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Erstes Kapitel


Bald waren es vier Jahre, seit im Felsenhaus an der sonnigen Halde bei Cavandone Frau Dorothea und ihre Tochter wieder eingezogen und kurz darauf die fröhlichsten Kinderstimmen und nie endender Gesang darin erklungen waren. Jetzt war es still um das Haus. Die warmen Strahlen der Märzsonne fielen auf die Terrasse, an der sich hoch hinauf die Weinreben rankten. Noch waren es junge, hellgrüne Blätter, die am Rebenholz in der Sonne glänzten und von Zeit zu Zeit leise erzitterten, denn vom Simplon her kam dann und wann ein frischer Windstoß und erinnerte daran, daß jene Höhen noch tief herunter ihren schimmernden Schnee trugen und warnend auf die früherschlossenen Blumenkelche schauten. Aber im geschützten Garten am Haus leuchteten die rötlichen Primeln und die goldenen Krokuskelche so vertrauensvoll zur Sonne auf, als wollten sie sagen: »Wir stehen unter gutem Schutz.«

Oben auf der Terrasse stand Dori an einen Pfeiler gelehnt. Schon seit einer guten Weile hatte sie still sinnend auf die Blumen niedergeschaut, die ihre sonnigen Kelche wie fröhliche Kinderaugen zu ihr erhoben. Plötzlich wandte sie sich, lief weg und erschien unten im Garten wieder. Hier pflückte sie rasch weg, was duftete und glänzte, die schönsten Blumen von allen Stielen, bis die Beete halb entleert standen. Der Blumenstrauß, der in allen Farben schimmerte, war so groß geworden, daß ihre Hand ihn kaum festhalten konnte. In diesem Augenblick trat Giacomo In den Garten ein.

»O Dori, alle die schönen ersten Blumen!« sagte er verwundert. »Warum schon? Wohin damit?«

»Auf das kleine Grab«, entgegnete Dori und pflückte noch die letzten rotvioletten Anemonen vom Busch.

»Bring der Mutter ein paar davon, Frau Maurizius hat sie so gern!« sagte Giacomo, »und nimm die goldenen Krokusblümchen auf deine Stube, ich weiß, du siehst sie gern an.«

Dori schüttelte verneinend den Kopf.

»Du willst nicht, Dori, nicht? Dir sind die Toten lieber als die Lebenden.«

Giacomo wurde ein wenig rot, als er diesen Vorwurf aussprach. Dori antwortete nicht, sie wollte an ihm vorübereilen. Es entging Giacomo nicht, daß sie ihn nicht anblickte, er schaute sie um so näher an; sie hatte geweint.

»Dori, wer hat dir ein Leid angetan? Er soll es mit mir zu tun haben! Wer hat dich zum Weinen gebracht?«

Dem Giacomo stiegen Zorn und Teilnahme dunkelrot in die Wangen, während er leidenschaftlich an Dori heranredete.

»Nein, nein, Giacomo, da ist niemand anzugreifen«, wehrte Dori. »Wenn uns weggenommen wird, was wir lieb haben, so müssen wir es annehmen, aber es tut weh.«

Sie kehrte sich rasch um und ging den Weg hinan, der Kirche auf dem Hügel zu. Sie trat durch die kleine Pforte in den stillen Gottesacker ein und ging einem kleinen Grabe zu, das etwas seitwärts von den anderen Kindergrabstätten sein eigenes Plätzchen hatte. Eine junge Zypresse beschattete den kleinen Grabhügel; ein weißes Kreuzchen stand unter den grünen Zweigen. Dori steckte ihre leuchtenden Blumen vor das kleine Marmorkreuz in die Erde und blieb in Gedanken versunken davor stehen, bis sie vom Schlag der Glocken aufgeschreckt wurde, der vom Kirchturm erklang. Daß sie so lange dagestanden, hatte sie nicht geglaubt; sie eilte heim. Die Mutter Dorothea saß an ihrem Platze auf der offenen Terrasse, denn noch stand die Sonne leuchtend über dem grünen Bergrücken drüben, und noch strömte das warme Licht über die sprossenden Ranken herein und zeichnete die Schatten der spielenden Blätter auf dem weißen Steinboden.

»Komm, Dori, sieh, wie schön, das hast du schon als Kind so gern gesehen«, rief Dorothea der Eintretenden entgegen. »Sieh die spielenden Blätter im Sonnenschein hier am Boden.«

Dori setzte sich zu der Mutter hin und schaute nach den leise wiegenden Schattenzweigen auf dem Stein. Sie sprach kein Wort.

