprogramm aussah. Beinahe vier Monate waren vergangen. Die Frenchs hatten sich in The Martens eingelebt. Die ganze Nachbarschaft hatte bei ihnen Besuch gemacht, verschiedene kleine Diners hatten in der Villa stattgefunden, und Garryowen entwickelte sich wie ein Traum. Das Trainieren eines Pferdes ist mit dem Malen eines Bildes zu vergleichen. Die Sache nimmt zu an Geist und Gestalt, etwas Persönliches kommt darin zum Ausdruck und der Stolz eines Künstlers ist dem Stolze eines Trainers nicht unähnlich. Wenn man sieht, wie Schnelligkeit, Ausdauer, Kraft und Mut sich mehren, so empfindet man genau wie der Künstler, der eines Morgens seine Leinwand enthüllt und sich sagt: »Oh ja, gestern habe ich ein paar gute Töne aufgesetzt.«

Wenn French an trüben stillen Wintermorgen beobachtete, wie Garryowen und die Katze geritten wurden, genoß er wahre Freude am Leben. Manchmal erschienen junge Damen aus Crowsnest am Rande der Bahn, um Mr. Frenchs »liebe« Pferde zu sehen. Sie ahnten nicht, wieviel diese Liebe ihn kostete.

*

Mr. Dashwood betrachtete die Karte.

Sie enthielt das Programm und die Satzungen eines kleinen Dichterklubs, dessen Vorsitzende Miß Slimon war. Jedes Mitglied war verpflichtet, monatlich ein Gedicht über ein vorgeschriebenes Thema zu machen oder zu entwerfen und das Ergebnis an Miß Slimon einzusenden, die die Prüfung übernahm. Aber damit war die Sache nicht erledigt. Miß Slimon pflegte, kraft ihres selbstgeschaffenen Amtes, das Gedicht jedes Mitglieds seinerzeit an die andern Mitglieder zur Kritik zu schicken, und das Resultat wurde am Jahresschluß bekannt gemacht und in einer kleinen Broschüre veröffentlicht. Der Beitrag war eine Guinee und Miß Grimshaw hatte die Aufforderung erhalten, diesem Verein für Verbreitung von wertlosem Geschreibsel beizutreten. Daher der Ärger.

»Sie fragte mich, ob ich Gedichte liebe und ich Törin antwortete ›ja‹, ohne mir etwas dabei zu denken. Darauf bat sie mich, dem Verein beizutreten, und ich willigte ein. Nun kann ich nicht wieder zurückzoppen. Sie hat mir gar nicht gesagt, daß der Beitrag eine Guinee sei –«

»Ein verwünschtes Pech,« erwiderte Mr. Dashwood, der die Geldsorgen der Frenchs allmählich bis ins Kleinste kannte und der augenblicklich selber unter schrecklichster Armut litt, ein Zustand, der das Lösen seines Billetts nach Crowsnest (er fuhr jede Woche einmal dorthin) schon zu einer Sache von Bedeutung machte.

»Und das ist nicht alles,« fuhr Violet fort. »Es steht jetzt auch ein Bazar bevor, und selbstverständlich müssen wir uns auf irgendeine Weise daran beteiligen. Man wünscht, daß ich einen Tisch übernehme. Sie haben wohl keine Tanten oder sonst jemand, der Stickereien dafür liefern würde? Am 5. April geht die Sache vor sich.«

»Nein,« sagte Mr. Dashwood, »ich glaube, ich habe keine weiblichen Verwandten, die etwas in Handarbeiten leisten. Aber ich besitze eine wohltätig gesinnte ältliche Cousine, der ich vielleicht einen Geldbeitrag abzwacken könnte.«

»Geld würde nicht sicher bei mir sein. Einerlei. Ich glaube doch, es wird sich irgendwie machen lassen. Wollen Sie mit mir ausgehen?«

»Und ob,« entgegnete Mr. Dashwood, indem er seinen Hut nahm und ihr auf die Veranda folgte.

