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Achtes Kapitel


Am frühen Morgen wanderte Doktor Strahl schon wieder unter den Bäumen des Gartens umher. Die jungen Orangen- und Zitronenbäume schienen ihn besonders anzuziehen; immer wieder machte er denselben Weg; es war auch die düftereichste Stelle des Gartens. Richard Maurizius rannte die Treppen des Hauses herunter. Von seinem Fenster aus hatte er den einsamen Wanderer entdeckt, jetzt war er an seiner Seite. Mit großer Zuvorkommenheit fragte er nach dem Befinden des Herrn Doktors, nach seiner Familie, ob er die Gegend schon näher kenne, ob es ihm lieb wäre, einige Wanderungen nach den nahen Höhen, oder auch dem Meer entlang zu machen.

Der Doktor entgegnete, er warte nur auf seine Söhne, die nach der Reise sich etwas länger ausruhten, um irgendeine Wanderung anzutreten. Wie weit diese gehen dürfte, komme darauf an, was Fräulein Maurizius für sich und ihren Pflegling, seinen Jüngsten, für gut halte.

»Das kann ich Ihnen genau sagen, Herr Doktor«, erwiderte Richard rasch. »Meine Cousine macht derzeit so weite Wanderungen mit ihrem Pflegesöhnchen, daß kein Mensch sie mehr finden kann. Somit ist klar, daß wir eine ganz erhebliche Unternehmung vorschlagen dürfen. Aber ich vergesse ja ganz, Sie erlauben doch, daß wir uns anschließen, wir werden, als die ältern Bewohner, sozusagen Sie in unserm Lande einführen und nicht ermangeln, Ihnen das Schönste zu zeigen.«

Mit größter Höflichkeit nahm Doktor Strahl das Anerbieten entgegen. Er sagte, seine Kenntnis des Landes beschränke sich auf eine Fahrt über die Corniche, die er vor Jahren gemacht, deren Schönheit ihm aber unvergeßlich geblieben sei. »O, da haben wir Ihnen ja des Schönen noch sehr viel zu zeigen!« rief Maurizius erfreut aus. »Die Palmengruppe am Meeresstrand, dann das Felsenplateau mit seiner Fernsicht, die Villengärten auf der Höhe, massenhafte Ausflüge, die die höchste Befriedigung gewähren. Ist Ihnen 10 Uhr recht als Zeit des Auszugs? Der Garten als Ort des Zusammentreffens? Ja? Auf Wiedersehen denn, Herr Doktor!«

Die Treppen hinauf nach dem Zimmer seiner Schwestern rennend, sagte Richard bei sich: »Erna wird mir doch nicht etwa, von irgendeiner unerklärlichen Laune befallen, einen Strich durch die Rechnung machen wollen?« Er klopfte, trat aber so schnell darauf bei den Schwestern ein, daß er erst einen ziemlichen Schrecken verursachte, denn noch saßen die Damen in Umhüllungen, die für keinen Besuch bestimmt sein konnten, an ihrem Morgenkaffee. Der Bruder brachte schnell sein Anliegen vor und wollte nach mehreren Seiten hin die Annehmlichkeit desselben noch beleuchten, als zu seiner Verwunderung Schwester Erna sofort ihre volle Zustimmung zu dem Vorschlag kundgab; auch Wera war ganz damit einverstanden. »Also um 10 Uhr bei den Zitronenbäumen, ihr laßt doch nicht auf euch warten?« sagte der Bruder, noch einen fragenden Blick auf die rätselhaften Umhüllungen der beiden Gestalten werfend.

»Ich denke, wir sind nicht die Personen, die gegen die ersten Regeln der Höflichkeit Verstöße begehen«, erwiderte Erna schnell.

»Ist mir sehr lieb, besonders in diesem Fall«, bemerkte der Bruder und ging.

