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Zehntes Kapitel


In der Frühe des Morgens trat Doktor Strahl ins Zimmer seiner Söhne. Noch schlief Oskar so fest, daß das Eintreten des Vaters ihn nicht im mindesten störte. Waldemar saß aufrecht in seinem Bett und schaute dem Eintretenden mit freudeleuchtenden Augen entgegen.

»Na, mein Junge, du siehst gut aus«, sagte der Vater zu ihm tretend und seine Hand ergreifend, »du hast wohl prachtvoll geschlafen und fühlst dich wieder ganz wohl?«

»O ja, es ist mir viel besser«, entgegnete Waldemar, »aber geschlafen habe ich nicht viel, es war mir aber ganz recht, denn Tante Dori blieb lange bei mir, einige Stunden lang, bis ich dann schlafen konnte. Es ist so herrlich, daß sie hier ist.«

»Aber Waldemar, hast du nicht etwa geträumt?« fragte der Vater. »War denn Tante Dori wieder bei dir, nachdem wir dich verlassen hatten?«

»Ja, und recht lange, sie sah wohl, daß ich nicht schlafen konnte«, entgegnete Waldemar, »und ich war so froh, denn die Umschläge band sie mir viel besser um, als ich es machen konnte, und die Medizin hätte ich auch nicht nehmen können ohne sie.«

»Oskar«, rief der Vater hinüber, »wann wirst denn du erwachen? Die helle Sonne leuchtet draußen, es wird ein wundervoller Tag werden!«

So war es. Die letzte Wolke war von dem heftigen Südwind verweht; dunkelblau leuchtete der Himmel über dem grauen Olivenwald droben und weithin über die blitzende Meeresflut.

»Prachtvoller Tag zu unserem Ausflug, Herr Doktor«, rief Richard Maurizius, aus dem Garten hereinkommend, dem Doktor entgegen, der eben den forteilenden Arzt in der Halle verabschiedet hatte. »Beruhigender Zustand des jungen Patienten, wie ich hoffe«, setzte er hinzu, in die Halle eintretend.

»Sehr«, entgegnete der Doktor, für die Teilnahme dankend. »Heute soll er ruhig liegen bleiben, dann werde morgen alles gut sein, lautete der Ausspruch des Arztes.«

»Vortrefflich, so können wir gleich unsere Anordnungen treffen, wir müssen beizeiten fort, um die Höhe zu gewinnen, bevor die Mittagssonne glüht. Erna, ihr kommt gerade recht«, rief Richard seinen Schwestern zu, die von oben die Treppe herunter kamen, »eben sind wir im Begriff, unsere Partie anzuordnen.«

»Entschuldigen Sie«, sagte der Doktor, »ich möchte Ihre Anordnungen in keiner Weise stören, nur muß ich bitten, mich für heute nicht zu den Teilnehmern der Partie zu zählen.«

»Aber Herr Doktor, Sie sind ja die Hauptperson«, rief Richard aus, »um Ihretwillen wollen wir ja gerade den Ausflug machen, um Ihnen den herrlichen Waldweg und nachher die unvergleichliche Aussicht von der freien Höhe zu zeigen! Erna, hilf du den Herrn Doktor zu überzeugen, daß die Partie ausgeführt werden muß«, forderte Richard die jetzt herzugetretene Schwester auf, »wir müssen den wundervollen Tag benutzen! Ein solcher Himmel und diese Klarheit bis in alle Ferne muß genossen werden! Die Insel Korsika wird durch die klare Luft uns so nahe gerückt werden, daß sie anzuschauen sein wird, wie ein in allen Farben schimmernder Blumengarten, der sich aus der smaragdgrünen Meerflut erhebt.«

»Vielleicht nicht ganz so deutlich«, berichtigte Erna, »mir ist die Insel bis jetzt nur als wie ein schwarzer Streifen sichtbar geworden. Aber darin muß ich meinem Bruder recht geben: Die Klarheit der Luft ist heute so wundervoll, wie ich sie kaum je gesehen habe. Das Wetter ist aber durch den Südwind hell geworden und wird kaum Bestand haben.«

»Ganz richtig, die Partie muß unbedingt heute ausgeführt werden, völlig unbedingt«, setzte der Bruder fest.

