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Zwölftes Kapitel


Auf ihrer Terrasse in Cavandone stand Dori an Doktor Strahl gelehnt. Sie schauten zusammen auf das stille, abendlich beleuchtete Tal zu ihren Füßen und nach dem grünen Motterone hinüber, hinter dessen goldschimmerndem Rücken die Sonne im Sinken war. Es war der letzte der lieblichen Tage, die den glücklichen Menschen im einfachen Felsenhaus, in der Stille der sonnigen Berghalde, schnell, wie ein schöner Traum dahingegangen waren.

»Es wird mir schwer, zu gehen«, sagte der Doktor, »wenn ich auch weiß, im Spätsommer kehre ich wieder, dich fortzuholen, um dich nie mehr zu lassen. Wird es dir dann noch schwerer werden, als es mir heute wird, von hier fortzugehen, meine Dori?«

»Mit dir! In dein Haus! Zu unsern Jungen!« erwiderte Dori, und im Ton ihrer Stimme lag die überzeugendste Verneinung. »Wir verlieren ja diese Heimat auch nicht«, setzte sie hinzu, »wir werden immer wiederkommen und immer zusammen, das ist das Schönste.«

Die Mutter Dorothea war vor Wonne darüber, daß es Doktor Strahl war, der ihre Dori haben wollte, noch gar nicht zum Jammern über die Trennung von ihrem Kinde gekommen. Daß dieser Mann, den sie so verehrt und in ihr Herz geschlossen hatte, als er in ihrem Haus in Schuls bei ihr lebte, einst ihr Sohn werden könnte, das hätte sie ja nie ahnen, gar nicht fassen können, hätte man es ihr damals vorhergesagt. Noch jetzt mußte sie sich manchmal fragen: »Ist denn Doktor Strahl wirklich Doris Verlobter, oder habe ich so geträumt?« Zum Bewußtsein, daß es nicht Traum, sondern Wirklichkeit war, brachten sie immer bald wieder die drei Jungen, die bei der allezeit zur Erfüllung aller ihrer Wünsche bereiten Großmutter einen Ersatz dafür suchten, daß der Vater Tante Dori ganz in Beschlag genommen hatte. Die gute Großmutter Dorothea war auch von ihren drei zutraulichen Enkeln so entzückt, daß sie nicht wußte, was sie alles zu ihrer Freude tun wollte. Eben jetzt kam sie mit ihnen und ihrer freudestrahlenden Spielgenossin Marietta vom Abschiedsbesuch oben im Kastanienwald zurück. Alle fünf waren mit Zweigen und Efeu und grünen Ranken über und über beladen. Das sollte alles mit auf die Reise genommen werden, um eine Erinnerung an Cavandone so lang als möglich vor Augen zu haben.

»O, wie schade, Papa, wie schade, daß es der letzte Tag ist«, rief Oskar, auf die Terrasse tretend, und Waldemar und Otto und auch die Großmutter stimmten alle in den Jammerruf ein.

»Eure Mutter hat eben für euch gebeten, ihr Jungen«, sagte der Vater, »nicht für jetzt, das muß einmal sein, daß wir reisen; aber im Spätsommer, wenn ich die Mutter heimholen will, dann sollt ihr mit hierherkommen und hier bleiben mit der Großmutter Erlaubnis, bis wir von unserer Reise wiederkehren und euch hier holen, damit wir alle zusammen in die Heimat einziehen können. Der glückliche Otto allein hat sich von seiner Mutter nicht zu trennen, den will sie hier behalten. Nun bittet die Großmutter um ihre Zustimmung.«

Der Freudenlärm, der jetzt losbrach, war kaum ein Bitten zu nennen, es war ein Frohlocken, das keinen Zweifel kennt.

»O, die Großmutter hat uns schon eingeladen für alle Ferien unseres Lebens«, rief Oskar jubelnd aus, »nicht wahr, Großmutter, das haben wir ausgemacht?«

Die Mutter Dorothea trat zu den Verlobten hin, die Arm in Arm sich an den weinumrankten Pfeiler lehnten: »Ja, lieber Doktor«, sagte sie, ihm die Hand bietend, »wenn Sie mir Dori fortnehmen, so versprechen Sie mir, dagegen meine drei Enkel zu überlassen, so oft nur immer die grimmigen Studien es erlauben.«

»Und Sie von neuem nach ihnen verlangen, liebe Mutter, denn so für alle Zeit darf man Sie nicht beim Worte nehmen«, meinte der Doktor. »Bleibt dann auch für Dori und mich ein Teilchen von Verlangen übrig, so kommen wir auch wieder mit, denn wer wird nicht immer mit Sehnsucht nach Cavandone hin denken, der es einmal kennt.«

Die Mutter drückte ihrem Doktor die Hand: »Wer nach Ihnen und nach unserer Dori das ganze Jahr durch verlangen wird, das wissen Sie wohl«, schloß Dorothea.

Die alte Maja hatte die Wendung in Doris Schicksal so bestimmt vorausgesagt, daß sie in unausgesetztem Triumph darüber blieb, daß alles so gekommen war; denn sie hatte ein Gefühl der Mitwirkung bei der Sache. Daß derjenige, dem Dori angehören sollte, ein ganz besonderer Herr sein müßte, hatte sie immer im Sinne gehabt; auch das war eingetroffen. Maja behauptete, er sehe perfekt dem heiligen Georg in der Kirche gleich, dem hochaufgerichteten Heiligen, mit dem lockigen Haar, den feurigen Augen und der geschwungenen Lanze. Alles war da, nur die Lanze nicht.

Dori hatte an Giacomo geschrieben; der alte Freund sollte von ihr selbst wissen, was ihr weiterer Lebensgang war. Seine Antwort brachte die erfreulichsten Nachrichten. Der Schluß derselben lautete: »Als ich dich in Bordighera verließ, konntest du ärgerlich über mich sein; ich hatte es verdient. Ich hatte eben immer gedacht, es müsse bei uns in Cavandone fort und fort alles so bleiben, wie es war. Ich mochte es eben keinem gönnen, daß er dich allein haben sollte, oder daß dich einer gar von Cavandone fortnehmen dürfe. Nun bin ich schon viel vernünftiger geworden und kann mich freuen, daß du so glücklich bist. Ich bin es auch. Ich habe hier so gute Menschen gefunden, alles Freunde vom alten Gärtner Melchior. Sie haben mich alle empfangen, als wäre ich sein Sohn und so behandelten sie mich von Anfang an als einen Freund. Ich habe Arbeit, so viel ich mir nur wünschen kann, und bin so bezahlt dafür, daß ich ein Herr werde. Das habe ich dir zu danken, wie ich alles, was ich bin und weiß und besitze, dir zu danken habe. Ich sage nur noch eins: Mein ganzes Leben lang wird es mir nicht aus dem Sinn kommen, wie anders alles bei uns geworden ist von jenem Tag an, da du zu uns kamst, als wir keine Mutter mehr hatten. Ich glaube, wir wären alle im Elend verkommen, wenn du nicht eine Mutter für uns geworden wärest.«


Druck von Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft,
Gotha.


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