Wirklich waren die Damen pünktlich zur Stelle, wo sich eben auch die Herren zusammengefunden hatten. Dori war mit Otto zuerst auf dem Platz erschienen. Als sich noch niemand vorfand, hatten sie dann einen Gang durch den Garten gemacht und trafen nun auch bei der Gesellschaft ein. Da Otto wußte, daß ein allgemeiner Spaziergang in Aussicht stand, hielt er Doris Arm so fest umklammert, daß deutlich zu sehen war, den wollte er um keinen Preis loslassen. Richard Maurizius war an Doris freie Seite getreten und teilte ihr mit, er habe die Palmengruppe am Strand als Ziel der Wanderung vorgeschlagen. Fräulein Erna hatte sich in ein Gespräch mit Doktor Strahl eingelassen, so kam es, daß die beiden, nebeneinander hergehend, den Zug eröffneten; Dori mit ihren zwei Begleitern beschloß ihn. Zwischeninne ging Fräulein Wera neben Oskar und Waldemar einher, aber nicht sehr lange. Oskar lief schon nach kurzer Zeit unstet umher, bald nach vorn, bald nach hinten, einen erwünschten Anschluß suchend. Auch Waldemar hatte sich bald auf die Seite gedrückt und schlich weit hintennach. Kam Oskar einmal wieder an seines Vaters Seite gerannt, so hatte Fräulein Erna gleich ein liebenswürdiges Wort für ihn; doch bald war sie wieder im tiefen Gespräch mit dem Vater, das sich immer wieder um die angeregten philologischen Fragen drehte, dann lief Oskar wieder weit zurück. Fräulein Wera schloß er sich nicht mehr an. So kam die Gesellschaft an den Punkt, wo sie die Straße verlassen mußte, um auf dem schmalen, steilen Fußpfad zu den Palmen am Strand niederzusteigen. Hier mußte je einer hinter dem andern gehen, für zwei nebeneinander zu wandern war an vielen Stellen kaum Raum genug. Otto allein ließ den umklammerten Arm nicht los, er fand auch überall Raum, seine schmalen Füße hinzusetzen. Unten bei der Baumgruppe angelangt, ließen sich die einen da, die andern dort auf den sonnebeschienenen Boden nieder. Moosbewachsene Steine und kleine Erdhügel boten überall einladende Sitze dar. Ein frischer Meerwind wehte herauf und bewegte lieblich die Kronen der schlanken Palmen. Dori saß mit Otto am Bergabhang und schaute sinnend über das weite, blaue Meer zu ihren Füßen hin. Richard Maurizius ließ sich eben neben ihnen auf den Boden nieder; er hatte mit den jungen Herren erst die alte Zisterne betrachtet, die unweit der Palmbäume, jetzt in etwas zerfallenem Zustande zu sehen war.

»Wie viele durstige Pilger mögen einst auf dieser sonnenheißen Stelle an der Zisterne ihren Durst gelöscht haben!« sagte er tief aufatmend, als wäre er einer der durstenden Pilger.

»Ist es nicht hier ganz, als wären wir im Morgenland angekommen? Sagen Sie selbst, Fräulein Cousine, erwartet man nicht jeden Augenblick unter diesen Palmen bei der Zisterne einen Jakob mit seiner Herde ankommen und eine Rahel herbeitreten und ihn tränken zu sehen? Würden Sie ihm zu trinken geben, wenn er ebenso vor Sie hinträte und Sie darum bäte?«

»Gewiß, wenn er Durst hätte und sich nicht selbst zu helfen wüßte«, entgegnete Dori ruhig.

»Ja es gibt eben allerlei Arten von Durst, Fräulein Cousine, es kann auch einen Durst geben, den man nicht selbst stillen kann! – Mein junger Freund Otto«, unterbrach sich Richard hier – »willst du dir denn nicht die Zisterne recht ansehn? Sieh, deine Brüder werfen Steine hinunter, da hören sie, wie tief der Brunnen ist, er geht in eine ungeheure Tiefe, geh, sieh dir 'mal die Sache an.«

»Tante Dori, möchtest du gern die Zisterne ansehn?« fragte Otto.

»Nein, ich schaue lieber auf das weite Meer hinaus«, entgegnete sie.

»Dann schaue ich auch lieber auf das weite Meer hinaus«, sagte Otto und setzte sich neuerdings auf dem grünen Steinrücken fest.

»Ich möchte den Moment des Tages kommen sehen, da der kleine Zerberus nicht vor Ihrer Türe läge!« rief Richard halb im Scherz, halb im Ärger aus.

»Ein guter Wächter bleibt immer auf seinem Posten«, sagte Dori lachend.

»Es kommt ein Gesang über das Meer her, hörst du, Tante Dori?« fragte Otto, zu ihr aufblickend.

Wirklich klang es, als ob die vollen, langgezogenen Töne mit den Wellen herankämen. Richard lauschte scharf hin, dann wandte er sich der Seite zu, wo seine Schwestern mit Doktor Strahl sich niedergelassen hatten.

»Ja, von dorther kommt's, es ist die Stimme Ihrer Fräulein Schwester«, sagte Dori.

So war es. Fräulein Erna und Doktor Strahl waren von der Philologie zur Musik übergegangen, für die sie beide das größte Interesse hatten. Sie besprachen sich über die neueren Liederkompositionen, von denen der Doktor mehrere noch nicht kannte oder sich deren nicht recht erinnerte. Um solche in sein Gedächtnis zurückzurufen oder auch um ihm eine Idee der noch nicht bekannten Melodien zu geben, sang ihm das Fräulein dann und wann eine Weise vor. Fand der Doktor den Anfang einer Komposition nach seinem Geschmack, so sang das Fräulein wohl auch die ganzen Lieder durch. Doktor Strahl ließ seine Blicke derweilen über das weithin leuchtende Meer schweifen und lauschte dazu offenbar mit Wohlgefallen den klangvollen Gesängen.