»Ich bin auch der Ansicht, dieser Tag sollte zu dem besonders lohnenden Ausflug benutzt werden«, sagte Doktor Strahl, »nur mich müssen Sie für heute freundlichst entschuldigen.«

»Es wird doch nichts Neues bei Ihrem Sohne eingetreten sein?« fragte Erna mit Teilnahme. »Als ich früh das Mädchen nach seinem Zimmer schickte, um zu fragen, wie die Nacht gewesen sei, brachte sie sehr guten Bescheid zurück. Ich sah eben den Arzt hinausgehen, er hat doch nichts Beängstigendes gefunden?«

»Gar nichts«, erwiderte der Doktor. »Es war sehr freundlich von Ihnen, sich nach dem Befinden des Jungen erkundigen zu lassen. Er hat für heute noch Zimmer- und Bettarrest, dann wird alles gut sein.«

»O dann ist unsere Partie nicht verloren!« rief Erna erfreut aus. »Gewiß findet sich jemand, der dem jungen Herrn gern Gesellschaft leistet. Da sind auch so viele illustrierte Blätter im Hause, an denen er sich vergnügen wird.«

»Ich will auch ganz gern bei ihm zu Hause bleiben, Papa«, sagte Oskar, der, neben dem Vater stehend, das Gespräch verfolgte, »Tante Dori bleibt auch bei ihm, sie hat es Waldemar schon versprochen.«

»Ich glaube, das beste wird sein, wir verschieben die Partie bis morgen«, fiel Richard rasch ein, »ich kann gut begreifen, daß unser Herr Doktor nur mit dem halben Vergnügen dabei sein könnte, wenn er seine Söhne nicht mit hätte, das geht ja nicht, wir warten, wir warten entschieden.«

Der Doktor empfahl der Gesellschaft nochmals, doch ja den herrlichen Tag sich nicht entgehen zu lassen, dann entfernte er sich mit Oskar. Die Geschwister machten einen Gang durch den Garten zusammen. Erna ging schweigend und sichtbar verstimmt neben den beiden andern her, von Zeit zu Zeit mit dem Sonnenschirm einige Halme am Weg zusammenquetschend.

»Du kannst nun wohl selbst sehen, Richard«, sagte Wera, »daß es kein leichtes wäre, diese Familie auf sich zu nehmen, wo sogar die halb erwachsenen Söhne vom Vater bedient und bewacht und behandelt werden müssen, als wären sie hilflose Kinder. Was würde da erst von einer Mutter gefordert!«

»Ich sehe noch gar nichts so Schreckliches darin, wenn am fremden Orte der Vater seinen Jungen nicht einen ganzen Tag lang allein liegen lassen will«, entgegnete Richard, »und am wenigsten hätte ich es begriffen, wenn Doktor Strahl es angenommen hätte, daß Fräulein Maurizius am Bett des Jungen ihren Tag versitze, damit der Vater ohne Sorge spazieren gehen könne.«

»Warum denn nicht?« brach Erna nun los, »sie war doch schon zur Pflege des Jüngsten hergekommen, da konnte sie doch den andern auch hüten, wenn es doch einmal sein mußte. Daß Doktor Strahl lieber eine Art Dame bei seinen Jungen sieht, als eine gewöhnliche Kinderpflegerin, kann man ja wohl begreifen, er ist eben ein feiner Mann und die Berührung mit dem Gewöhnlichen ist ihm unangenehm. Aber sie führt sich abgeschmackt auf, sie macht aus jedem Mückenstich an den Jungen ein Fieber auf Leben und Tod. Er ist ja einer der liebenswürdigsten Menschen, aber ein schwacher Vater ist der Doktor natürlich, wie viele andere Väter. Ist es da nicht ein wahres Unheil für ihn, daß die Pflegerin, die er für seinen auch mehr eingebildet kranken Jüngsten engagiert hat, ihn in tausend Ängste hineinsteigert auch noch für die anderen beiden, wo für klar sehende Menschen nicht die mindeste Angst aufsteigen würde!«

»Du weißt ja gar nicht, ob Fräulein Maurizius als Krankenpflegerin engagiert, ob sie nicht vielmehr eine Verwandte des Hauses ist«, fiel Richard etwas empfindlich ein.

»Verwandte des Hauses!« wiederholte Erna spöttisch, »das wäre schon lange ausgesprochen worden. Solche Verhältnisse muß mir ein grüner, unerfahrener Mensch, wie du bist, nicht erklären. Bequem ist dem Doktor die junge Angestellte, die wahrscheinlich von guter Abkunft, ökonomisch heruntergekommen ist, oder vielmehr werden es die Eltern schon gewesen sein, daher die offenbaren Lücken in ihrer gesellschaftlichen Bildung. Sie wird einer künftigen Frau des Doktors den Weg so erschweren, daß sie dafür eine gehörige Strafe verdiente und nicht eine Anerkennung, wie du sie einfältigerweise aufzustellen Lust hättest. Das sind die Frauen, die den Männern den Begriff beibringen, die Frau sei dazu da, ihnen zu dienen und dafür zu arbeiten, ihren Herren ein angenehmes Leben in ihrem Hause zu bereiten –«

»Um ihnen also ihr Haus lieb zu machen und sie zu der Arbeit, die sie draußen zu verrichten haben, zu ermutigen und sie ihnen zu erleichtern im Hinblick auf die Annehmlichkeit, die sie nachher zu Hause erwartet«, ergänzte Richard. »Wäre diese Teilung der Arbeit denn so schrecklich?«

»Man wird doch nicht immer gleich an Arbeit denken müssen, wenn man sich zur Ehe entschließen soll«, warf Erna etwas verächtlich hin.

