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Drittes Kapitel


In der Villa Palmyra grünten und blühten alle Büsche und Bäume. Duftende Blumen wiegten in allen Beeten ihre schimmernden Kelche im Frühlingshauch. Die Palmen inmitten des Gartens breiteten still schützend vor der lichten Sonne ihre dunkelgrünen Fächer über den jungen Rasen.

Dori trat in den Garten ein. Sie war soeben in Bordighera angekommen und von einem Angestellten nach der Villa geführt worden.

»Tante Dori! Tante Dori!« ertönte plötzlich eine Stimme von der Veranda her und im nächsten Augenblick stürzte Otto heran und warf sich so stürmisch auf Dori, daß ihr erstes Wonnegefühl war: Kraft hat er doch noch!

»Bist du da, Tante Dori, bist du nun da?« wiederholte der Junge, sie umklammernd.

»Mein Otto! Mein Junge!« rief Dori, ihn umfangend, aus. »Laß mich dich recht ansehen! Ja, ja, du bist es ja! Blaß bist du, mein Junge, so blaß – aber doch noch derselbe, mein eigener, alter, lieber Junge.«

»Du wirst Fräulein Maurizius noch umwerfen, Otto«, sagte eine tadelnde Stimme, als dieser seine Arme noch einmal stürmisch um Dori schlug.

Es war Fräulein Smele, die herzugetreten war.

»Wir sind auch alte Bekannte, Fräulein«, fuhr sie fort, Dori begrüßend.

Diese löste sich nun aus Ottos Umarmung und reichte Fräulein Smele ihre Hand zum Gruße. Otto hielt die andere fest, er wich nicht von Doris Seite. Die drei gingen nun dem Hause zu. Fräulein Smele teilte Dori auf ihre Frage mit, sie sei schon seit vier Tagen mit Otto hier, nicht nach Abrede erst heute angekommen, um mit Fräulein Maurizius zu gleicher Zeit einzutreffen. Seit Doktor Strahl ihrer Ankunft sicher sein konnte, berichtete Fräulein Smele weiter, habe er sehr zur Reise gedrängt, da Otto mit jedem Tag blasser ausgesehen habe. Dieser aber hätte sich eingebildet, wenn er einmal da sei, so müßte Fräulein Maurizius auch gleich kommen, und hätte sich nun diese vier Tage lang so ungeduldig gebärdet, daß schon die ganze Tischgesellschaft darauf gespannt sei, ob die mit solcher Hartnäckigkeit täglich erwartete Tante heute ankommen werde oder nicht.

»Warum aber ist Otto nur so blaß?« fragte Dori, »ersteht er aus einer Krankheit oder ist eine Krankheit zu befürchten? So habe ich ihn nie gesehen.«

»Nein, nein, nun bin ich schon gesund, seit du da bist, Tante Dori«, versicherte Otto, »du wirst schon sehen, daß ich nun immer gesunder werde.«

Sie waren ins Haus eingetreten. Dori wurde nach ihrem Zimmer geführt; es lag neben Ottos Schlafstube und schaute auf den Garten hinaus. Dori sollte nun allein gelassen werden, daß sie sich nach der Reise erfrische und umziehe, um sich später zum gemeinsamen Abendessen wieder mit den beiden andern zusammenzufinden.

»Komm aber bald herunter, Tante Dori, ich erwarte dich jede Minute«, sagte Otto und wollte nicht gehen, bis er das Versprechen hatte, Dori würde nicht lange verweilen. Kaum war eine Viertelstunde verflossen, so klopfte es an ihrer Tür: »Ich bin's, Tante Dori«, rief die bekannte Stimme von draußen, »Fräulein Smele ist schon zu Tische gegangen, ich will dich abholen, hast du die Tischglocke nicht gehört?«

»Doch, doch, ich bin gleich bereit«, entgegnete Dori, die Türe öffnend. Otto rannte herein, hing sich an Doris Arm und hielt ihn so fest, als hätte er zu befürchten, er könnte ihm wieder entschlüpfen. So stiegen sie zusammen zum Speisesaal hinab. Die Gesellschaft hatte sich schon zu Tische gesetzt, sie war nicht zahlreich. Eine auserlesene Gesellschaft mußte es sein, so fein und zierlich sahen die Damen aus in ihren Spitzentüchern. Auch Fräulein Smele hatte ein feines Tuch umgeworfen. Dori fühlte, daß sie sich recht einfach ausnehmen mußte in der eleganten Umgebung; aber es kümmerte sie nicht. Ihren Otto am Arm trat sie an den Tisch heran.