Die Zeit zum Aufbruch war gekommen. Man hatte sich allseitig erhoben. Die Gesellschaft begann, wie es notwendig war, eines hinter dem andern her den steilen Weg hinanzusteigen. Auf der Straße hatten die Gruppen sich sogleich wieder so zusammengefunden, wie sie von Anfang an sich gebildet hatten. Oskar war noch ein wenig unruhiger in seinen Bewegungen als vorher. Von Zeit zu Zeit suchte er an Dori heranzukommen, aber ihre beiden Begleiter blieben ihr unentweglich zur Seite, da war kein Raum für ihn. Wieder im Garten der Villa Palmyra angelangt, trennte sich die Gesellschaft, glücklicherweise nur für kurze Zeit, meinte Herr Maurizius.

»Ich werde Ihnen die betreffende Komposition heute abend mit Klavierbegleitung vortragen, da werden Sie mir recht geben, Herr Doktor«, sagte Fräulein Erna, die bis zum letzten Augenblick mit dem Doktor im lebhaftesten Gespräch geblieben war. Nun trat sie ins Haus ein. Der Doktor wandte sich zu Dori, die herankam. Er ergriff die Hand seines Jüngsten, um mit ihm einzutreten. Otto hielt auf der andern Seite Doris Arm fest. Sie löste leise die feste Klammer von sich ab.

»Hör, mein Junge, ich muß dir eines sagen«, sagte der Vater. »Du hast vor allem deine Tante Dori zu fragen, ob sie damit einverstanden ist, daß auf einem künftigen Spaziergang du von Anfang bis zu Ende ihr am Arm hangest, als hättest du ein Recht auf sie!«

Otto schaute fragend zu Dori auf. Ganz unbewußt seinem Zuge folgend, hatte er sich soeben wieder an sie gehängt.

»Wenn der Vater nichts dagegen hat, so fahren wir so fort, wie wir es schon von früher her gewohnt sind«, sagte Dori. »Ein Recht hat ja doch Otto auf mich, dadurch, daß er mich lieb hat.«

»Ja, gewiß, Papa«, fiel jetzt Otto schnell ein, »kein Mensch auf der ganzen Welt ist mir so lieb, wie Tante Dori – als noch du«, setzte er ein ganz klein wenig zögernd hinzu. »Annähernd«, sagte Doktor Strahl lächelnd, seinem Knaben liebevoll das lockige Haar aus der Stirn streichend. »Ja, mein Junge, du hast alle Ursache, deine Tante so lieb zu haben, nicht jeder hat eine Tante Dori.«

Als am Abend die Gäste sich aus dem Speisezimmer entfernten, kam Oskar rasch hinter Dori hergelaufen. »Fräulein Maurizius, kommen Sie nicht ein wenig mit uns in den Garten?« fragte er. »Sie gehen alle wieder nach dem Musikzimmer, da ist es so langweilig und draußen ist es jetzt so schön!«

»Wird es Ihrem Vater recht sein, wenn wir das tun?« fragte Dori dagegen.

»O, wenn Sie mit uns kommen wollen, so ist es ihm wohl recht, er will nur nicht, daß wir Sie drängen, das hat er mir gesagt, aber Sie kommen doch freiwillig, nicht?«

»Doch, gewiß, und recht herzlich gern«, erwiderte Dori, »der Abend ist so herrlich! Wir wollen Ihnen die verborgenen Plätzchen unseres Gartens zeigen, wo unter den hängenden Ästen Steinsitze angebracht sind und man überall von süßem Blumenduft umwogt ist.«

»O ja, so kommen Sie«, sagte Oskar, »so kann ich auch einmal mit Ihnen sprechen, das habe ich schon längst gewünscht. Sehen Sie, Fräulein Maurizius, – ich wollte Sie aber viel lieber Tante Dori nennen, das wäre auch viel natürlicher, wir nennen Sie doch immer alle so, darf ich nicht?«

»Gewiß dürfen Sie das tun, wenn Sie denken, daß es Ihrem Vater recht ist, mich kann es nur freuen«, erwiderte Dori.

»O, dem Vater, natürlich ist es ihm recht, er nennt Sie ja selbst immer Tante Dori, wenn er von Ihnen spricht. Nun nennen Sie mich auch Oskar, nicht wahr? Ja, sehen Sie, wir kennen Sie schon so gut«, fuhr Oskar lebhaft fort, »Ihr ganzes Leben in Cavandone und Ihre Mutter und die alte Maja.«

»Und Marietta und Giacomo vergiß nicht«, rief Otto dazwischen.