»Du scheinst die Ehe als eine Institution zu betrachten, errichtet für jüngere Damen, die sich zur Ruhe setzen wollen«, sagte Richard. »Damit würdest du besser in orientalische als in europäische Verhältnisse passen. Ich für meinen Teil schwärme noch für den veralteten Begriff, daß eine Frau dafür arbeite, sich und ihrem Mann eine angenehme Häuslichkeit zu bereiten. Ich denke auch nicht ungern daran, daß eine Persönlichkeit, wie meine neue Cousine ist, diese Anschauung teilt, und daß dereinst der Glückliche, in dessen Haus sie walten wird –«

»Wir schenken dir die Fortsetzung der Rede, Richard«, unterbrach ihn Erna, »wirst du denn nicht endlich Vernunft annehmen? Du hast wirklich noch viel mehr Ursache, dich zu besinnen, als ich.«

Die Geschwister hatten nun wieder das Haus erreicht und traten ein.

Dori hatte sich darauf gefreut, einen Tag ganz in der Stille, allein mit Waldemar zuzubringen, während die geplante Partie ausgeführt würde, der sie so gern entgehen wollte. Sie war ein wenig enttäuscht, als Oskar hereingerannt kam, um zu berichten, daß niemand spazieren gehen wolle.

»Die andern nicht, weil Papa nicht gehen will, Papa nicht, weil Waldemar nicht mitkommen könnte«, erläuterte Oskar; »und Herr Maurizius hat auch auf der Stelle nicht mehr gewollt, sobald ich sagte, Sie kommen auch nicht mit, Tante Dori. Das habe ich wohl gemerkt, er muß nicht meinen, daß ich so dumm sei und nichts merke. Aber es ist ganz recht, nun bleiben wir hier für uns den ganzen Tag und machen uns lustig. Hier sieht's heut' auch so nett aus.«

Jetzt trat Doktor Strahl ins Zimmer. Er schaute sich verwundert um. Das Schlafzimmer war in einen kleinen Gartensaal umgewandelt. Blumen aller Farben schmückten den Tisch und leuchteten aus allen Ecken. Oskars Bett war hinter einer Wand verschwunden, die von oben bis unten von grünen Ranken umhangen war.

»Tante Dori hat alles so schön gerüstet«, sagte Waldemar, der des Vaters erstaunte Blicke wahrnahm, »sie sagte, weil ich nicht mit euch den schönen Garten entlang wandern könne, wollte sie mir den kleinen Garten ins Zimmer bringen. Ist es nicht nett?«

»Ganz lieblich ist es hier«, stimmte der Vater bei, »und die Gesellschaft sitzt so gemütlich beisammen, daß man sich auch gern da niederlassen möchte.«

»Ja, komm nur, Papa, du bist recht freundlich eingeladen«, sagte Oskar, »wir wollen heute einmal einen urgemütlichen Tag in Bordighera verleben.«

»Ich bin dabei«, sagte der Vater lächelnd. »Nur ist eben die Post eingegangen, da muß ich erst noch nachsehen, was sie gebracht hat.«

Noch richtete er einige freundlich anerkennende Worte an Dori, über ihre Gabe, selbst eine Krankenstube zum begehrten Festsaal umzugestalten. Dann entfernte er sich. Erst um seine kleine Familie zum Mittagstisch abzuholen, wie er sagte, trat er wieder ein. Viel mehr, als er erwartet, hatte ihm die Post gebracht, noch jetzt war nicht alles bewältigt, was ihm an Arbeit eingegangen war. Als man sich nach Tisch wieder trennte, bemerkte Doktor Strahl, zu Dori gewandt: »Nun werden Sie sich aber für einige Zeit zurückziehen, Waldemar mag ein wenig für sich sein und wünscht er Gesellschaft, so ist Oskar da. Sich von den Jungen quälen lassen, dürfen Sie denn doch nicht.«

Dori erwiderte ein wenig lachend, es habe sie wirklich noch keiner von ihnen gequält, sie würde sich wohl zu wehren wissen. Kaum war aber der Doktor hinter seiner Zimmertür verschwunden, als Oskar Dori nachrannte und mit in Waldemars Stube eintrat.