»Setz dich hier, Tante Dori, dann komme ich neben dich«, sagte Otto, auf die freien Plätze neben Fräulein Smele weisend.

»Willst du nicht den Platz in der Mitte nehmen, Otto, du hast wohl vorher hier gesessen?« meinte Dori.

Aber Otto hatte sich schon gesetzt. Dori wollte keine weiteren Erörterungen hervorrufen, sie nahm den Platz an Fräulein Smeles Seite ein. Ein junger Herr, der Dori gegenübersaß, hatte schon lange mit lachenden Augen die Ankommenden beobachtet.

»Mein junger Freund hat Besuch?« sagte er jetzt zu Otto gewandt. »Die langersehnte Tante ist wohl angekommen?«

»Ja, sie ist angekommen«, erwiderte Otto, »und ich bin so froh, ganz furchtbar froh!«

»Das kann ich sehen«; hier wurde der Herr von seiner Nachbarin zur Rechten unterbrochen. Erst machte sie ihm unter der Stimme einige Bemerkungen, die untrüglich wie Tadel tönten; dann verwickelte sie ihn in ein längeres Gespräch, an dem auch seine Nachbarin zur Linken teilnahm. Als die Tafel beendet war, schritten die beiden Damen sogleich aus dem Saal. Die eine hatte den Arm ihres Begleiters erfaßt, er mußte mit. Fräulein Smele machte Dori im Hinausgehen ein wenig mit den Gebräuchen des Hauses bekannt. Drüben war ein hübsch eingerichtetes Gesellschaftszimmer, wie sie der neu Angekommenen erklärte, wo am Abend öfters gute Musik gemacht wurde. An schönen Abenden hielt sich die Gesellschaft meistens noch eine Weile im Garten auf, da die Luft nun täglich milder und lieblicher wurde und die duftenden Blumen immer reichlicher aufblühten. Otto hatte sich nach Vorschrift des Arztes früh niederzulegen.

»So wollen wir die kurze Zeit bis dahin noch im Garten zubringen, dann gehe ich mit Otto hinauf«, sagte Dori. »Sie bleiben wohl gern noch ein wenig im Gesellschaftszimmer nachher, Fräulein Smele?«

»Dahin werden auch Sie gerne kommen«, entgegnete diese, »und sollen es auch tun. Ist Otto erst in seinem Zimmer, so kommen Sie herunter, ich erwarte Sie.«

»Bleibst du nicht noch ein wenig bei mir, Tante Dori, so wie du immer in Cavandone getan hast?« fragte Otto mit bittendem Blick. »Du weißt wohl noch, wie viel ich dir am Abend immer noch zu sagen hatte. Dann setztest du dich an mein Bett und ich konnte dir alles mitteilen, was in mir war, und manchmal hast du mir auch noch gesungen. O, das war so schön!«

»Du bist nun wirklich kein kleines Bübchen mehr, das man in Schlaf singen müßte«, sagte Fräulein Smele verweisend.

»Ich will aber gern mit Otto hinaufgehen und nachher oben bleiben«, sagte Dori. »Die Gesellschaft ist mir ja völlig unbekannt; ich bringe meine Abende lieber in meinem Zimmer zu, wenn Otto nebenan schläft. So höre ich auch gleich, wenn ihm etwas fehlen sollte.«

»Wie Sie wollen; wenn Sie wochenlang mit dem Jungen hier zu bleiben haben, so werden Sie wohl noch auf andere Gedanken kommen«, bemerkte Fräulein Smele mit einem überlegenen Lächeln. »So kommen Sie, wir wollen Sie noch mit dem Garten bekannt machen; es ist Mondschein, wie ich glaube.«

So war es: die Gartenwege lagen hell im Mondlicht, auf allen waren wandernde Gestalten zu erblicken. Fräulein Smele hatte sich bald mit einer Dame der Gesellschaft in ein Gespräch vertieft; sie wanderten zusammen der Palmengruppe zu.