»Ja, die alle kennen wir durch Otto, der hat gar nichts anderes gesprochen, wie wir nach Hause kamen, als nur von Tante Dori und wie herrlich es bei ihr war. Er hat uns auch so große Lust gemacht, einmal nach Cavandone zu kommen und auch bei Ihnen zu wohnen, daß wir den Papa gefragt haben, ob wir nicht auch einmal in den Ferien dorthin gehen dürfen, Waldemar und ich. Er hat aber gesagt, das habe er nicht zu entscheiden, wir dürften aber einmal Sie fragen, wenn wir uns dann gegenseitig gut genug kennen, daß Sie auch beurteilen können, wen Sie in Ihr Haus aufnehmen würden. Es ist nur gut, daß wir Sie nun einmal hier für uns haben, so können wir doch einmal recht Bekanntschaft machen.«

Man war nun bei den Steinsitzen angelangt. Oskar schlug vor, dazubleiben und sich gleich recht festzusetzen, da ließe sich so hübsch weiter sprechen; denn er hatte im Sinn, noch viel mit Tante Dori zu verhandeln.

»Kommen Sie doch auch zu uns her, Waldemar, wir wollen uns doch auch kennen lernen«, sagte Dori freundlich, indem sie sich nach dem Zurückgebliebenen umsah; »Sie bleiben immer fern. Wollen Sie nicht gern bei uns sein?«

»Doch, ich will wohl«, sagte Waldemar herankommend.

»So kommen Sie, setzen Sie sich hier zu uns.« Dori rückte etwas weiter, damit er noch Platz neben ihr finde. »Aber geben Sie mir erst die Hand, wir wollen gute Freunde sein, ich will auch für Sie Tante Dori heißen.«

Waldemar schaute sie mit seinen sanften, blauen Augen erstaunt an; er wurde ganz rot, als er ihre ausgestreckte Hand ergriff; dann setzte er sich neben sie.

Der Junge ist nicht so gleichgültig gegen alle Freundlichkeit, wie ich dachte, da er sich immer so ferne hielt, sagte sich Dori.

»Wissen Sie, Tante Dori«, begann Oskar wieder, der ihr vorüber saß, »schon darum bin ich auch so froh, daß wir nun so gute Bekanntschaft mit Ihnen schließen können, daß wir dann fortan auf den Spaziergängen uns auch so zu Ihnen halten dürfen, wie Otto tut, uns ist es heute erschrecklich gegangen, Waldemar und mir.«

»Wieso denn erschrecklich?« fragte Dori belustigt.

»Die eine der Damen Maurizius, wissen Sie, die eine geht doch immer mit Papa, also die andere meine ich«, erläuterte Oskar, »hatte mit mir zu sprechen begonnen und fragte mich, wie die rote Blume heiße, die sie gefunden hatte, ich mache gewiß Botanikstudien, meinte sie. Nun haben wir ja wohl die Unterrichtsstunden, aber ich bin wirklich kein hervorragender Botaniker, ich wußte nichts von der Blume. Da wollte sie gern den Namen und die Familie von der blauen wissen und nachher von den großen violetten, die an den sonnigen Hängen wachsen, aber ich wußte von allem nichts, das war mir schrecklich fatal, aber da war kein Ausweg, ich wußte eben nichts. Da sagte die Dame, ich möchte ihr einige Blumen suchen, die ich kenne und ihr dann diese Arten bringen und sie ihr benennen. Da lief ich, aber ich fand gewiß keine und kam auch nicht wieder in ihre Nähe, es genierte mich zu sehr. Dem Waldemar ist's aber nicht besser gegangen, nicht wahr? Erzähl es nur.« Waldemar wollte nicht heraus mit seiner Erzählung. »Es ist ja gar nichts Nettes, ich will es lieber nicht noch erzählen«, sagte er.

»Doch, doch, Waldemar, ich habe auch gestanden, wie es mir gegangen ist«, sagte Oskar. »Tante Dori hat ja gefragt. Nun mußt du auch bekennen, sonst muß man denken, du willst nur nicht, daß Tante Dori es wisse.«

»Nein, aber sie kann ja auch denken, so etwas brauchen wir nicht noch zu erzählen, wir sollen darüber nur schweigen«, meinte Waldemar.

»Haben Sie so gedacht, als ich erzählte?« fragte Oskar ein wenig betroffen.

»Nein, wirklich nicht«, erwiderte Dori, »Sie haben mir die Sache ja nicht als etwas Erfreuliches geschildert, sondern als etwas sehr Fatales, das Ihnen vielleicht noch ein wenig schwer auflag und Sie dachten, Sie würden es eher loswerden, wenn Sie es aussprechen würden.«

»Ja, gerade so, ganz punktum so ist es mir gegangen«, rief Oskar aus.