»Ziehen Sie sich wirklich zurück?« fragte er. »Es war so nett heut' morgen, und ich habe noch viel zu erklären, bis Sie ganz verstehen können, wie diese Meerschiffe gebaut sind. Ich will aber ein solches großes Segelschiff vorweg zeichnen, wie ich es beschreibe, so können Sie es am besten sich vorstellen. Ich bin nur so froh, daß es Sie so recht interessiert, wenn man nicht recht zuhört, dann ist das Beschreiben gar nicht lustig.«

»Waldemar, bist du nicht müde, so daß du ein wenig schlafen möchtest?« fragte Dori; »schmerzt dein Kopf gar nicht mehr?«

Waldemar versicherte, daß er gar nicht schlafen möchte, daß sein Kopfschmerz weg sei. Viel lieber als schlafen sei ihm, wenn Tante Dori dableiben wolle. »Daheim werde ich dann wieder genug allein sein, wenn ich unwohl bin«, setzte er hinzu.

»Bist du oft so unwohl, daß du zu Bett bleiben mußt, Waldemar?« fragte Dori wieder.

»Alle paar Wochen einmal liegt der arme Kerl wieder in der Koje«, antwortete Oskar schnell, »aber wir lassen ihn nicht aus Bosheit allein, Papa und ich, das müssen Sie nicht etwa denken. Ich muß zur Schule und Papa ins Kolleg, da hilft nun einmal nichts.«

»An Bosheit hätte ich wirklich in diesem Falle nie gedacht«, versicherte Dori.

Nun begann die verheißene Beschreibung, begleitet von einer recht genauen und hübschen Zeichnung des Seglers; die lebhafte Unterhaltung dauerte ununterbrochen fort, wohl zwei Stunden lang. Jetzt trat der Vater wieder ein: »Schon wieder alle auf einem Häufchen zusammen, so nah als möglich«, sagte er lächelnd.

»O Papa, es ist nicht schon wieder, es ist immer noch«, berichtigte Oskar, »wir sind gar nicht auseinandergegangen, seit du uns verlassen hast.«

»Um so mehr wünsche ich nun, daß die dergestalt belagerte Tante sich frei mache und ein wenig hinausgehe in die schöne, frische Abendluft«, sagte der Doktor.

»Ich habe wirklich kein Bedürfnis und keinen Wunsch, hinauszugehen, Herr Doktor«, versicherte Dori, »die gute Luft strömt uns hier durch die offenen Fenster prächtig herein. Nur für Otto möchte es gut sein, noch einen Gang zu machen, er wird ja Freude haben, den Vater zu begleiten, er kennt noch viele schöne Stellen, die wir zusammen aufgefunden haben.«

»Mein Gedanke war, daß Sie mit Otto hinausgehen sollten, und ich hier Ihren Platz einnehmen würde«, sagte der Doktor. »Der Tante Dori ist für heute genug zugemutet worden.«

»O nein, Herr Doktor, von Zumutungen weiß ich nichts«, versicherte Dori. »Es war mein eigener Wunsch, mit Waldemar zu bleiben, und Oskar hat uns die ganze Zeit vortrefflich unterhalten. Wenn es Ihnen nicht unlieb ist, so bleibe ich am liebsten heute hier. Ich habe ja seit Wochen nichts getan, als spazierengehen.«

»Wie sollte es mir unlieb sein, wenn Sie in Ihrer Freundlichkeit für meinen Jungen nun einmal so weit gehen wollen, wie Sie für gut finden, denn die ist ja doch der Grund Ihres Hierbleibens«, sagte der Doktor mit freundlichem Lächeln.

»So kommt ihr beide, wenn ihr euch für eine Stunde von eurer Tante Dori trennen könnt, wir wollen einen Gang machen.«

Der Doktor zog aus mit seinen Söhnen. Eine Stunde war längst vorüber, bald auch die zweite und die dritte dazu. Lange schon hatte die Glocke zum Abendtisch gerufen, und noch waren die drei Spaziergänger nicht zurückgekehrt. Sonst war Doktor Strahl immer so pünktlich, was konnte ihn an seiner Rückkehr hindern? fragte sich Dori. Sie wollte nicht zu Tisch gehen, bevor Otto da war, er würde jedenfalls ihrer Hilfe bedürfen, um nach dem langen Spaziergang bei Tisch in voller Ordnung zu erscheinen. Endlich hörte sie die Jungen auf der Treppe, sie kamen hereingestürzt. Gleich wollten sie alle beide miteinander erzählen, was sich zugetragen hatte, aber Dori sagte schnell: »Nicht jetzt, ihr dürft nicht den Vater warten lassen.« Sie nahm Otto bei der Hand und führte ihn nach seinem Zimmer; Staub und Hitze hatten ihn so zugerichtet, daß eine gründliche Erneuerung notwendig war. Dori trat mit Otto eben in den Speisesaal, als von der anderen Seite Doktor Strahl in lebhaftem Gespräch mit Richard Maurizius eintrat. Oskar folgte ihnen.