»Du bist so verändert, Dori«, sagte die Mutter, indem sie ihre Arbeit in den Schoß legte und bekümmert auf ihre Tochter schaute. »Wie konnten sonst alle solche Dinge dein Herz erfreuen, die kleinste Blume und jeder Blick hier von der Terrasse auf deinen Rosengarten, auf den See, auf deine Berge drüben – hast du deine Heimat nicht mehr lieb, Dori?« –

»Doch, Mutter, wie könnte ich die Liebe zur Heimat verlieren«, entgegnete Dori, doch nicht mit der alten Lebhaftigkeit, die ihre Mutter ja so wohl an ihr kannte; »aber du weißt ja, was mir das Herz so traurig macht, daß keine Freude mehr recht aufkommen kann. Ich bin um viele Jahre älter geworden im letzten Jahr, es kam so viel Trauriges zusammen.«

»Ja, ich finde auch, daß du plötzlich viel älter geworden bist, Dori, gerade diese Bemerkung hat mich so viel beschäftigt und bekümmert in der letzten Zeit«, sagte Dorothea. »Ich hatte gehofft, wenn erst der Schmerz ein wenig vorüber sein würde, dann kehre deine alte Fröhlichkeit wieder zurück und mit neuen Kindern, die dir anvertraut würden, könnte dein Herz wieder neue Freuden erleben, und du könntest dadurch eher vergessen, was dich so geschmerzt hat!«

»Nein, nein, keine neuen Kinder!« rief Dori leidenschaftlich aus. »Es war ja nicht ein Schmerz, der vorübergehen konnte, Mutter, Schmerzen, die nicht aufhören, sind es. Ich glaube ja, daß es sein muß, und daß ich ohne Schmerz und schwere Tage bald dahin käme, daß ich annähme, so müßte es sein und kaum mehr an mich herankommen lassen möchte, was mir nicht gefiele. Ich habe so vieles an mir kennen gelernt in der letzten Zeit, das ich vorher nicht gewußt habe. Unsere Tage sind so schön und in lauter Fröhlichkeit dahingegangen, daß ich das Gefühl hatte, es sei alles gut in mir und um mich und sollte nun so bleiben. Aber von Vergessen sprich nur nicht, Mutter, ich will suchen, es anzunehmen, als etwas, das der liebe Gott nun einmal so geordnet hat und das sein mußte, aber vergessen kann ich nie, wie es damals war; es wird ja nun gleich ein Jahr, als Fräulein Smele erschien und Otto sich immer ängstlicher an mich schmiegte, und wie der Augenblick da war, da sie den Knaben von mir reißen wollte, und er mich mit seinen flehenden Augen anblickte und bat: ›Laß mich nicht von dir wegnehmen!‹ Und mit blutendem Herzen mußte ich ihn ja zum Fortgehen zwingen. O Mutter, das kann ich nie vergessen!«

Dori legte den Kopf in ihre Hände und schluchzte. Auch Dorothea wurden die Augen naß.

»Ja, es war hart, den Knaben so fortzwingen zu müssen«, sagte sie. »Es war gut, daß der Vater ihn nicht abholte, das Widerstreben des Kindes hätte ihm sehr wehtun müssen.«

Dori hatte ihre Tränen weggewischt: »Nein, nein, wäre Doktor Strahl nur selbst erschienen«, entgegnete sie lebhaft, »dann wäre es zu keinem solchen zerreißenden Abschied gekommen. Otto hat ja seinen Vater so lieb, mit ihm wäre er ohne solche bittere Tränen und Gewalt fortgebracht worden; das hätte der Vater tun müssen!«

»Aber Fräulein Smele hat uns ja gesagt, seine Frau sei auf den Tod krank, sonst hätte Doktor Strahl den Knaben wohl selbst heimgeholt; weißt du denn das nicht mehr?« fragte Dorothea.

Dori zuckte die Achseln.

»So hätte er den Jungen noch uns überlassen müssen, bis er selbst ihn hätte heimholen können, so viel mußte ein solches Kind ihm wert sein«, sagte sie aufgeregt.