Es war ein klarer Märzmorgen; der Himmel war völlig wolkenlos und ein Hauch von Frost lag in der Luft. Das noch halb im Winterschlaf ruhende Land zeigte den ganzen Zauber eines englischen Vorfrühlingstages und ein Etwas in der Luft und im Himmel – ein unnennbares Erschauern im Herzen der Dinge raunte jedem, der hören konnte, geisterhaft zu: »All dies nähert sich seinem Ende. Schon jetzt findest du Schlüsselblumen hier und dort im Walde. In ein bis zwei Wochen findest du Millionen. Meine Türen sind im Begriff, sich zu öffnen, der Kuckuck putzt sein Gefieder zum Fluge, in Luxor und Karnak träumen die Schwalben von den Tannen des Nordens. Ich bin der Frühling.«

Mr. Dashwood neigte nicht zu poetischen Auslegungen von Naturstimmungen, aber es lag heute etwas in der Luft, das die chronische Krankheit, an der er seit Monaten litt, in ein akutes Stadium eintreten ließ. Während der letzten zehn Wochen war er sehr viel mit seiner Begleiterin zusammen gewesen, aber mannhaft und tapfer hatte er an dem Übereinkommen festgehalten und über seine tödliche Erkrankung vor deren Urheberin kein Wort laut werden lassen. Aber selbst Geduld hat ihre Grenzen, so konnte es nicht weiter gehen; doch wie sollte er ein Ende machen? Seit jener Unterredung im Shelbourne-Hotel hatte French nichts gesagt; und wenn zwei Männer einmal ein derartiges Thema haben fallen lassen, ist es entsetzlich schwer, es wieder aufzunehmen. Was beabsichtigte French? Wollte er Miß Grimshaw die »Frage« nicht stellen, bevor das Rennen gewonnen oder verloren war? Keine Frist war festgesetzt. »Ich gebe Ihnen freies Feld ohne weitere Vorteile,« hatte French gesagt. »Hat sie Sie lieber als mich, dann gut; zieht sie aber mich vor, um so besser.« Das war alles recht schön, aber wen hatte sie lieber? Diese Frage verlangte jetzt energisch eine Antwort. Nur Miß Grimshaw konnte sie geben, aber wer sollte sie fragen? Keine dritte Person durfte es tun. Nur einer der beiden Bewerber konnte die Frage an sie richten, und tat er das, so machte er ihr einen Antrag und das würde unehrlich sein.

Natürlich wäre es eine anscheinend einfache Lösung der Schwierigkeit gewesen, vor French hinzutreten und zu sagen: »Hören Sie, ich kann dies nicht länger aushalten. Ich bin derartig in das Mädchen verliebt, daß ich reden muß. Welche Absichten haben Sie?«

Anscheinend leicht und dennoch unsagbar schwer. Damals im Shelbourne hatte Dashwood in einem jener Vertrauensausbrüche gesprochen, denen Männer nur selten nachgeben. Kalten Blutes das Thema wieder anzuschneiden, erschien fast unmöglich. In den letzten Monaten hatte er nicht nur das Mädchen besser kennen gelernt, sondern auch eine gänzlich neue Ansicht von French gewonnen. Dashwood sah in dem liebenswürdigen, leichtsinnigen Mann nicht mehr einen guten Bekannten, sondern einen Freund, eine Art von väterlichem Verwandten. Der Unterschied in den Jahren trat stärker hervor, je mehr ihre Bekanntschaft sich befestigte; auch hatte French ein onkelhaftes Benehmen angenommen. Das Wohlwollende und Väterliche seiner Natur entwickelte sich ihm selbst unbewußt; er gab Bobby beständig gute Ratschläge, warnte ihn vor dem Unheil des Schuldenmachens, hielt sich selbst als abschreckendes Beispiel vor und so weiter und hatte in den letzten zehn Wochen der Dame gegenüber keine Symptome besonderer Gefühle gezeigt. Wollte auch er ehrliches Spiel spielen oder hatte er seine Absichten auf sie gänzlich vergessen? Oder war er so von dem Pferde und seinen Geldsorgen hingenommen, daß er augenblicklich keine Zeit hatte, an irgendetwas andres zu denken?

»Ist es nicht herrlich?« sagte Miß Grimshaw.

»Was?« fragte Bobby, aus seinen verwickelten Gedanken in die Wirklichkeit zurückkehrend.

»Alles – die Luft, die Landschaft. Sehen Sie! da ist eine Schlüsselblume.«

Sie wanderten den Fußweg entlang, der von The Martens ins Tal hinabführte. Eine blaßgelbe, an einer geschützten Stelle des Abhangs stehende Primel hatte Violets Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und sie bückte sich, um sie zu pflücken.