Erst nach einiger Zeit erschienen auch die Damen Maurizius. Daß eine große Aufregung in der Gesellschaft herrschte, bemerkte Dori wohl, verstand aber nicht, um was es sich handelte, denn bis jetzt waren nur unzusammenhängende Worte über eben Erlebtes und Ausrufungen des Dankes und der Beglückwünschung gefallen.

»Ich sage nur das eine«, rief Richard jetzt über den Tisch hin, »wären Sie mitgekommen, Fräulein Cousine, so wäre alles nicht begegnet, was deutlich beweist, daß es aus dem Übel ist, wenn Sie sich der Gesellschaft entziehen.«

Dori sagte, sie habe keine Ahnung, wovon die Rede sei. Nun erzählte Richard den Hergang des aufregenden Ereignisses: Doktor Strahl war mit seinen Söhnen im Garten von den Freunden Maurizius angehalten worden. Auch diese waren im Begriff, einen Gang zu machen. Es wurde beschlossen, der Doktor sollte nach der Schlucht geführt werden, der romantischen Talenge, die er noch nicht kannte.

Im Olivenwald, wo so viele Pfade sich kreuzen, verlor man den richtigen Weg, ging zu viel links und kam so unvermerkt in die Höhe, nicht achtend auf Ottos beharrliches Behaupten, es gehe nach rechts, er habe den Weg mit Tante Dori gemacht. Der Pfad nach links schien der Hauptpfad zu sein, der Junge mußte sich täuschen, wurde angenommen.

So gelangte man sachte höher und höher und man begann zu ahnen, daß man tüchtig in die Irre gegangen war.

»Plötzlich«, schloß Richard seine Schilderung, »stehen wir nicht unten in der Schlucht, sondern hoch darüber, am schroff abstürzenden Felsen. Erna, mit dem Doktor vorangehend, bemerkt im Feuer der Unterhaltung nicht, wo sie hinkommt; schon hat sie den einen Fuß ins Nichts gesetzt, der andere folgt nach – aber zwei feste Arme halten sie umfaßt und ziehen sie zurück; Doktor Strahl hat die Stürzende gerettet.«

»Du kannst nun wohl lachen, Richard«, sagte Erna, »aber ich lache nicht, auch nicht in der Erinnerung. Nie werde ich den Augenblick vergessen, da ich fühlte, unter meinem Fuß ist kein Boden mehr, ich falle in den Abgrund. Ich verliere so bald die Besinnung nicht, aber da habe ich sie vor Schrecken verloren.«

»Aber der Retter war nahe«, fiel Richard ein, indem er sein Glas erhob: »Auf Ihr Wohl, Herr Doktor, mögen Sie noch vielen über dem Abgrund Schwebenden ein kühner Retter werden!«

»Stoßen wir doch lieber darauf an, daß niemand in den Fall komme, über dem Abgrund zu schweben«, entgegnete der Doktor, das wiederholte Anstoßen des dankbaren Bruders freundlich erwidernd.

