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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Meer und Marsch

Der Leser wird sich entsinnen, daß Mr. Giveens Entführung am Abend des fünften April vor sich ging. Frühmorgens am sechsten fuhr Mr. Dashwood mit einem Ruck aus dem Schlafe empor, blickte umher und erinnerte sich des Geschehenen.

Das Landhäuschen enthielt nur zwei Schlaf- und ein Wohnzimmer. Am vergangenen Abend hatte er ein Bett aus einer der Schlafstuben gezogen und es vor die zum Wohngemach führende Tür gestellt; letztere war zugleich der Hauseingang. Hier hatte Mr. Dashwood geschlafen und buchstäblich mit seinem Leibe eine Schranke errichtet, um Giveens Flucht zu verhindern.

Sein erster Gedanke galt seinem Gefangenen, aber das aus dem Schlafzimmer dringende Schnarchen überzeugte ihn von dessen Unschädlichkeit. Die Morgenbetrachtungen, die Mr. Dashwood anstellte, während er vom Bett aus die trübe Dämmerung durch die bleigefaßten Scheiben brechen sah, waren keineswegs vergnüglicher Art.

Dadurch, daß er sich Giveens Person bemächtigt und ihn mit Gewalt aus London nach Essex entführt, hatte er dem Gesetz zuwidergehandelt. Giveen war Frenchs Feind und im Begriff, ihm grausamen Schaden zuzufügen, aber diese Tatsache, das erkannte Mr. Dashwood, würde bei einem Gerichtshof nur leicht ins Gewicht fallen, wenn jener eine Klage wegen Freiheitsberaubung gegen ihn einreichen sollte; und Dashwood fühlte deutlich, daß Giveen trotz seiner Weichlichkeit gerade der Mann war, diesen Weg einzuschlagen. Giveens Verschlagenheit ging deutlich hervor aus der Art und Weise, wie er sich am vorhergehenden Abend benommen hatte. Da er in der Gewalt eines Verrückten zu sein wähnte, hatte er sich der Situation angepaßt und den Harmlosen gespielt, gleich einem Käfer, der sich tot stellt. Außer den düstern Vorahnungen in betreff des Ausganges seiner gesetzwidrigen Maßnahmen bedrückte Mr. Dashwood auch die Aussicht auf ein zehntägiges enges Zusammensein mit Giveen. Aber als Kontrast gegen all diese Unannehmlichkeiten diente ihm der wohltuende Gedanke an den aus jeglicher Not befreiten Mr. French, den das Ziel vor einem geschlagenen Favoriten passierenden Garryowen und schließlich als Bestes, die Vorstellung von Violet Grimshaws Gesicht, wenn er ihr alles mitgeteilt haben würde.

Durch diese Bilder belebt, sprang er aus dem Bett, schob es von der Tür fort und öffnete diese. Auf Meer und Marsch lag jetzt volle Tageshelle; ein kalter, aus Südosten wehender Wind bog das Rispengras nieder und brachte das kühle Geräusch der kleinen sich am Strande brechenden Wellen mit sich; schneeweiße Möwen kreisten und schrieen in der Ferne und am Himmel zogen marmorgraue Wolken eilig vorüber.

Dashwood verschloß die Tür vor diesem düstern Ausblick und widmete seine Aufmerksamkeit dem Feuer.

Von seinem früheren Aufenthalt her entsann er sich, daß damals in dem Nebengebäude zur Seite des Schuppens, in dem er das Auto untergestellt hatte, Kohlen und Brennholz aufgestapelt waren. Er ging hinaus, öffnete die Tür des Nebenhauses und fand in eine Ecke hingeschüttet ein paar Zentner Kohlen und einige Bündel zerkleinertes Holz. Nachdem er einen alten neben den Kohlen stehenden Korb mit Feuerung gefüllt hatte, kehrte er damit ins Haus zurück.

Giveen schnarchte noch immer. Da Dashwood sich nicht nach seiner Gesellschaft sehnte, überließ er ihn seinem Schlummer, während er sich daran machte, ein Feuer anzulegen. Dann nahm er den Proviant aus den Paketen und breitete ihn auf dem Küchentisch aus. Der Vorrat bestand nur aus Büchsenfleisch und Zwieback – sonst nichts, zwei kleine Kruken Oliven ausgenommen; und als Mr. Dashwood die Reihe der Zwiebacktüten und Büchsen betrachtete, gelangte er zu der Überzeugung, daß Miß Hitchen, wenn auch noch so bewandert in Philosophie und Soziologie, von der Führung eines Hausstands nur mangelhafte Kenntnis besitze. Nachdem er eine Büchse mit Zunge geöffnet, einige Zwieback auf einen Teller gelegt und Wasser gekocht hatte – das, wenn man es mit fest geschlossenen Augen ganz heiß trinkt, nicht von Tee zu unterscheiden ist – rief er seinen Gefährten und sie begannen das trostlose Mahl. Giveen, liebenswürdig und sogar heiter, fand augenscheinlich nichts Außergewöhnliches in der Situation, aber sobald Bobby das Gespräch auf Siam hinleitete, lenkte er von dem Thema ab, indessen seine Augen, wie Mr. Dashwood bemerkte, beständig nach der Tür wanderten.