»Nun wollte ich, ich hätte es nicht getan. Wie abscheulich sind wir! Kaum sehen wir eine Blume, so möchten wir sie pflücken, oder einen Vogel, so möchten wir ihn schießen. Diese Schlüsselblume hätte noch tagelang leben können, wenn ich sie in Ruhe gelassen hätte, und nun wird sie in ein paar Stunden verwelkt sein. Hier!«

Sie blieb stehen und befestigte die Blume in Mr. Dashwoods Knopfloch. Sie berührte ihn und war ihm so nahe, ihr Filzhut strich fast über sein Gesicht hin. Niemand war in der Nähe; es war der psychologische Augenblick und dennoch mußte er ihn vorübergehen lassen.

»Danke,« sagte er.

Den hübschen Kopf leicht zur Seite geneigt, betrachtete Miß Grimshaw die Blume sekundenlang mit kritischem Blick.

»Sie wird ohne Nadel festsitzen,« erklärte sie. »Kommen Sie, sonst bin ich nicht zur rechten Zeit im Postamt. Nein, danke, ich kann den Brief sehr gut tragen. Ich habe sehr gern etwas in der Hand. Warum fühlt der Mensch sich immer unbehaglich, wenn er nichts in der Hand hält? Sehen Sie, da ist Miß Slimons Haus, The Ranch. Sie ist riesig reich und entsetzlich geizig und lebt dort mit drei Dienstboten, die sie beständig wechselt. Ich weiß nicht, weshalb, es sei denn, daß sie die Dichtungen rauben. Sonst gibt's da nicht viel zu stehlen, denn sie ist Vegetarianerin und ernährt sich für einen Schilling den Tag; die Leute bekommen Kostgeld. Und ich muß ihr für den Dichterklub von meinem sauerverdienten Geld eine Guinee geben. Effie soll die Gedichte für mich schreiben, damit das Kind etwas zu tun hat. Da liegt The Roost, Oberst Creeps Haus. Das waren die Menschen, die uns zuerst besuchten – von den andern ausgesandt als Spione, die das Gelände erkunden sollten. Wissen Sie, für eine Sache habe ich Ihnen noch nie gedankt.«

»Nein? was ist es?«

»Entsinnen Sie sich Ihrer vorsorglichen Idee, mich als Mister Frenchs Nichte auszugeben? Nun, die Wohltat Ihrer freundlichen Absicht habe ich nie so sehr empfunden als an dem Tage, an dem die Creeps uns ihren Besuch machten und unser Wohnzimmer betraten – drei Mädchen, die weißen Schnecken gleichen, gefolgt von einem alten Herrn, der wie ein weißer Kakadu aussieht. Es war so angenehm, zu wissen, daß sie mich geistig und gesellschaftlich für jemand ihresgleichen hielten, und so angenehm, zu denken, daß sie unrecht hatten.«

»Unrecht!« rief Dashwood auffahrend. »Das will ich meinen, daß sie unrecht hatten. Sie waren nicht wert, Ihre Schuhe zu putzen!«

»Vielleicht war das meine Ansicht, von meinem Standpunkt aus,« erwiderte Miß Grimshaw bescheiden, »und vielleicht auch nicht. Jedenfalls entbehrte die Situation nicht der Komik. Unsere Beziehungen zur Crowsnester Gesellschaft sind eine Art andauerndes Lustspiel. Sie kennen alle unsre Angelegenheiten, aber Sie wissen nichts von dem Drum und Dran, wie die wilden Irländer der Berge –«

»Na?«

Miß Grimshaw lachte. »Erinnern Sie sich des kleinen Mittagessens, das Mr. French – mein Onkel, meine ich – im Januar Oberst Bingham und den Smith-Jacksons gab?«

»Ja.«

»Entsinnen Sie sich, wie Oberst Bingham die Fasane lobte? Nun, es waren seine eigenen.«

»Seine eigenen Fasane?«

»Moriarty hatte gewildert.«

Mr. Dashwood brach in schallendes Gelächter aus.