»Wir wollen hinaufgehen, Tante Dori, da sind alle die Leute, wir können gar nicht sprechen zusammen. Oder wolltest du gern im Garten bleiben?« fragte Otto, der schon nach den ersten Schritten stehen geblieben war, Doris Arm immer festhaltend.

»Mir ist es am liebsten, hinaufzugehen«, entgegnete Dori, »auch glaube ich gar nicht, daß diese Abendluft für dich gut ist, und Fräulein Smele hat Gesellschaft gefunden. Komm, mein Junge!« Und wie in den vergangenen Tagen lief Dori, ihren Jungen an der Hand, den Korridor entlang und nach dem Zimmer hinauf. »Nun komm und erzähl mir vom Papa und den Brüdern, und was du treibst zu Hause, und wie du krank geworden bist«, sagte Dori, indem sie sich neben Otto auf das kleine Ecksofa setzte. Er sah glückstrahlend aus.

»Nun kommt alles wieder, wie es in Cavandone war!« rief er jubelnd aus. »Nun kann ich dir wieder alles erzählen und du bist immer da, und zuletzt nimmst du mich noch mit dir heim nach Cavandone; dann seh' ich die Mutter wieder und die lustige Marietta, und die alte Maja, nicht wahr, du nimmst mich mit heim, Tante Dori, nicht wahr?«

»Darüber müssen wir mit deinem Vater sprechen, das kann ich nicht so bestimmen«, erwiderte sie; »mir könnte ja nichts lieber sein, als dich mit nach Hause zu nehmen, aber deine Schule?«

»O Tante Dori, nun hab' ich's gewonnen!« schrie Otto vor Freuden laut auf. »Mein Papa hat gesagt: darüber muß man erst Tante Dori befragen, sie hat zu bestimmen, die Schule muß bis zum Herbst so wie so aufgegeben werden.«

»Hat er so gesagt? Das ist herrlich!« rief Dori in hoher Freude aus. »Nun gehen wir heim zusammen, sobald der Arzt die Erlaubnis dazu gibt, und unsere schönen Tage von Cavandone kommen alle zurück. Erzähl mir nun aber auch, wie du krank geworden bist.«

Aber Otto mußte erst seiner Freude in dem immer wiederkehrenden Ausruf: »O, nun geht's nach Cavandone zurück! Nun geht's wieder heim, nach Cavandone!« Luft machen. Endlich berichtete er: »Es hat eigentlich nie besonders angefangen, siehst du, Tante Dori, es ging so: wie ich mit Fräulein Smele zurückkam, da war der Papa ganz allein, die Brüder waren noch im Institut, und der Papa war so still und schaute oft ganz lange nur so vor sich hin und sagte nichts, und hörte es nicht einmal, wenn ich etwas zu ihm sagte. Und in Cavandone warst du immer bei mir und ich konnte dir alles sagen, und dann waren wir wieder im Wald und sangen zusammen, und du warst immer da, am Abend und am Morgen und immer, o, das war so anders! Da mußte ich alle Augenblicke sagen: ›O Papa, laß mich nur wieder nach Cavandone zur Tante Dori zurückkehren, ich kann es nicht aushalten hier!‹ Dann ist er manchmal lange Zeit hin- und hergegangen im Zimmer und hat mich nur so traurig angeblickt und hat gesagt: ›Ja, ich begreif' es wohl.‹ Und dann sagte er wieder: ›Es geht nicht, es kann nicht sein! Bitte mich nicht mehr darum!‹«