Otto sah sehr müde aus. Noch war der erschlaffende Schirokko in der Luft; das lange Umherirren hatte den Jungen mehr ermattet als erfrischt. Dori verschwand leise mit ihm. Oskar kam nachgelaufen, auch er war müde. Dori trat noch in sein Zimmer ein, um nach Waldemar zu sehen; er schlief ruhig. Nun ging sie mit Otto nach ihrer Stube. Der Junge war bald eingeschlafen. Dori hatte sich an ihr Fenster gesetzt. Der Südwind, der so schnell den hellen Tag hergeführt hatte, begann schon, ihn wieder zu verwehen. Dunkle Wolken zogen rasch über den Himmel, in den Bäumen rauschte es mehr und mehr, so als nahte der Sturm. In Dori stieg ein Gefühl auf, als gehe mit dem scheidenden, schönen Tag alles zu Ende, was hier schön gewesen, das Zusammensein mit Doktor Strahl, mit seinen Söhnen, die sie so lieb gewonnen hatte, mit ihrem Otto, der ihr noch mehr angehörte als zuvor. Ihr war, als müßte alles für sie zu Ende gehen, alle Freude, alle Liebe, all ihr Notwendigsein für irgend jemand. Wäre sie nur daheim und müßte nicht alles sehen und hören, was kommen mußte. O wäre sie nie gekommen, das wäre wohl noch besser für sie gewesen. – »Nein, das will ich nicht wünschen«, sagte Dori, sich schnell besinnend, »Otto hat sich hier erholt und ich durfte dazu beitragen, daß er gern da blieb.« Sie hatte ja nur ihn liebhaben wollen und seine Brüder, warum wollte es sie denn erwürgen, daß der Vater diese Frau lieben sollte? Weil sie ihr selbst so fremd geblieben war? Dori fühlte wohl, diese Frau würde sie nicht als Tante ihrer Kinder wünschen, Otto würde ihr für immer genommen. In ihrem Herzen wurde der Kampf immer lauter. Draußen rauschte es immer heftiger in allen Bäumen. Jetzt hörte sie Stimmen im Garten, sie lauschte hinaus – da, unter ihrem Fenster, ging Doktor Strahl neben Fräulein Erna; sie sprachen beide mit solcher Lebhaftigkeit, wie sie ihn niemals sprechen gehört hatte. Jetzt, mitten aus dem Gespräch heraus reichten sie sich die Hände.

Dori schloß das Fenster. Bald darauf hörte sie heftigen Regen daranschlagen, der Sturm war ausgebrochen. Er schüttelte die Bäume, rasselte an den Fenstern und toste, als wollte er das Haus umwerfen. Dori hörte ihn die ganze Nacht durch toben und heulen.

Am Morgen war es grau draußen, Meer und Himmel ineinanderfließend, alles grau.

»Heute wird wohl niemand zur großen Partie Lust haben«, sagte Richard Maurizius lachend, als man sich am Mittagstisch zusammenfand. »Ihnen, Fräulein Cousine, hat die Sturmnacht auch zugesetzt, das werden Sie nicht leugnen wollen«, setzte er, zu Dori gewandt, hinzu. Sie sah auffallend blaß aus.

»Nein, das tu' ich nicht«, antwortete sie kurz.

»Es ist heute, als sei jedermann in Schirokko-Stimmung«, sagte Richard wieder, die ungewöhnlich einsilbige Unterhaltung etwas zu beleben suchend. »Der böse Wind dringt bis tief in die Gründe der Seele hinab.« Wirklich war es, als drücke die schwere Luft auf die sämtlichen Glieder der Gesellschaft. »Man muß heute abend tüchtig Musik machen, um der Verheerung entgegenzuarbeiten, die dieser Schirokko in den Gemütern anrichtet«, sagte wieder der nie ermüdende Gesellschafter Richard, als man vom Tisch aufstand. Doktor Strahl antwortete ihm zustimmend; dann ging man auseinander.

Waldemar war wieder wohl. Die drei Brüder hatten vor, heute ein Spiel zu machen, dem mußte natürlich Tante Dori beiwohnen, das hatten sie schon unter sich ausgemacht. Als sie nun im Heraustreten Dori ihre Bitte vorbrachten, bedeutete ihnen der Vater sofort, daß davon keine Rede sein könne, sie könnten wohl sehen, daß sie ihre Tante Dori so müde gemacht hätten, daß sie nun entschieden der Ruhe bedürfe. Dori antwortete rasch, auch wenn sie noch der Ruhe bedürfte, was sie nicht empfinde, so wäre es ihr lieb und wohltuend, mit den jungen Leuten zusammen zu sein. Sie wünschte, an dem Spiel teilzunehmen.

Sie führte die Jungen nach ihrem Zimmer, und unter Oskars Leitung begann das Spiel. Dori bezwang sich mit aller Macht, um nicht gar zu teilnahmlos zu spielen, sie wollte, solang es ihr noch möglich war, ihren lieben Jungen zu Gefallen leben und sich an ihnen freuen. Sie konnte es, die Jungen waren auch heute ganz besonders lieb und nett. Das unterhaltende Spiel wurde den ganzen Nachmittag bis gegen Abend fortgesetzt. Da war es Oskar, der zuerst etwas Neues wünschte, die andern stimmten bei. Tante Dori sollte etwas vorschlagen. Sie wußte wohl ein ganz nettes Spiel, aber dazu sollte man die kleinen Karten gebrauchen, die mit allerlei geschichtlichen Namen überschrieben waren und unten im Gesellschaftszimmer geholt werden mußten. Oskar wollte gleich laufen, sie zu holen, aber Dori hielt ihn zurück, sie wollte selbst gehen, sie wußte, daß er sie nicht finden würde. Als sie sich dem Zimmer nahte, hörte sie lautes, aufgeregtes Sprechen drinnen. Sie öffnete die Tür, es trat plötzliche Stille ein. Die Damen Maurizius saßen in einer Fensternische, der Bruder stand vor ihnen, alle drei sahen sehr erregt aus.