»Ich wußte es damals nicht,« fuhr Miß Grimshaw ehrbar fort. »Die Einkäufe hatte ich Mrs. Driscoll anvertraut. Ich setzte ihr privatim auseinander, daß wir sehr sparsam sein müßten. Sie begriff sofort. Das muß man den Irländern lassen, daß sie schneller auffassen, als irgendwelche andre Leute, die ich kenne. Sie sagte, daß sie mit zwei Pfund zehn Schilling die Woche auskommen könne, und sie hat Wort gehalten; noch mehr, sie hat sogar etwas erübrigt. Ich bin nicht bewandert in den Preisen der Eßwaren, aber trotzdem erschien mir ein Fasan zu einem Schilling sehr wohlfeil. Natürlich vermutete ich, daß sie mit einem Mann in Verbindung stünde, der die Dinge auf irgendeinem verbotenen Wege beschaffte, und es war vielleicht sehr schlecht von mir, aber – die Fasane schmeckten so schön. Dann das Gemüse –«

»Gemüse kann man doch nicht wildern!«

»Ich glaube, ich sagte schon,« sprach Miß Grimshaw weiter, »daß Irländer die Dinge schneller in sich aufnehmen als alle andern Menschen, und ich fürchte, Moriarty hat nicht nur alle Kartoffeln, sondern auch die Rüben aufgenommen, die diesen Winter auf unsern Tisch gekommen sind.«

Mr. Dashwood lachte wieder laut auf. »Herrgott! Zu denken, daß der alte Bingham seine eigenen Puter futterte –«

»Fasane, meinen Sie. Sprechen Sie nicht von Putern, denn seit Weihnachten haben wir drei gehabt und ich habe keine Ahnung, was die Leute diese ganze Zeit gegessen haben, aber eins weiß ich: gestern zum Abendbrot hatten sie Hasenpfeffer –«

»Wann haben Sie dies alles entdeckt?«

»Gestern morgen ging mir zuerst ein Licht auf. Wissen Sie, ich bewunderte schon lange, wie Mrs. Driscoll es möglich mache, solch gutes Essen für zwei Pfund zehn Schilling die Woche zu liefern. Sie bezahlt damit Kolonialwaren und alles weitere. Nun also, gestern morgen brachte sie mir sechs Pfund, die sie vom Haushaltungsgeld ›gespart‹ habe; sie sagte, der ›gnäd'ge Herr‹ könne das Geld vielleicht brauchen. Ich muß sagen, es war ein wahres Gottesgeschenk, aber mir kam die Sache mehr als sonderbar vor und ich versuchte, sie ins Kreuzverhör zu nehmen. Aber es war zwecklos. Sie schwor, daß sie das Geld seit Monaten zusammengespart habe – schon ehe wir von Drumgool fortzogen – also konnte ich nichts weiter sagen. Gestern abend erreichten die Dinge nun ihren Höhepunkt. Ich lag im Bett; es war lange nach elf und der Mond schien sehr hell, als ich ein Geräusch auf dem Hof hörte. Mein Fenster blickt auf die Stallgebäude. Ich stand auf, guckte durch die Vorhänge und sah Moriarty und Andy, die ein Schaf zwischen sich hatten. Sie bemühten sich, es in einen der Stände zu bringen, und es hatte augenscheinlich keine Lust, hineinzugehen. Nicht wahr, wenn man ein Schaf auf diese Weise gegen seinen Willen antreibt, so blökt es?«

»Gewiß.«

»Nun, dies Schaf blökte nicht – das Maul war ihm verbunden.«

Mittlerweile hatten sie das Postamt erreicht. Miß Grimshaw blieb stehen, um ihre Briefe in den Kasten zu werfen; dann entsann sie sich, daß sie Freimarken und ein Paket Haken und Ösen brauche, und trat in den kleinen Laden, indem sie Mr. Dashwood seinen Betrachtungen überließ.

Es war ein sehr kleines Geschäft, das emsig mit dem italienischen Warenhaus konkurrierte. Auch Stiefel wurden hier verkauft; mit plumpen Nägeln beschlagene Schuhe hingen in Bündeln von der Decke und ein lebhafter Weißwarenhandel wurde an einem Ladentisch betrieben, der einen rechten Winkel zu einem andern bildete, an dem Büchsenlachs und Tee verkauft wurden.