»Ach Otto, wie konntest du auch deinen armen Vater so quälen?« fiel Dori ein, »du wußtest ja doch, daß er noch kurz vorher den Schmerz erlitten hatte, deine Mutter zu verlieren. Hast du nie daran gedacht?«

»Nein, von der Mutter hab' ich gar nichts mehr gewußt«, entgegnete Otto, »aber ich habe gewiß den Papa nicht gequält, und weil er so traurig wurde, daß ich wieder zu dir zurückwollte, habe ich gar nichts mehr davon gesagt. Aber ich habe immerfort daran gedacht, und am Abend, wenn es so still und traurig war, o, und der Abend so lang, lang, dann habe ich manchmal geweint, aber nur ganz leise, daß es der Papa nicht hören konnte. Und nachher im Bett habe ich noch lang' geweint, ich habe dann daran gedacht, daß ich ja nun gar nie mehr nach Cavandone zurückkommen kann, wie zuerst, weil ich nun immer länger in die Schule gehen muß und nur kurze Ferien habe, und du könntest auch sterben zwischendurch und ich würde dich gar nicht mehr wiedersehen. Dann konnte ich nicht mehr einschlafen und essen mochte ich auch nicht mehr, und dann kam einmal der Arzt und untersuchte mich und sagte, ich sei krank. Sonst hat's gar nichts mit mir gegeben.«

Dori legte ihren Arm um Ottos Hals und zog ihn an sich: »Nun sind wir wieder zusammen, mein Junge«, sagte sie, ihm das lockige Haar aus der Stirne streichelnd, »siehst du, mir ist die Trennung auch schwer geworden, aber nun haben wir eine schöne Zeit vor uns. Und daß dein Vater dich nachher bis zum Herbst bei mir lassen will, ist so lieb von ihm. Denk, wie einsam er sich dann fühlen muß, ganz allein ohne seine Kinder!«

»O nein, dann sind meine Brüder bei ihm und ich kann ganz gut ein wenig lang' fortbleiben, er merkt es dann nicht so gut. Die Brüder dürfen auch hierherkommen, uns zu besuchen, Papa hat es ihnen auf die Osterferien erlaubt. Es wundert sie ganz furchtbar, wie du aussiehst; ich habe so viel von Cavandone und von dir erzählt, daß sie dich eigentlich schon ganz gut kennen.«

Dori freute sich, seine Brüder nun auch kennen zu lernen und meinte, sie sollten ihn dann auch noch in Cavandone besuchen, damit sie sich sein Leben dort so recht vorstellen könnten. Nun waren Ottos Gedanken wieder in Cavandone, und die Aussicht, wieder dahin zu kommen, stieg plötzlich wie ein Freudenfeuer in ihm auf, und mit funkelnden Augen begann er alle Stätten aufzuzählen, wo er gleich hinlaufen mußte, wenn er dort angekommen war: »zu den Rosen im Garten, nach der Terrasse, unter die Kastanienbäume, zur alten Maja, nach ihrem Äckerchen mit der lustigen Marietta.«

Nun fand es Dori an der Zeit, daß Otto zur Ruhe komme. Er sollte sich in sein Zimmer zurückziehen, nachher würde sie noch hinüberkommen und sich einen Augenblick zu ihm setzen, wie er es in Cavandone gewohnt war. Ohne Widerrede verabschiedete sich Otto für den Augenblick und ging nach seinem Zimmer. Bald nachher saß Dori an seinem Bett, und um ihn nicht mehr zu neuen Plänen anzuregen, brachte sie ihm nur noch das beruhigende Bild vor Augen, wie Giacomo nun wieder täglich im Garten stehe und seine Rosen schneide und dazu leise seine Lieder singe, die immer ein wenig traurig klingen, wenn sie noch so lustige Worte haben. Als Dori aufstand, zog Otto sie noch einmal auf sich herab und schlang seine Arme um ihren Hals: »O, Tante Dori, versprich mir nur, daß du morgen und alle Tage, wenn ich erwache, wieder da bist«, bat er.