»Kommen Sie, Fräulein Cousine«, rief Richard ihr zu, »Sie haben ein Frauenherz, Sie verstehen etwas von diesem Kapitel, wie urteilen Sie? Was wird eine junge Dame tun, deren Herz von ›ja‹ überströmt, während die Vernunft ›nein‹ sagt, denn die Last ist ihr zu schwer, die sie auf sich nehmen soll.«

»Fragen Sie mich, was möglich ist, Herr Maurizius«, erwiderte Dori, die funkelnden Augen auf ihn gerichtet: »Wenn ein Herz von ›ja‹ überströmt, so wird ihm keine Last zu schwer sein, die es mittragen soll.« Sie wandte sich und öffnete den Schrank, um die Kärtchen herauszuholen.

»Erna, unser Fall ist unmöglich«, sagte Richard und lachte heraus.

Dori hörte noch im Hinaustreten, wie Erna in gereiztem Ton ausrief: »Du bist ein ganz unerträglicher Schwätzer, Richard.« Dori blieb an der Treppe stehen, sie konnte unmöglich weiter. Ihr Herz schlug nicht mehr, die Füße waren so schwer, daß sie sie nicht heben konnte. Nun wußte sie es, das Wort war gefallen, die Dame hatte sich zu entscheiden, und wie sie endlich entscheiden würde, wußte Dori, es konnte ja gar nicht anders sein. Sich so zu besinnen, ob sie diesen Reichtum an Liebe, alle diese Herzen annehmen konnte! Und ihn, für ihn zu tragen nannte sie eine schwere, eine zu schwere Last! Und was war zu tragen? Eine Empörung glühte in Doris Herzen auf, die ihr plötzlich alle Kraft zurückgab, sie lief die Treppe hinauf und ins Zimmer hinein.

»O Tante Dori, du bist ganz schneeweiß, du bist krank«, rief Otto aus. Er war ihr entgegengelaufen und hielt sie zärtlich umfaßt. Dori hatte sich schnell auf einen Sessel niedergelassen.

»Ja, Sie sehen schlecht aus«, sagte Oskar, »wir wollen nicht mehr spielen.«

Waldemar sah ganz bekümmert aus; er hatte Doris Hand ergriffen und hielt sie fest.

»Nein, nein, ich bin gar nicht krank«, sagte Dori aufstehend; »ich war nur einen Augenblick nicht ganz wohl. Wir wollen ein andermal wieder spielen. Ihr solltet wohl nun gehen und sehen, was der Vater macht, er weiß ja gar nicht, wo wir sind.« Oskar und Waldemar gingen.

»Tante Dori, wenn du nur nach Cavandone gehen wolltest, da würdest du gewiß im Augenblick wieder gesund«, sagte Otto überzeugt.

Dori antwortete nicht; sie hielt den Knaben umschlungen und dachte sich aus, wie ihr sein würde, wenn sie ihn nun hergeben mußte für immer, und an eine Mutter, die ihn nicht liebte.

Nun ertönte der Ruf zur Abendtafel. Wie gern wäre Dori dieser fern geblieben, aber sie wollte nichts Auffallendes tun, sie mußte sich überwinden. Dori brachte freilich kaum einen Bissen herunter; aber sie saß in ruhiger Fassung dem unermüdlich sie anredenden Herrn Maurizius gegenüber und beantwortete pflichtgemäß alle seine Fragen. Als sie das Zimmer verlassen wollte, vertrat er ihr rasch den Weg: »Heute lassen wir Sie nicht entschlüpfen«, sagte er. »Sie müssen mit, wir haben Sie durchaus nötig. Meine Schwester empfindet das unabweisbare Bedürfnis, das Herbstlied zu singen. Ich glaube, sie will ›Lebe wohl‹ singen mit dem wonnigen Gefühl, daß sie es nicht erleben mußte.«

»Fasle doch nicht, Richard«, sagte die herzutretende Erna, »das Lied wünsche ich heute zu singen, weil ich weiß, daß Doktor Strahl es gern hört.«

»Ich kann wirklich heute nicht singen«, versicherte Dori, »meine Stimme ist ganz schlecht, ich würde Ihr Lied verderben.«

»Ihre Stimme ist ja ganz klar«, bemerkte Erna. »Sie werden sich doch nicht zieren! Oder wollen Sie besonders gebeten sein? Herr Doktor, kommen Sie doch, bitten zu helfen«, rief sie diesem zu, »es ist um ein Lied, das Sie gern singen hören möchten.«

Dori war die Erregung rot in die Wangen gestiegen.

