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Zweites Kapitel


Dori stand in das Lesen eines Briefes vertieft, als am andern Morgen ihre Mutter von einem Gang zur alten Maja hinüber heimkehrte.

»Ich habe sie nicht mehr getroffen, ich muß sie noch einmal aufsuchen, sie war schon nach ihrem Äckerchen gegangen«, berichtete Dorothea. »Nun wieder alles grünt darauf, nimmt sich die Alte vor Freude kaum mehr die Zeit zum Schlafen. Woher die Nachrichten, die du so verschlingst, Dori?«

»Da lies selbst, Mutter«, sagte Dori, als sie zu Ende gekommen war, den Brief Dorothea überreichend. Er war von Doktor Strahl. Er schrieb, fast dürfe er es nicht wagen, mit der Bitte, die ihm jetzt auf dem Herzen liege, an seine hilfreiche Freundin zu gelangen. Einem flehenden Kinde zuliebe tue er es dennoch, obschon er sich selbst sagen müsse, auch mit dem freundlichsten Willen möchte es der Pflegerin der kleinen Schutzbefohlenen unmöglich sein, seinen Wunsch zu erfüllen. Vergebens habe er gehofft, die schönen Frühlingstage würden seinem Otto die langersehnte Stärkung bringen, das Gegenteil sei eingetreten, der Junge werde täglich blasser und matter. Der Arzt hätte für ihn eine Versetzung ans Meer verordnet, erst die Luft, später wohl auch die Bäder zu genießen. Leider sei das Verhältnis des Jungen zu Fräulein Smele derart, daß von ihrem Wesen kein wohltuender Einfluß auf ihn abzusehen wäre, sollte sie als Begleiterin eine längere Zeit allein mit ihm zuzubringen haben. Sein beständiges Flehen sei, der Vater möchte Tante Dori bitten, ihn zu begleiten. Der Arzt habe die Riviera zum Aufenthaltsort vorgeschlagen. Sollte Tante Dori es möglich machen können und für ihren kleinen Freund ein solches Opfer bringen wollen, so würde sie diesem schwere Heimwehtage in eine Zeit der Glückseligkeit verwandeln und seinem gebeugten Vater eine Last vom Herzen nehmen, die ihm von keinem anderen abgenommen werden könnte. Nochmals kam zum Schluß die Versicherung des Doktors, es sei ihm vollständig begreiflich, wenn seine Freundin das ungeheure Ansuchen zurückweisen müsse. Daß er es doch an sie stelle, würde auch sie verstehen, wenn sie die flehentlichen Bitten ihres Pflegekindes hören könnte.

»Was willst du tun, Dori?« fragte die Mutter, den Brief zusammenfaltend.

»Wenn Otto krank ist und nach mir ruft, tu' ich doch nur eines, Mutter, ich gehe«, entgegnete Dori rasch. »Ich bin ja frei, nur eines würde mich jetzt zurückhalten können, wenn du selbst krank wärest.«

»Das bin ich ja nicht, Dori, das nicht, aber diese fremde Gegend und alle die vielen Fremden, die da sind, das macht mir Angst«, sagte Dorothea zaghaft; »ich weiß ja gar nicht, mit wem du zusammen leben wirst, so lange, gewiß monatelang.«

»Daran denk' ich nun gar nicht«, gab Dori fröhlich zurück, »was sind mir die fremden Leute? Ich werde mit meinem Otto leben und nur für ihn; und nun soll Doktor Strahl gleich meine Antwort haben und fühlen, daß ich kein ungeheures Opfer bringe, sondern mich darüber freue, daß sein Otto nach mir begehrt.«

Dori ging, ihren Brief zu beantworten.

Dorothea hatte während der folgenden Tage viel zu kümmern: Wie würde alles kommen? Wenn der Junge nun ernstlich krank werden sollte und Dori hätte ihn an dem fremden Orte allein zu pflegen? Sie würde es natürlich Tag und Nacht tun; wenn sie darüber selbst erkranken würde?

»Dann kommst du und pflegst uns beide, den Jungen und mich, dann sind wir wieder zusammen«, entgegnete Dori heiter auf diese ausgesprochene Besorgnis.

»Nein, lach' nicht, Dori«, sagte die Mutter seufzend, »es ist mir, als habe unser schönes, stilles Leben ein Ende, so als kehre nach dem Wechsel, der nun eintritt, nie mehr das Alte wieder. Nach einer solchen Unterbrechung kommt das Vergangene nie mehr wieder so, wie es gewesen war. Ach Dori, was wird dann kommen?«

»Aber Mutter, wir können doch jetzt gar nicht zweifeln, wie wir handeln sollen und darum auch ganz zuversichtlich bleiben«, erwiderte Dori. »Wir haben diese Unterbrechung unseres gewohnten Lebens nicht herbeigeführt, und ist es denn nicht außer Frage, was ich tun soll, nun der Ruf um Hilfe an mich kommt in dem Augenblick, da mich keine Arbeit hier bindet, und ich mir eben ausgedacht hatte, wie ich meine Kräfte zu etwas Gutem verwenden könnte? Es ist ja gerade wie eine Antwort auf die Frage, die wir noch besprechen wollten, daß ich zum Krankendienst berufen werde. Das ist der Anfang und nachher setzen wir es zusammen fort, Mutter, und du wirst sehen, wer dabei die größte Befriedigung finden wird.«