»So will ich es auch gern aussprechen«, sagte Waldemar. »Das Fräulein hat mich zuerst gefragt, ob ich sagen könne, wie viel Einwohner Bordighera habe; da mußte ich sagen, nein, ich wisse es nicht. Dann hat sie gefragt, wann wohl die Zeit der Olivenernte sei, das wußte ich wieder nicht, und dann fragte sie noch, ob Bordighera viel Südfrüchte ausführe, da so viele Orangen- und Zitronenbäume zu sehen seien, das wußte ich auch nicht. Dann habe ich mich so geschämt! Die Dame hat gewiß gedacht, solches sollte man von der Geographiestunde her wissen.«

»Ja, aber das Ärgste ist, daß wir nun immer mit Schrecken an die Spaziergänge denken müssen«, fiel Oskar ein; »denn der Papa hat es mir verwiesen, daß ich von der Seite der Dame weggelaufen sei. ›Wenn eine Dame so liebenswürdig ist, sich mit einem jungen Herrn abzugeben, so läuft der nicht von ihr weg‹, hat der Papa so bestimmt gesagt, daß ich es nie wieder tun darf. Aber jeden Tag kann die Dame wieder ihre Fragen an uns richten und wir müssen stille halten und dürfen nicht mehr weglaufen, da spaßt Papa nicht, du weißt es, Waldemar. Er hat auch Augen, wie kein anderer Mensch. Sehen Sie, Tante Dori, da spricht er so eingehend mit einer Dame, daß man denkt, er hat für nichts anderes weder Auge noch Ohr, und derweilen sieht und hört er alles, was um ihn vorgeht. Er hat auch gewußt, daß Otto von Anfang bis zu Ende des Spazierganges Ihren Arm nicht losgelassen hatte.«

»Ja, ja, aber Papa hat jetzt erlaubt, daß ich immer bei Tante Dori sei, weil sie es erlaubt hat«, warf Otto schnell ein.

»Ja, du hast es lang' gut, du kleiner verwöhnter Nesthas«, rief Oskar aus. »Aber du siehst, Waldemar, hatte ich nicht recht? Ich sagte zu Waldemar, ›du wirst sehen, wie nett die Tante Dori ist!‹ Denn wie wir nach Hause kamen, da saß der kleine Kerl dort immer in einem Winkel und war langweilig und heulte nach Tante Dori und nach Cavandone und nach ganz unbekannten Dingen. Es war uns ganz recht, daß er mit der alten Smele nach Bordighera abreiste. Da wurden seine Töne auf einmal anders. Als die Dame Smele wieder zu Hause war, da kamen Briefe von dem Bürschchen an, immer einer kurzweiliger als der andere, immer lustiger, wir lasen sie immer lieber. Da kam denn der Name der Tante Dori so viel vor darin, daß ich zu Waldemar sagte: ›Wir wollen doch einmal zählen, wie oft er vorkommt in einem Brief.‹ Da zählten wir und es war siebzehnmal in demselben Brief. Da habe ich gesagt: ›Paß auf, Waldemar, du wirst sehen, die Tante Dori ist gewiß nett, sonst würde das Heulpeterchen sich nicht so verändert haben und so nette Briefe schreiben und alle ganz dick voll von Tante Dori.‹ Aber nun wollen wir auch etwas von Ihnen haben, Waldemar und ich. Otto hat nun seinen Teil schon reichlich gehabt.«

»Ja, nun wollen wir alle miteinander einen ganz festen Freundschaftsbund schließen«, sagte Dori mit Herzlichkeit. »Es freut mich ja, daß ihr auch meine Freunde sein wollt und darauf geben wir uns nun alle die Hände. Und kommen im Spätsommer die Ferien, dann kommt ihr beide nach Cavandone, das will ich mir vom Papa erbitten, und wir bringen alle zusammen eine schöne Zeit zu und steigen nach dem Monterosso hinauf und lagern uns unter den Kastanienbäumen.« Nun legten alle ihre Hände in Tante Doris ausgestreckte Rechte und der Freundschaftsbund ward unter ungeheurem Händeschütteln beschlossen.