»Gewiß, für lange Zeit«, versprach Dori, »aber sag mir nun noch, mein Junge, betest du auch jeden Abend recht von Herzen, bevor du einschläfst, so wie du in Cavandone tatest?«

»O, das habe ich nun schon lange, lange nicht mehr getan, Tante Dori«, bekannte Otto. »Aber in Cavandone war auch alles so anders. Dort sah ich gleich von meinem Bett aus in den Himmel hinein und zu den hell funkelnden Sternen auf, da war es, als wäre der liebe Gott ganz nah. Und dann bist du an mein Bett gekommen und hast mit mir gebetet, und daheim kommt niemand an mein Bett, und vom Himmel und den Sternen seh' ich gar nichts, nur rote Vorhänge sehe ich um und um. Da ist es, als ob der liebe Gott viel, viel weiter weg wäre und einen nicht so gut hören könnte.«

»Aber Otto, du weißt ja recht wohl, daß der liebe Gott uns überall gleich nahe ist und uns hört, wo wir zu ihm rufen. Siehst du, so geht's, wenn wir nicht mehr beten und nicht mehr mit dem lieben Gott zusammenhängen, dann kommen wir um alle Freudigkeit, weil uns dann die feste Zuversicht im Herzen erlischt, daß ein lieber Vater im Himmel uns an seiner Hand hält, der uns nichts Böses geschehen läßt und dem wir all unser Leid klagen dürfen. Darum bist du so traurig und krank geworden, weil du niemandem dein Leid klagen konntest und dir keine Hoffnung mehr ins Herz kam, daß es wieder von dir genommen werden würde.«

»O, ich habe lange gebetet, Tante Dori, gewiß viele, viele Wochen lang, jeden Abend«, versicherte Otto, »immerfort habe ich gebetet, der liebe Gott soll mich wieder zu dir zurück nach Cavandone führen, aber da geschah gar nichts, wenn ich es schon fast nicht mehr aushalten konnte. Und dann war es immer mehr so, als sei der liebe Gott weit weg und höre mich nicht, und dann vergaß ich das Beten ganz.«

»So mußt du nie wieder tun«, sagte Dori, »du hast dich selbst um den größten Trost gebracht, der uns ins Herz kommt, wenn wir alles, was uns schmerzt und beunruhigt, dem lieben Gott sagen und ihn bitten dürfen, daß er uns helfe. Er kann es und er will es, aber er tut es, wenn die rechte Zeit für uns da ist, die er wohl kennt. Siehst du, welchen Trost du gefunden hättest, da du nicht mehr zu deinem Vater von deinem Verlangen reden durftest, weil er so traurig darüber wurde, es nicht stillen zu können; wenn du nun deinem Vater im Himmel alles anvertraut und ihn gebeten hättest, dir beizustehen, daß du dich nicht so allein fühlen müßtest, da es doch nun einmal sein mußte, daß wir getrennt wurden, denn bei mir konntest du nicht länger bleiben, das erkennst du wohl. Du siehst ja, was deine Brüder alles lernen, du wolltest doch selbst nicht so zurückbleiben, wie es gekommen wäre, hätte dein Vater dich nicht heimberufen.«

»Ja, gewiß, aber ich bin doch ganz furchtbar froh, daß ich wieder bei dir bin, Tante Dori, und daß ich nachher noch mit dir kommen und bei dir bleiben darf, das ist herrlich! Ich will auch dem lieben Gott recht danken, daß er mir dieses Glück schickt, und will gewiß daran denken, was du mir gesagt hast. O, daß du wieder da bist, wenn ich morgen erwache!«

Hier wurde Otto unterbrochen durch den eiligen Eintritt von Fräulein Smele.