Nach dem Frühstück schrieb Mr. Dashwood den Brief an Mr. French, den wir bereits gelesen haben, steckte ihn in die Tasche für den Fall, daß sich später die Möglichkeit bieten sollte, ihn abzusenden, und machte dann mit seinem Pflegling einen Spaziergang auf der Salzmarsch. Nach Tisch spielten sie Sechsundsechzig mit einem Spiel Karten, das sie in der Schublade des Küchentisches entdeckt hatten, und als an diesem entsetzlichen Tage die Dämmerung hereinbrach, saßen die beiden ohne Kerzen oder Beleuchtung irgendwelcher Art am glimmenden Feuer, Mr. Giveen noch immer liebenswürdig und mild vergnügt.

Hätte er sich störrig und reizbar gezeigt oder sich nach Bobbys Absichten erkundigt, so wäre die Lage erträglicher gewesen; aber er saß unheimlich gefaßt und freundlich da und nichts außer dem verräterischen Umherirren seiner Blicke deutete bei ihm auf Unzufriedenheit mit seinem Aufenthalt, auf Empörung oder gar Fluchtgedanken hin.

Bobbys Uhr war stehengeblieben und Mr. Giveen besaß keine, da die Zeit für ihn keinen Wert hatte; endlich, zu einer unbestimmbaren Stunde, zerrte Mr. Dashwood gähnend sein Bett beim Schein des flackernden Feuers vor die Haustür und sein Gefangener zog sich in sein Schlafgemach zurück, wo er, nach dem das Haus erfüllenden Schnarchen zu urteilen, alsbald in Schlummer versank.

Es war lange nach Mitternacht, als Mr. Dashwood durch draußen ertönendes Geschrei geweckt wurde. Die Wolken hatten sich geteilt und der Vollmond warf sein Licht durch die in Blei gefaßten Fensterscheiben, während Mr. Dashwood sich im Bett aufrichtete und angestrengt horchte.

Giveen rief nach Hilfe, es war seine Stimme. Mr. Dashwood schob das Bett von der Tür fort, öffnete diese und stürzte, ohne sich Zeit zum Ankleiden zu lassen, in die Nacht hinaus.

Das Geschrei kam von der Rückseite des Hauses; er lief dorthin und erblickte die Ursache des Jammers.

Mr. Giveens obere Hälfte ragte aus dem winzigen Schlafstubenfenster hervor; letzteres hatte einen Querbalken besessen, den der Gefangene mit wunderbarer Geduld und Geschicklichkeit entfernt hatte. Es war ihm gelungen, Kopf und eine Schulter nebst Arm durch die Öffnung zu zwängen und nun saß er fest.

»Hilfe!« brüllte Mr. Giveen. »Ich sitze fest.«

»Versuchen Sie es rückwärts,« rief Bobby. »Schieben Sie sich nicht nach vorn, sonst wird es nur schlimmer. Wie kamen Sie darauf, Sie heilige Unschuld, aus dem Fenster hinaussteigen zu wollen? Es ist nicht einmal für ein Kind groß genug. Schieben Sie sich rückwärts

»Rückwärts!« rief der schweißbedeckte Giveen. »Rückwärts oder vorwärts – es ist alles gleich. Ich sage Ihnen, ich sitze fest für alle Zeiten. Hilfe! Mord! Diebe!«

»Dann also vorwärts!« rief Bobby und ergriff den freien Arm, »und lassen Sie das Geschrei. Nun denn, los! Schieben Sie, während ich ziehe.«

»Lassen Sie mich los, oder Sie reißen mir den Arm ab,« schrie der Gepeinigte. »Heilige Maria! Sie ermorden mich! Gehen Sie in meine Stube und ziehen Sie an meinen Beinen, wenn Sie durchaus ziehen wollen. Vielleicht können Sie mich hereinzerren, aber so wahr ich lebe, wenn Sie auch ziehen, bis Sie schwarz im Gesicht sind, 'raus kriegen Sie mich nie.«

»Gut,« sagte Bobby.

Er lief um das Haus herum in das Schlafzimmer, worin es wegen der Verstopfung des Fensters ganz dunkel war, tastete nach den Beinen des Unseligen, fand sie und zog. Lautes Gebrüll draußen in der Nacht war der einzige Erfolg. Zuerst zog er, das Gesicht dem Fenster zugewandt, einen Fuß zur Sicherheit gegen die Wand gestemmt, dann zog er, Giveen den Rücken zukehrend, ein Bein unter jedem Arm, wie ein Pferd in der Deichsel.

»Großer Gott!« sagte Mr. Dashwood endlich, indem er sich aufs Bett setzte und sich den Schweiß von der Stirn wischte. »Ich weiß nicht, was wir mit ihm machen sollen, wenn wir nicht das Haus niederreißen.«


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