Im Musikzimmer hatte Fräulein Erna ihrem Versprechen gemäß die verschiedenen Stücke, die sie mit Doktor Strahl besprochen hatte, teils vorgesungen, teils vorgespielt, denn auch im Klavierspiel war Fräulein Erna sehr gewandt, wenn sie sich auch gerne von der Schwester begleiten ließ. Der Bruder Richard hatte derweilen fortwährend aus dem Fenster geschaut, so als suchte er draußen im Garten etwas zu entdecken. Als jetzt in der Musik eine Pause eintrat, kehrte er sich zu seiner Schwester um: »Du hast so lange nicht mehr dein Herbstlied gesungen«, sagte er, »es möchte dem Herrn Doktor wohl gefallen. Du solltest wirklich das Lied gleich einmal singen, es paßt auch für deine Stimme vortrefflich.«

»Als ob ich das Lied allein singen könnte«, entgegnete Erna, »die zweite Stimme ist ja gar nicht vorhanden. Fräulein Maurizius hält wohl von der Musik nicht sehr viel, sie scheint sich bei der Jugend am wohlsten zu befinden.«

»Es möchte vielleicht auch sein, daß die Jugend bei ihr sich so wohl befände, daß sie ihrer nicht mehr los wird, da muß ich doch zusehen«, sagte Doktor Strahl, »erlauben Sie, Herr Maurizius.«

Dieser hatte sich schnell aufgemacht, um die zweite Stimme herbeizurufen. Doktor Strahl war ihm aber in der höflichsten Weise zuvorgekommen und stieg nun die Stufen zum Garten hinunter. Es war still ringsum. Die Gartenwege führten nach allen Seiten hin zu verschiedenen Baumgruppen und Lorbeerbüschen, unter denen da und dort kleine Ruhebänke angebracht waren, wie der Doktor gesehen hatte. Er ging dahin und dorthin, es war alles leer.

»Endlich«, sagte er, zwischen den tief herabhängenden Zweigen des dunkeln Nadelbaumes durch in die lauschige Ecke hineinblickend, »da seid ihr ja, und wo habt ihr denn euere Tante Dori versteckt?« Wirklich war sie kaum zu unterscheiden in dem Knäuel, den tiefe Dunkelheit umgab, denn die dichten Äste ließen kaum einen Mondstrahl durchschimmern. Auf der einen Seite lehnte sich Otto an sie, auf der anderen war Waldemar nun auch ganz zutraulich nahe an sie herangerückt, vor ihr stand Oskar, der im Eifer seiner Reden seinen Sitz verlassen hatte, um Doris Aufmerksamkeit ganz zu besitzen.

»O Papa«, sagte er, sich umwendend, »du willst doch nicht Tante Dori fortholen?«

»Doch, das ist es gerade, was ich im Sinne habe«, erwiderte der Vater. »Wer weiß, ob sie euch nicht schon lange gern entsprungen wäre, wenn ihr sie nicht so fest eingeschlossen hättet!«

»O nein, Herr Doktor, gewiß nicht«, versicherte Dori, »wir waren hier so vergnügt zusammen, daß nicht eines von uns fortstrebte.«

»O wie schade, Papa, wie schade!« rief Oskar aus. »Warum muß denn Tante Dori fort von uns?«

»Tante Dori muß überhaupt nicht, weder das eine noch das andere«, erwiderte Doktor Strahl. »Aber es gibt auch andere Menschen, die Tante Dori zu sich wünschen, ihr seid nicht die einzigen. Im Gesellschaftszimmer soll ein Lied gesungen werden, das jedermann Freude machen würde, auch mir; dazu ist aber die Stimme der Tante Dori notwendig, es kann sonst nicht gesungen werden. Wollen Sie uns das Vergnügen machen, Fräulein Dori, und herüberkommen?«

»Wenn Sie den Gesang zu hören wünschen, Herr Doktor, so will ich gewiß kommen«, entgegnete Dori, »Sie kennen wohl das Lied schon?«

Dori hatte sich erhoben und war an Doktor Strahls Seite getreten. Die drei Jungen folgten, Otto war aber augenblicklich wieder an Doris Arm und hielt ihn fest umklammert.

»Ich kenne das Lied nicht«, sagte der Doktor, »will es aber sehr gern hören. Ich habe Sie überhaupt noch gar nie singen gehört. Otto hat uns wohl oft erzählt, wie schön Sie mit Ihren Kindern im Kastanienwald von Cavandone sangen. Wir waren alle begierig, Sie einmal singen zu hören.«

»O Herr Doktor, erwarten Sie nur ja von meiner Seite keinen schönen Gesang, sonst muß ich mich fürchten, vor Ihnen zu singen«, sagte Dori wirklich erschrocken. »Sie kennen gewiß lauter gut ausgebildete Stimmen; eine solche habe ich ja gar nicht. Und dieses Herbstlied, – ich werde entschieden meinen Teil ganz schlecht singen.«

»Warum haben Sie denn diesen Entschluß gefaßt?« fragte der Doktor lächelnd.

»O das kommt von selbst, ohne allen Entschluß«, entgegnete Dori. »Ich kann gar nicht begreifen, wie man so etwas für zwei Stimmen komponieren kann, was doch gewiß nur ein einziger Mensch auf einmal singen kann und dann –«, Dori stockte.