»Ich habe Sie im ganzen Garten herum gesucht, die Gesellschaft hat auch nach Ihnen gefragt«, sagte die Eingetretene erregt. »Wo sind Sie denn nur nach Tisch gleich hingekommen? Ich habe Sie gar nicht mehr erblickt.«

»Von der Gesellschaft kenne ich niemand, auch fand ich die Abendluft nicht eben zuträglich für Otto«, erwiderte Dori gelassen. »So bin ich mit ihm hier heraufgekommen, es wird ja nun auch die rechte Zeit zum Schlafen für ihn gekommen sein.«

»Gewiß, es ist gerade die gewohnte Zeit«, bestätigte Fräulein Smele; »mich nimmt nur wunder, daß Otto Sie aufmerksam gemacht hat darauf, er ist sonst eher widerspenstig, wenn ich an die Zeit erinnere. Aber das werden Sie sich nicht etwa einfallen lassen, Fräulein Maurizius, daß Sie einem Jungen, der sein zehntes Jahr zurückgelegt hat, Gesellschaft leisten wollen, bis er einschlafen will. Das fehlte gerade noch in unserem Haus, wo jetzt ohnehin jeden Tag ein paar neue Ansprüche auftauchen, seit die Jungen alle daheim sind!«

»Es ist der erste Abend unseres Zusammenseins seit der Trennung, die uns beiden wehe tat, wir hatten uns allerlei mitzuteilen; auch hatte ich eben jetzt nichts Besseres zu tun«, sagte Dori bestimmt. »Sollten Sie etwas von mir wünschen, so bin ich nun bereit.«

»Nicht für mich, für Sie, damit Sie mit der Gesellschaft etwas bekannt würden, wünschte ich, Sie zu finden«, erwiderte Fräulein Smele mit Nachdruck. »Es wird Musik gemacht im Saal; ich kam Sie herunterzuholen, da ich annehmen mußte, Sie wissen nichts davon.«

»Allerdings nicht, aber ich danke Ihnen, Fräulein Smele, ich ziehe vor, in meinem Zimmer zu bleiben«, sagte Dori.

»O, juchhei! Tante Dori geht nicht weg und ich muß nicht so lang' allein sein«, rief Otto und legte sich beruhigt auf sein Kissen.

Fräulein Smele zuckte die Achseln: »Tun Sie, was Sie für gut finden. Stille sein wäre dem Jungen besser als Unterhaltung«, damit verließ sie das Zimmer.

Dori nahm nun für heute Abschied von Otto und ging nach ihrer Stube hinüber.

»Lässest du die Tür offen, Tante Dori, daß ich immer sehen kann, daß du da bist?« fragte Otto noch.

»Wenn du schlafen und gar nicht mehr mit mir sprechen willst, dann will ich die Tür ganz offen lassen«, entgegnete Dori.

»Schlafen kann ich nun noch lang', lang' nicht, schon seit vielen, vielen Wochen ist es so, und wenn ich dann so lang' liegen mußte ohne Schlaf und es so schrecklich dunkel war ringsum, dann bin ich oft in meinem Bett aufgesessen und habe furchtbar geweint, und habe immer gedacht, wenn du nur da wärest, du würdest mich nicht so allein lassen – o, es war so schrecklich!«

»Jetzt bleib' ich bei dir, mein Junge, dann schläfst du wohl bald ganz ruhig ein«, sagte Dori beruhigend. Aber es war, wie Otto gesagt hatte, eine Stunde verging und wieder eine und noch eine. Otto verhielt sich ganz still, nur von Zeit zu Zeit ertönte leise die Frage: »Bist du noch da, Tante Dori?«

»Gewiß, ich gehe nicht weg«, war jedesmal die Antwort. Endlich verstummte die Frage. Dori ergriff ihre Lampe und trat leise in Ottos Zimmer und an sein Bett. Die dunkeln Locken lagen wie damals, wenn sie in Cavandone an sein Lager trat, um seine weiße Stirne, aber das runde, blühende Gesichtchen von damals war schmal und blaß geworden.

»O mein Junge, daß ich dich wieder frisch und blühend sehen und dich so deinem Vater zuführen könnte! Wie wird er sich um dich ängstigen!« sagte Dori für sich, und mit gefalteten Händen blieb sie noch eine gute Weile am Lager des schlafenden Knaben stehen, auf dessen Gesicht jetzt ein Lächeln spielte, das von einem wonnigen Traum erzählte.


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