»Man muß aber dem Vater auch nicht unrecht tun«, erwiderte Dorothea beschwichtigend, »er hatte ja den Jungen schon ein halbes Jahr über die zwei festgesetzten Jahre hinaus dagelassen, und schon im Frühjahr hätte er ja in seine Schule eintreten sollen. Doktor Strahl hat gewiß nach seinem besten Wissen und Gewissen gehandelt.«

»Und dann nachher, Mutter«, begann Dori wieder, »weißt du noch, wie es war? Mit der tiefen Wunde im Herzen mußte ich zusehen, wie mein armer, kleiner Willi von Tag zu Tag abzehrte, bis sein Händchen, das mich nicht mehr losließ, kalt wurde, und ich es von meiner Hand ablösen mußte. O Mutter, keine neuen Kinder mehr, sie gehören mir ja nicht an, und ich kann keine mehr von mir wegreißen lassen!«

Dorothea warf bekümmerte Blicke auf ihre Tochter, die in leidenschaftlicher Erregung die letzten Worte gesprochen hatte und nun wieder den Kopf in ihre Hände gelegt, leise weinte.

»Ich glaube, du warst noch zu jung, wie du die Kinder aufnahmst, du konntest noch nicht ertragen, was kommen mußte. Es wird besser werden, nun du reifer wirst. Glaub mir, Dori, du wirst doch noch wieder Freude haben, Kinder um dich zu sammeln«, tröstete die Mutter; »du hast sie lieb, und ihnen ist wohl bei dir. Die Freude wird dir wiederkommen, und auf den Sommer für die Ferienzeit wirst du ja deinen Otto wieder hier haben, darum hat ja sein Vater selbst gebeten, denk an dieses frohe Wiedersehen!«

Dori hob ihren Kopf auf: »Für einmal kann ich nur mit bitterer Angst an den Jungen denken«, entgegnete sie. »Noch in jedem seiner Briefe hatte er von seinem beständigen Unwohlsein zu erzählen, und des Vaters Nachschrift in Ottos letztem Brief war das Beunruhigendste von allem: Er sieht für seinen Knaben mit Sehnsucht der Ferienzeit entgegen; der Zustand des Kindes scheint ihm ein Erbteil der so lange nervenleidenden Mutter zu sein, dem man alle Aufmerksamkeit zuzuwenden habe. Bei uns hatte Otto nichts Krankhaftes, Mutter, wie kann das nur sein?«

Dorothea schüttelte den Kopf. »Ich begreife auch nicht, wie das ist, er sah ja aus wie ein frischer Apfel, bei uns. Der Junge bedürfte auch der Pflege einer Mutter. Aber ich komme noch einmal auf das eigene Haus zurück. Nicht wahr, Dori, um deiner eigenen Befriedigung willen tust du mir eines zulieb: Wenn wieder ein Kind bei dir angemeldet werden sollte, so nimmst du es an? Du kannst ohne eine bestimmte Beschäftigung nicht wieder fröhlich werden, ich kenne dich.«

»Ja, du hast recht, Mutter, so ist es«, bestätigte Dori eifrig. »Ich muß eine Arbeit haben, an die ich alle meine Kräfte wenden kann, die inneren und die äußeren; denn mein Herz muß mitarbeiten, sonst mach' ich nichts Gutes. Ich habe schon etwas ausgesonnen, Mutter, da hilfst du gewiß auch gern mit. Unser Haus liegt sonnig und die Terrasse ist so herrlich luftig, und Platz ist ja so viel da: Wenn wir Kranke bei uns aufnehmen würden, Erholungsbedürftige, aber Erwachsene, die uns ja nicht so zu eigen werden, wie die Kinder. Solchen könnten wir wohltun und sie mit Liebe pflegen, das wird uns auch wohl machen.«

Dorothea sah ein wenig erschrocken aus; alles Neue erschreckte sie zuerst. »Du hast wohl etwas Gutes im Sinn, Dori«, sagte sie zaghaft, »aber wir wollen es doch erst recht überlegen. Die Maja wird doch immer älter, sie würde auch mehr Arbeit bekommen, und Marietta ist noch gar zu jung, und alles kannst du doch nicht selbst tun. Wenn ich dir schon auch gern beistehen wollte, die Hauptsache läge doch auf dir.«

»Es hat ja keine Eile, Mutter«, beruhigte Dort; »ich wollte dir nur erst einmal sagen, daß ich mir eine Arbeit ausgedacht habe, denn ohne solche kann ich nicht bleiben, und nach einiger Zeit wirst du selbst meinen Gedanken aufnehmen und zur Ausführung bringen und wirst die allergrößte Teilnahme dafür haben, ich kenne dich ganz gut, Mutter.«

Die Sonne war unterdessen hinter den grünen Bergen verschwunden. Dorothea war aufgestanden; es war die Zeit, da der Abendtisch gerüstet werden sollte. Er war freilich klein geworden, so klein, wie er vorzeiten gewesen. Dorothea war ja wieder allein mit ihrem Kinde.


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