»Und dann?« fragte der Doktor.

»O was ich sagen wollte, gilt vielleicht nicht für andere«, fuhr Dori fort. »Ich muß immer vorweg erleben, was ich singe, und so gibt es Stellen, die ich fast nicht singen kann. Gerade in diesem Herbstlied –«, Dori hielt wieder ein.

Gerade in dem Herbstlied, das sie singen sollte, lag etwas, das Dori tief bewegte, sie hätte es lieber nicht gesungen. Die beiden waren nun beim Hause angelangt und traten ein. Im Gesellschaftszimmer wurden Doktor Strahl und die aufgefundene Altstimme mit Beifall begrüßt. Fräulein Wera hatte sich schon ans Klavier gesetzt, Erna stellte sich zu ihrer Rechten, Dori zur Linken, sie begannen zu singen:

»Der Sommer ging,
Es fällt das rote Blatt;
Der Rosen letzte neigt sich welk und matt –
Leb wohl! Leb wohl!«

»Da droben schweigt
Der Herdeglocken Klang;
Spätsonne flimmert blaß am Felsenhang –
Leb wohl! Leb wohl!«

»Und du – auch du!
Wie wird es morgen sein?
Hin alle Rosen, hin der Sonnenschein –
Leb wohl! Leb wohl!«

»Ein letzter Gruß –
Nicht Tränen noch Geschrei:
Still bricht ein Herz und alles ist vorbei –
Leb wohl! Leb wohl!«

Es war still, als der Gesang zu Ende war. Keine lauten Beifallsrufe ertönten, wie sonst geschah, wenn ein Musikstück zu Ende gekommen war. Es hatte wie ein wirkliches Abschiedsweh durch das Lied gezittert. Jetzt begann aber doch Herr Castlewall mit Enthusiasmus Beifall zu klatschen: » Magnificent! Magnificent!« rief er aus. Auch die anderen stimmten in die Anerkennung ein. Fräulein Erna wandte sich nun an die englischen Damen, sie um einige Klavierstücke bittend. Doktor Strahl erhob sich, dankte den Damen noch besonders für den Genuß, den sie der Gesellschaft durch ihren Gesang bereitet und verließ das Zimmer. Seine beiden älteren Söhne waren draußen im Garten geblieben, er forderte sie noch zu einem Gang nach dem Meer hinunter auf; es war eine lichte Mondnacht. Der Jüngste hatte sich längst wieder in den Saal hinein und an Doris Seite geschlichen.

»Setzen Sie sich, verehrteste Cousine«, sagte Herr Maurizius, ihr zuvorkommend einen Sessel bietend, indem er auf die andere Seite hin lebhaft um Fortsetzung der Musik bat.

»Wir wollen gehen, Tante Dori, komm, wir wollen hinaus, willst du nicht auch lieber?« flüsterte ihr Otto zu.

»Doch«, sagte sie leise, dankte Herrn Maurizius für seine Fürsorge, empfahl sich und ging mit Otto, doch nicht hinaus, sie ging nach ihrem Zimmer. Früher als sonst verließen auch die anderen Gäste heute den Saal; es wollte kein rechter Zug mehr in die Unterhaltung kommen. Richard trat jedoch noch bei seinen Schwestern ein. Er ließ sich gleich auf einen Stuhl nieder, ein Zeichen, daß er sich noch in ein Gespräch einzulassen gedenke.

»Erna«, begann er, »es will mir so vorkommen, als seien deine englischen Sympathien einigermaßen verrauscht und so, als wären deine musikalischen Unternehmungen der letzten Tage mehr für den einen als für die anderen bestimmt gewesen.«

»Wenn der eine mehr als alle anderen davon versteht, so habe ich wohl recht gehabt«, entgegnete Erna.

»Unbedingt, vollkommen meine Ansicht«, stimmte der Bruder bei.

»Ich denke, es ist überhaupt der Mühe wert«, fuhr Erna fort, »etwas zu tun für einen Mann, der mit der umfassenden Bildung, wie Doktor Strahl sie hat, eine so ausnehmende Höflichkeit und Liebenswürdigkeit verbindet, wie er sie zeigt. Auf welches Gebiet man ihn auch zu bringen sucht, überall ist er daheim. Mit Zuvorkommenheit geht er gleich auf den Gegenstand ein und behandelt ihn in so anregender Weise, daß man immer weiter kommt, immer tiefer in die Sache hinein.«

»Das ist nun freilich mit dir auch etwas Besonderes, Erna«, fiel ihre Schwester hier ein, »Doktor Strahl hat für dich eine Aufmerksamkeit wie für niemand sonst in der Gesellschaft.«