Mr. Chopping, dem dies Reich gehörte, war ein blasser, schmeichlerischer, schwindsüchtiger Mann, der die fürchterliche Angewohnheit besaß, sich die Hände mit unsichtbarer Seife zu waschen, sobald irgendwelche Herrschaften im Wagen vor seinem Laden vorfuhren – für einen Engländer ein Zeichen geistiger und moralischer Verderbtheit, das man übrigens nur noch selten antrifft. Zu Anfang und Mitte der Regierung Königin Viktorias, zur Zeit der kleinen Geschäfte und kleinen Hotels war dies Benehmen allgemein gang und gäbe; noch heute finden sich hier und dort in England Spuren davon, und wenn es einem entgegentritt, bekehrt es einen fast zum Sozialismus.

Mr. Chopping wusch seine Hände für Miß Grimshaw, denn obwohl die Frenchs keinen Wagen hatten, so besaßen sie doch Pferde und gehörten zur Crowsnester »Gesellschaft«. Miß Grimshaw überlegte, ob Mr. Chopping seine Hände wohl auch so energisch waschen würde, wenn er über alles orientiert gewesen wäre.

Hinter dem Schnittwarentisch hing eine große Ankündigung des bevorstehenden Bazars, der eine Art Schreckgespenst für Violet geworden war. Trotz anderweitiger Ablenkungen arbeitete sie eine Tischdecke für den Verkauf und Effie stickte eine Teemütze. Wenn die Veranstaltung mißglückte und die nötige Summe für die Wiederherstellung der Chorstühle in der Kirche nicht einging, so würde sicherlich eine Sammlung folgen, und das Geld war entsetzlich knapp und wurde mit jedem Tag knapper. Bisher war alles wunderbar gut gegangen – dank dem Glücke Mr. Frenchs. Dieser unselige Mann, dessen Taschengeld unter Miß Grimshaws gestrenger Herrscherhand nur zehn Schilling die Woche betrug, hatte es fertig gebracht, damit auszukommen. Noch mehr, er trug den Mantel der Armut auf solche Weise, daß er wie ein Gewand des Überflusses erschien. Mr. Frenchs heiteres Lachen, sein helles Auge und fröhliches Gesicht ließen die wenigen in seiner Tasche klimpernden Kupfermünzen wie Goldstücke klingen. Er spielte Bridge mit derartigem Erfolg, daß es ihm gelang, sich über Wasser zu halten, und der eigenartige Reiz seiner anregenden Persönlichkeit machte ihn überall beliebt.

»Sollen wir umkehren oder einen kleinen Spaziergang auf der Landstraße machen?« fragte Miß Grimshaw, als sie das Postamt verließ und wieder mit ihrem Kavalier zusammentraf.

»Einen Spaziergang auf alle Fälle,« entgegnete Mr. Dashwood. »Lassen Sie uns hier entlang gehen. Nun erzählen Sie mir weiter von dem Schaf.«

»Ach, das Schaf! Ja, es war da und wehrte sich im Mondenschein; die beiden versuchten es in den Stand neben der Box der ›Katze‹ hineinzuschleppen, und es gelang auch. Andy schob von hinten nach und Moriarty zog das Tier am Kopf. Dann machten sie die Tür zu –«

»Und?«

»Die Geschichte ist aus. Ich sah das Licht einer Laterne durch die Türritzen schimmern und hatte die Empfindung, als ob ich Helfershelfer – heißt es nicht so? – bei einem Mord geworden wäre. Natürlich sprach ich heute morgen mit Mrs. Driscoll und tadelte sie geradeheraus wegen der Sache, aber sie schwor, daß sie nichts davon wisse. Jedenfalls sagte ich ihr, so etwas dürfe nicht wieder vorkommen, und ich glaube, ich habe ihr Angst gemacht.«

»Der Kerl – Moriarty – muß das Wildern verstehen,« sagte Mr. Dashwood.