»Ich bin nicht daran gewöhnt, daß man so die Aufmerksamkeit auf mich richte. Ich will wohl singen, Herr Maurizius, aber Sie werden hören, wie schlecht meine Stimme ist.« Dori hatte sich umgewandt und ging mit Richard dem Gesellschaftssaal zu.

Die englischen Damen saßen am Klavier und spielten. Es verging eine gute Zeit, während welcher Richard allerlei Bemerkungen an Dori hin machte. Sie hörte die Worte ohne sie zu fassen, das laute Spiel entschuldigte ihr Nichtantworten. Nun standen die Damen auf. Erna nahte sich dem Klavier, ihre Schwester spielte einige einleitende Akkorde. Eben war Doktor Strahl eingetreten. Dori hatte sich nun auch dem Klavier genähert. Der Gesang begann. Doris Stimme zitterte, sie wurde immer unsicherer. Aber Dori zwang ihre Bewegung nieder; sie sang weiter. Nun kam die Stelle:

»Und du – auch du!
Wie wird es morgen sein?
Hin alle Rosen, hin der Sonnenschein –«

Jetzt versagte Dori die Stimme vollständig. Sie wollte eine Entschuldigung vorbringen, es kam kein Wort, sie brachte nichts heraus. Sie verließ schnell das Zimmer.

Erna warf ihrem Bruder einen Blick zu, der deutlich genug sagte: »Habe ich wohl recht? Weiß diese etwas von gesellschaftlichem Anstand?«

Wie ein Blitz war Otto der Tante nachgeschossen. In ihrem Zimmer fand er sie am Fenster stehend, den Kopf in die Hände gelegt, sie schluchzte. Otto schmiegte sich zärtlich an sie: »Hast du das Heimweh, Tante Dori? O ich weiß wohl, wie schrecklich weh es tut. Wir wollen doch nach Cavandone gehn zusammen, daß du wieder froh werden kannst! Dort wird es dir gewiß wieder ganz wohl. Wir wollen fort, Tante Dori, wir wollen heim, nach Cavandone!«

»Ja, wir wollen heim, nach Cavandone, Otto, so bald als möglich«, entgegnete Dori, die ihre Tränen getrocknet und sich gefaßt hatte. »Du hast recht, dort werden wir wieder froh werden zusammen.«

Otto jubelte auf: »So willst du kommen? Bald? O wie herrlich! Wie herrlich! So will ich es gleich noch dem Papa sagen.«

Otto wollte fortrennen, aber Dori hielt ihn fest.

»Das will ich selbst tun«, sagte sie, »ich muß ja deinen Vater bitten, daß er es uns erlaubt; vielleicht will er dich lieber noch hier haben. Morgen will ich es tun. Erlaubt er deine Abreise, dann gehen wir in wenig Tagen.«

Otto war völlig außer sich vor Freude. Nur mit Mühe konnte Dori ihn endlich dazu bringen, sich niederzulegen, er behauptete, die Freude ließe ihn keinen Augenblick schlafen.

Jetzt klopfte es noch an Doris Tür. Es war Oskar, den der Vater gesandt hatte, zu fragen, wie es ihr gehe. Dori ließ danken, sie sei wieder ganz wohl. Oskar möchte doch recht sagen, wie leid es ihr tue, daß sie solche Störung in den Gesang gebracht habe.

Als Dori allein war, setzte sie sich hin und suchte still zu werden, denn in ihrem Innern war ein Aufruhr, wie sie solchen niemals empfunden noch gekannt hatte. Ja, fort, fort, nach der stillen Heimat, das war das Rechte für sie. Ihrem Otto wollte sie noch die Freude bereiten, Cavandone wiederzusehen, vielleicht war es ja nicht für lange Zeit und jedenfalls das letzte Mal für ihn. Es war kein Fortlaufen aus einer Pflicht, sie durfte den Doktor darum bitten. O ja, heim, fort! Sie sehnte sich danach – und dennoch – vor ihr lag es wie eine große Öde.

»Wie wird es morgen sein?
Hin alle Rosen – hin der Sonnenschein –«.

Dori saß regungslos nach außen mit ihrem Kampf im Innern bis in die tiefe Nacht hinein. »Ich kann nur zur Ruhe kommen, wenn ich es erfassen kann, daß es so sein muß, daß es zum Guten ist für sie alle. Dann soll die Leere vor mir liegen, ich will doch stille werden«, war ihr Schlußwort.


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