Dorothea schwieg. Sie hatte selbst die Überzeugung, dem ergangenen Rufe müsse Folge geleistet werden, und wenn zwischen den schweren Gedanken durch das Bild des geängstigten Vaters wieder vor ihren Augen aufstieg, dann drängte sie selbst die Tochter, dem bekümmerten Freunde bejahende Antwort zu schicken. Das tat Dori, denn sie war fest überzeugt, daß es der Mutter keine Ruhe ließe, wenn auf ihre Bedenken hin die Sache abgelehnt würde. Eine Woche nachher kam ein Brief des jungen Otto so voller Dank und Jubel darüber, daß Tante Dori zu ihm kommen wollte und er wieder eine lange Zeit mit ihr zusammen sein würde, daß die Freude darüber auch die Bedenken der Dorothea verdrängte. Das Frohlocken des Jungen, den auch sie liebte wie ein eigenes Kind, übertönte alle Kümmernisse; Dorothea konnte nur noch an die erwartungsvolle Freude des anhänglichen Jungen denken und mußte sich mit ihm freuen.

Der Brief, in dem Doktor Strahl denjenigen seines Sohnes eingeschlossen hatte, war voll des wärmsten Dankes an Dori und ihre Mutter für ihre Zusage einer Hilfe, die ihm nur durch sie werden konnte und die ihn von seiner schwersten Sorge befreite. Da er noch für längere Zeit durch Berufspflichten zu Hause fest gebunden war, schrieb er weiter, könnte er seinen Jungen nicht begleiten, hoffte dann aber, ihn besuchen oder heimholen zu können, wobei ihm dann die Freude zuteil werden würde, einmal wieder seine ehemalige Schülerin und Lehrerin zu treffen und ihr seinen Dank für alle die Wohltaten, die sie schon auf sein Haupt gehäuft, noch mündlich ausdrücken zu können. Der Ort, den der Arzt zu dem Aufenthalt gewählt hatte, war Bordighera. Den Tag des Zusammentreffens daselbst möchten die Frauen selbst bestimmen, der Wunsch des Arztes lautete: je schneller, je besser. Von diesem war auch eine Villa zum Aufenthalt empfohlen, die nur für eine kleinere Zahl von Fremden eingerichtet und von einem mit Blumen reich geschmückten und von Lorbeer- und Magnolienbäumen beschatteten Garten umgeben war.

»Da muß es schön sein! Wenn es dir nachher daheim gar nicht mehr gefiele, Dori?« sagte Dorothea, in der noch einmal ein Zagen aufgestiegen war.

»O Mutter, was denkst du dir aus!« rief Dori mit Lachen, »da ist kein Grund zur Sorge. Von wo in der ganzen Welt sollte ich herkommen, daß es mir nicht daheim, in Cavandone, immer noch besser, am allerbesten gefallen würde! Wenn aber der Arzt so zur Reise drängt, so wird er wissen, warum, das ängstigt mich, Mutter, ich möchte sobald als möglich fort, wenn es dir recht ist, diese Woche noch.«

Dorothea war damit einverstanden. Sie wünschte nur noch, daß Dori der alten Maja und ihren Enkeln selbst mitteile, was sie beschlossen hatte, denn dem Ausbruch der Wehklagen, der vorauszusehen war, wollte Dorothea lieber nicht beiwohnen. Dori meinte, so gefährlich würde die Sache wohl nicht werden, machte sich aber gleich auf, um drüben im kleinen Hause ihre Mitteilung zu machen. Das Häuschen stand offen, aber es regte sich nichts, weder in der kleinen Küche, noch drinnen in der Stube, es war niemand zu Hause. Dori schaute sich in den kleinen Räumen um. »Da sieht es gut aus, ordentlich, wie's sein muß, Marietta hat etwas gelernt«, sagte sie vergnügt bei sich. Wo sie die drei Bewohner des Häuschens zu suchen hatte, wußte Dori gleich. Giacomo war heute nicht auf der Arbeit in Pallanza, er hatte in ihrem Garten zu tun gehabt; jetzt mußte er mit der Großmutter im Äckerchen sein, es war ja die Zeit der Hauptarbeit dort. Sie ging den Berg hinab dem alten Turme zu. Der Abend lag licht auf den grünen Höhen drüben und schimmerte über den See. Im Äckerchen hinter dem Turm hackte die alte Maja so eifrig, als ob die Freude daran ihre Kräfte verjüngt hätte. Ein blühendes Mädchen mit lachenden Augen stand neben ihr, um mit zu hacken; aber die junge Marietta mußte einmal nach dem lichten Abendhimmel hinüber und einmal auf die segelnden Schiffe niederschauen, das Hacken lag ihr nicht so ernstlich am Herzen wie der Großmutter. Giacomo schnitt an den jungen Rebenranken herum. Als Dori eintrat, wurde sie von Marietta, die sie zuerst erblickte, mit einem lauten Freudenruf, dann von Giacomo mit freudigem Lächeln und endlich von der Großmutter mit vielen herzlichen Worten begrüßt. Alle drei hatten ihre Werkzeuge niedergelegt und standen nun um Dori versammelt. Sie machte ihre Mitteilung und fügte bei, daß sie ja wohl für einige Zeit fortgehen könne, da sie ihre Mutter in dem guten Schutze von Maja und Giacomo wisse und Marietta ein verständiges und brauchbares Mädchen geworden sei, dem sie ihre Arbeit im Hause übertragen könne. Mariettas Gesicht leuchtete vor Freude über diese Aufgabe und über das Vertrauen, das Dori in sie setzte: »Ja, ich will gewiß alles so machen, wie du tust«, versicherte sie, »daß du so lange fortbleiben kannst, als es dir nur gefällt.«