»Verstehen ist nicht das richtige Wort, wenn er alles getan hat, weswegen ich ihn in Verdacht habe. Es ist eine höchst sonderbare Lage, denn ich glaube, die Leute sehen ihr Unrecht nicht ein. Wissen Sie, sie betrachten die hiesigen Menschen wie Feinde und Sussex wie Feindesland, und wirklich, sie haben noch viel von den ursprünglichen Wilden an sich. Neulich fand ich in der Küche einen eingekerbten Stock, der Norah gehörte. Jeder Einschnitt bedeutete eine Woche, die sie hier verlebt hat.«

»In alten Zeiten pflegte man das beim Kricket zu tun, um jeden Lauf zu markieren. Ich habe noch einen alten Landmann gesehen, der es tat; man sagte, er sei hundertundvier Jahre alt.«

»Lassen Sie uns hier einen Augenblick bleiben,« sagte das junge Mädchen. Sie waren auf der Römischen Straße bei der kleinen Brücke am Fuße der Anhöhe angelangt. Der sich kräuselnde Fluß glitzerte so lebendig wie im Sommer, aber alles andre war tot – oder schlief. Welkes, ins Flußbett hinuntergewehtes Laub schwamm auf dem Wasser oder häufte sich hier und da in den Höhlungen der Steine. In den Hölzungen lagen die Blätter als brauner Teppich zu Füßen der Bäume, deren hohe Stämme weiten Einblick gewährten. Von den kahlen Zweigen, die ein braunes Netzwerk vor dem blauen Märzhimmel bildeten, drang hin und wieder ein vereinzeltes Vogelzwitschern herüber; kein Windhauch bewegte die Zweige und die Stille eines Stereoskopbildes lag über der Gegend. Im Sommer von Poesie und Schönheit durchtränkt, war dies Stückchen Erde niemals öde und an einem Tag wie heute von wunderbarem Reiz.

Die Versuchung steigt und fällt gleich einer Welle. Das fast überwältigende Verlangen, das Mädchen in die Arme zu schließen und zu küssen, das Mr. Dashwood schon vorhin überfallen hatte, kehrte jetzt allmählich wieder. Violet stützte sich mit den Ellbogen auf das Brückengeländer. Ihr sich von den Bäumen zart abhebendes klargeschnittenes Profil, den anmutigen Linien einer Kamee vergleichbar, fesselte Mr. Dashwoods Blick.

Alles hier unten war heute übernatürlich still. Das uralte Schweigen der Römischen Straße schien sich über das Land ausgebreitet zu haben, wie ein Strom seine Ufer überflutet; das Gurgeln und Murmeln des unter der Brücke fließenden Wassers diente nur dazu, diese Stille zu betonen und auf ihre Intensität aufmerksam zu machen.

»Woran denken Sie?« fragte Mr. Dashwood.

Das junge Mädchen fuhr aus ihrem Nachsinnen auf und warf einen Seitenblick auf ihren Begleiter, einen jener flugartig schnellen Blicke, deren kurze Dauer bedeutungsvoll ist. Mr. Dashwood hatte gesprochen. In diesen drei Worten war ihm sein Geheimnis entschlüpft. An und für sich lag nichts in den Worten, aber in dem Ton desto mehr. Sie waren drei Boten, deren jeder eine Botschaft trug. Drei Gedichtbände hätten ihr nicht mehr sagen können, und ich bezweifle, ob sie ihr so viel gesagt haben würden.

Sie wandte ihre Augen wieder von ihm ab dem Flusse zu.

»Ich weiß nicht. An nichts. Das ist der Reiz dieser Stelle. Ich komme oft her, lehne mich aufs Geländer und blicke aufs Wasser. Es ist, als ob es einen hypnotisiere und von der Notwendigkeit des Denkens befreie. Haben Sie die gleiche Empfindung, wenn Sie hinuntersehen?«

»Nein,« sagte Mr. Dashwood, »aber ich gäbe alles darum, sie zu haben.«

Sie warf einen zweiten schnellen Blick auf ihn. Sein veränderter Ton versetzte sie in Staunen. Seine Stimme klang hart und fast gereizt; er sprach wie ein Mann, der sich über irgend etwas ärgert und die Worte an sich waren auch nicht gerade schmeichelhaft. Violet konnte nicht begreifen, was in ihm vorging. Die ganze Zeit seit seiner Rückkehr nach Drumgool, während ihre Gedanken sich um Mr. Frenchs verwickelte Angelegenheiten drehten, hatte ein Teil ihres Geistes sich dennoch mit dem ebenfalls schwer zu entwirrenden Problem beschäftigt, das Mr. Frenchs und Mr. Dashwoods Benehmen darbot. Wenn sie sich mit ihrem angeblichen Onkel allein befand, gab es Tage, an denen er anscheinend nahe daran war, zu ihr zu reden in der althergebrachten Sprache, die schon vor Urzeiten zwischen Mann und Weib gesprochen ward. Zuzeiten däuchte es ihr, wenn sie mit Mr. Dashwood allein war, als sollte dasselbe Naturphänomen sich ereignen. Aber es kam nie dazu. French erinnerte sich scheinbar an irgendetwas, hielt inne, schlug ein andres Thema an und ging mit der Ungeschicklichkeit eines Schauspielers, der eine ihm unsympathische Rolle spielt, von Wärme zu Gleichgültigkeit über. Dashwood, ein noch schlechterer Schauspieler als French, pflegte – wie eben jetzt – aus einer nicht ersichtlichen Ursache plötzlich fast unhöflich zu werden.