»Damit stimme ich nicht überein«, sagte der Bruder, »im Gegenteil, ich finde, Doktor Strahl hat für jede Dame der Gesellschaft durchaus dieselbe Höflichkeit und Aufmerksamkeit. Es kommt ihm nicht auf die Persönlichkeit an, diese Höflichkeit ist einmal in seinem Wesen, er kann gar nicht anders.«

»Mit wem unterhält sich denn Doktor Strahl stundenlang auf einem Spaziergang, Richard?« fragte Wera. »Wen fordert er zum Gesang auf und lauscht mit der tiefsten Befriedigung bis zum letzten Ton, verläßt dann aber das Zimmer, sobald jemand anders das Vortragen der Musik übernimmt?«

»Da könnte man freilich immer noch antworten: ›Doktor Strahl liebt den Gesang, vorzüglich den einer schönen Stimme, nicht aber diese donnernden Klaviervorträge‹«, meinte der Bruder, »und unbegreiflich wäre das nicht. Etwas kriegstrommelartig tönt alle Musik, welche diese energischen Damen zusammen verarbeiten. Aber mich könnte es nur freuen, wenn deine Beobachtungen richtig wären, ich meine, wenn der Höflichkeit dieses Herrn ein tieferer und wärmerer Sinn zugrunde läge. Was täten wir dann, Erna?«

»Was täten wir dann?« wiederholte die Schwester etwas spöttisch, »du bleibst doch originell, bis du grau wirst, Richard.«

»Ja, das glaub ich auch«, sagte der Bruder beistimmend. »Aber du weißt ja doch, Ernachen, daß ich ebenso viel Teilnahme für dein Schicksal habe, wie du für das meine, man ist doch nicht umsonst Geschwister. Wenn nun wirklich der Augenblick der Entscheidung nahte, was dann?«

»Ja, was dann? das ist schnell gefragt«, gab Erna zurück. »Leicht wäre ein solcher Entschluß nicht. Ja, wenn ein Mann, wie Doktor Strahl ist, allein stände, ich denke, dann wäre ein Entschluß nicht schwer. Aber eine Last auf sich nehmen, wie diese drei anspruchsvollen Jungen sind – ich danke! Anspruchsvoll ist wenigstens der älteste im höchsten Maße. Tut er nicht, als wäre es eine Gnade, wenn er sich nur herbeiläßt, das Entgegenkommen einer Dame anzunehmen? Und auf Freundlichkeiten antwortet er mit Davonlaufen. Der jüngste ist das verwöhnteste Bürschchen, das mir noch vorgekommen ist, der wollte wohl den ganzen Tag gehätschelt sein. Daran ist freilich seine Pflegerin schuld. Der kleine Tyrann wäre am Ende fähig, bei seinem Vater durchzusetzen, daß diese auch noch mit in die Familie aufgenommen werden müßte, damit er seine Pflege beibehält, das wäre noch lockender, dieses arrogante Mädchen neben sich zu haben.«

»Erna, dagegen gäbe es ein radikales Mittel; ich wende es sogleich an und du bist beruhigt«, sagte Richard rasch.

»Solltest du diese unglückselige Idee immer noch im Kopfe haben?« fuhr Erna erregt heraus. »Ich hatte wirklich geglaubt, meine Worte hätten dich überzeugt und zur Vernunft gebracht. Und nun auf einmal taucht deine Schrulle wieder auf, denn etwas anderes kann es doch nicht sein als die alte Schrulle, wenn ich wenigstens deine Worte recht deute. Glaube mir, Richard, ich meine es gut mit dir, laß diese Sache fallen. Sprich keine voreiligen Worte aus, die dich binden und die du, einmal in deine gewohnten Verhältnisse zurückgekehrt, zu bitter bereuen müßtest. Es gibt ja Mittel und Wege, schriftlich zu verkehren. Komm erst nach Hause, besinne dich auf deine Umgebung, mach erst einige Monate deine gewohnten Gesellschaften und Vergnügungen mit, dann sollst du sehen, ob du mir nicht dankst, daß ich dich von einem übereilten Schritt zurückgehalten habe.«

»Ja, hellsehende Erna, du hast meine Worte richtig gedeutet, nur handelt es sich nicht nur um eine Schrulle, das kann ich dir sagen«, erwiderte der Bruder; »aber um des Familienfriedens willen will ich nicht voreilig sprechen. Ich will für einmal den Augenblick abwarten, da ich den drohenden Schlag des kleinen Tyrannen von dir abzuwenden hätte. Spricht der Doktor ein entscheidendes Wort aus, so tue ich sofort dasselbe, dann wird dir meine unglückselige Idee noch als eine ganz glückselige erscheinen und der Familienfrieden ist gerettet. Daraufhin können wir wohl alle drei ruhig schlafen.« Richard verließ das Zimmer der Schwestern.


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