In Giacomos Augen war eine dunkle Wolke aufgestiegen: »Ich möchte wissen, wer's in Cavandone aushalten kann, wenn du fortgehst, Dori«, sagte er, indem sich seine Stirne immer mehr zusammenzog.

»Jetzt kommt's, ich habe schon lang' gedacht, es komme, ja, jetzt kommt's«, wiederholte die Großmutter in jammernden Tönen.

»Was soll denn kommen, Maja«, fragte Dori belustigt. »Ich gehe für einige Zeit fort, dann komme ich wieder heim, das ist alles, was kommt.«

»Ja, ja, du bist jung, Dori, und ich habe die Erfahrung. ›Es kommt keiner wieder heim so wie er fortgegangen ist‹, heißt ein altes Sprichwort. Ich habe immer gedacht, es werde kommen, jetzt kommt's«, jammerte die Alte noch einmal.

»Ich weiß nicht, was du für Ahnungen hast, Maja, mich stecken sie nicht an«, sagte Dori fröhlich; »versprecht mir nur, du und Giacomo, daß ihr recht zu meiner Mutter sehen wollt, bis ich wieder da bin, dann ist alles gut. Ihr sollt sehen, wie fröhlich ich wieder heimkehre! Und wenn erst unser Otto wieder frisch und gesund geworden ist und ich ihn mitbringen kann, wie ich es mir ausgedacht habe, dann feiern wir alle ein großes Freudenfest zusammen!«

»Wenn du nur erst selbst schon wieder frisch und gesund daheim wärest, dann könnte man Feste feiern«, sagte Giacomo grimmig, während Marietta umherhüpfte und in die Hände klatschte, denn sie freute sich schon unbändig auf das Freudenfest und auf die Ankunft ihres kleinen Freundes.

Die alte Maja ließ sich's nicht nehmen, Dori zum Schiff nach Suna hinunterzubringen. Marietta wollte das Handgepäck tragen und Giacomo hatte den Koffer zu führen. So wanderte die kleine Gesellschaft in der ersten Frühe des lichten Frühlingstages den Berg hinab dem morgendlich flimmernden See zu. Vom Schiff aus, das jetzt Dori davontrug, schaute diese noch lange nach dem in der Morgensonne leuchtenden Ufer zurück, wo die guten, alten Freunde unbeweglich standen und mit flatternden Tüchern der Davonziehenden ihre Abschiedsgrüße nachwinkten.

Zum erstenmal stieg in Dori jetzt ein leise zagendes Gefühl auf: Sollten die Worte der Mutter und die Ahnungen der alten Maja eine Wahrheit enthalten? Würde sie nicht mehr als dieselbe in das liebe Felsenhaus unter die alten, ihr so liebe Erinnerungen zurauschenden Kastanienbäume, in das freundliche, gewohnte Leben zurückkehren? Sie schaute noch einmal nach der sonnigen Höhe von Cavandone hinauf. Dort schimmerte der alte Turm im Frühlicht; das junge Grün am Monterosso erglühte eben in der Morgensonne, ein weißes Häuschen schaute wie grüßend zwischen den Bäumen herunter, es war das Felsenhaus. Jetzt war die Heimat verschwunden.

Dori schaute vorwärts. Vor ihren Augen stieg das Bild des geliebten Knaben auf, der nach ihr verlangte und das eines anderen kleinen Knaben, dem es ein Trost gewesen war, ihre Hand festzuhalten, bis die seinige erkaltet war. Könnte sie es sich je verzeihen, wenn Otto so nach ihr begehrt hätte und sie wäre fern geblieben? »Es ist das Rechte, was ich tue«, sagte sie sich, »alles andere kann ich dem lieben Gott überlassen, ich tue, was nach seinem Willen ist.« Eine freudige Zuversicht stieg in Doris Herzen auf und erfüllte es. Hatte sie den lieben Gott für sich, was hatte sie dann zu befürchten? Nur eine Frage erhob sich noch als Sorge in ihr: Wie würde sie den jungen Kranken finden, dem sie entgegenzog?


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