Von der Stellung der beiden Männer zu einander und der Tatsache, daß sie sich als Gegner betrachteten in einem Spiel, dessen Ehrensatzungen innegehalten werden mußten, ahnte Miß Grimshaw nichts und deshalb verwandelte ihre Belustigung sich allmählich in unklares Erstaunen, wenn diese plötzlichen Temperaturwechsel eintraten, und schließlich ging das Erstaunen in Ärger über.

»Vielleicht,« bemerkte Miß Grimshaw, »fühlen Sie nie die Notwendigkeit.«

»Welche?«

»Nicht zu denken.«

›Da Sie ein Mensch sind, der niemals denkt, wie sollten Sie?‹ – deutete ihr Ton an.

»Oh, ich glaube, ich fühle das ebensogut wie andre Leute,« sagte er. »In dieser Welt, scheint mir, sind die glücklichsten Menschen die, die nicht denken.«

»Wie glücklich müssen einige Leute dann sein,« murmelte sie, indem sie auf das leicht gekräuselte Wasser blickte und so sprach, als vertraue sie diesem ihren spöttischen Ausspruch an.

»Danke,« sagte Mr. Dashwood.

»Wie sagten Sie?«

»Ich sagte nur ›danke‹.«

»Wofür?«

»Für Ihre Bemerkung.«

»Meine Bemerkung?«

»Ja.«

»Was in aller Welt war in meiner Bemerkung, wofür Sie mir zu danken hätten?«

»Es gibt nichts, das ich so hasse,« brach Mr. Dashwood los, »wie falsch angewandten Sarkasmus.«

»Weshalb wenden Sie ihn denn falsch an?«

»Das tue ich nie; ich wende ihn niemals an, also kann ich es auch nicht an falscher Stelle tun. Sie sind diejenige –«

»Was bin ich?«

»Sie sind die, die sarkastisch ist.«

»Ich sarkastisch!« wiederholte das junge Mädchen mit der Miene eines des Diebstahls angeklagten Kirchendieners. »Wann war ich jemals sarkastisch?«

Die Hänflinge in den Bäumen mußten die erhobenen Stimmen gehört haben; die beiden Menschen zankten sich ernstlich. Und dann, als sie sahen, wie der Mann das Mädchen ergriff, flogen sie fort, denn sie meinten ohne Zweifel, daß eine Tragödie mit all ihrem Pomp und Gepränge auf der Römischen Straße Einzug hielte.

Einen Augenblick hatte das überraschte Mädchen das Gefühl, als werde sie über das Geländer gerissen, um im sechs Zoll tiefen Wasser ertränkt zu werden, dann verlor sie das Bewußtsein für alles außer der Umarmung des Mannes, der sie umschlungen hielt. Lippen, Augen und Mund von brennenden Küssen bedeckt, lehnte sie gegen die Brüstung, atemlos und – allein.

Mr. Dashwood war fort. Er hatte sich über die niedrige Einfriedigung des Gehölzes geschwungen und verschwand zwischen den Bäumen. Kein Verbrecher entkam jemals so schnell nach begangener Tat.

»Wahnsinnig! Oh, er ist wahnsinnig!« keuchte sie, halb lachend, nach Atem ringend und den Tränen nahe. Nicht der Ausbruch heftiger Leidenschaft hatte sie überrascht oder erschreckt, sondern die Flucht.

Das summende Geräusch eines den Hügel erklimmenden Autos brachte sie wieder zur Besinnung; als es vorüberfuhr, hatte sie sich gefaßt und blickte, auf das Geländer gelehnt, in den Fluß hinab.

Dann trat sie langsam und in Nachdenken versunken den Heimweg an.


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