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Siebentes Kapitel


Der März war zu Ende gegangen. Die warme Aprilsonne leuchtete über die weiße Straße am Meeresstrande. Aber jeden Nachmittag erhob sich ein frischer Seewind und wehte erquickend über die Fluren. Immer voller blühten die Rosen, die goldenen Zitronen glänzten durch die grünen Zweige und überall sproßten würzige Blumen empor und erfüllten die Luft mit süßen Düften.

Am frühen Morgen schon zogen Dori und Otto ins Land hinaus. Immer weiter dehnten sich ihre Gänge aus; oft stiegen sie hoch hinauf durch die Olivenwälder bis zum alten Felsenstädtchen, das seine grauen Türme und Giebel auf dem freien Berggrat zum Himmel hebt. Jeden Tag kam Otto mit rosigeren Wangen von seinen Gängen zurück. Die großen, dunklen Augen, deren matter Blick Dori das Herz zusammengepreßt hatte beim ersten Wiedersehen, schimmerten wieder in ihrem sonnigen Glanz, den Dori so wohl an ihnen gekannt hatte. Innige Freude und Dank erfüllten Doris Herz beim Anblick ihres frisch aufblühenden Jungen. Nicht nur für sich und den gekräftigten Knaben selbst freute sie sich, aber welche Wonne mußte des Vaters Herz erfüllen, wenn er nun kommen und den geliebten Jüngsten so wiederfinden würde!

Nur wenige Tage noch, und Doktor Strahl sollte, seinen letzten Nachrichten gemäß, mit den beiden älteren Söhnen in Bordighera anlangen. Die Zeit der Osterferien hatte eben begonnen.

»Tante Dori, heute sollten wir doch einmal wieder zu dem Felsen hinaus, da waren wir viele Tage nicht«, sagte Otto, als er mit Dori auf die Straße hinaustrat, um durch den hellen Aprilmorgen die gewohnte Wanderung zu beginnen. Dori war ganz einverstanden. Es wehte ein starker Südwind, die Wogen mußten heute herrlich um die Felsen tosen. Als die beiden am Ziel ihrer Wanderung angelangt waren, erkletterten sie wie gewohnt jedes sein Felsstück und setzten sich da fest. Aber kaum hatte Otto sich niedergelassen, so stieß er einen lauten Ruf der Überraschung aus, war in wenigen Sprüngen wieder unten und stürzte auf die Straße hinaus, einem Wanderer entgegen, der raschen Schrittes daher kam. In höchster Verwunderung schaute Dori ihm nach. Der Herankommende war ein junger Bursche mit dickem Stock in der Hand, ein Ränzlein auf dem Rücken.

»Ich habe ihn gleich erkannt! Ich habe ihn gleich erkannt!« rief Otto jubelnd der verwunderten Dori zu.

Jetzt sprang auch sie vom Felsen herunter und rief dem Wanderer entgegen: »Giacomo! Wie kommst denn du hierher? Grüß dich Gott, Giacomo!« rief sie voller Freude aus. »Kommst du, uns zu besuchen?«

»Ja, grüß' Gott, Dori! Dich zu besuchen komm' ich und dir Lebewohl zu sagen, ich gehe nach Amerika«, war die Antwort.

»Wie? Was? Du gehst nach Amerika? Wie kann das sein! Komm, du mußt mir alles erzählen und noch so viel von zu Haus. Komm, Giacomo!« drängte Dori den unbeweglich Dastehenden, »komm mit uns nach der Pension zurück, da setzen wir uns zusammen. Du nimmst vor allem eine Erfrischung, und dann erzählst du mir alles.«

»Nein, nein, ich danke, ich brauche keine Erfrischung«, wehrte Giacomo, »und nach der Pension, wo die vornehmen Herrschaften mit dir wohnen, will ich nicht gehen, Dori, ich weiß schon, was da geht. Ich weiß, daß ein vornehmer Herr da ist, der dein Vetter sein will und der durchaus Freundschaft mit dir machen will, und ich bin kein kleines Kind mehr, ich weiß wohl, was daraus wird, und das will ich nicht sehen und will nicht dabei sein, denn dann darfst du die alten Freunde gewiß nicht mehr kennen. Darum gehe ich nach Amerika. Aber vorher wollte ich dir Lebewohl sagen, ich werde dich wohl nicht mehr sehen.«

Dori schaute mit Erstaunen auf den alten Freund, dem zornige Erregung und Freude des Wiedersehens abwechselnd aus den schwarzen Augen blitzten. Sie nahm ihn besänftigend bei der Hand, wie sie schon in frühen Kinderzeiten zu tun gewohnt war: »Komm mit mir, Giacomo«, sagte sie freundlich, »was du dir für Dinge einbildest, begreife ich nicht. Willst du nicht nach unserer Wohnung kommen, so steigen wir hier zur Kapelle nieder und setzen uns auf die Steinbank, da können wir alles ruhig besprechen.«

Dann führte sie ihn der Stelle zu. Sobald sie sich niedergelassen hatten, wollte sie vor allem wissen, woher er denn die Nachrichten habe, von denen er eben gesprochen und die ihn zu ganz unrichtigen Schlüssen gebracht haben. Sie vernahm nun, daß die Großmutter Maja sie ihm mitgeteilt, und daß sie den Briefen entnommen seien, die Frau Maurizius von Otto erhalten hatte. Dieser bestätigte dann auch eifrig, daß er der Mutter Maurizius alle Erlebnisse von Bordighera und seine Ansichten darüber mitgeteilt hatte. Nun Dori die harmlose Quelle der Nachrichten kannte, konnte sie erst recht unbefangen darüber sprechen, wie irrig sich Giacomo die Sache vorgestellt habe. Sie ließ diese dann auch gern fallen und wünschte nun von ihm zu hören, wie er denn zu dem Gedanken gekommen sei, gerade nach Amerika zu gehen, ob ihn vielleicht Bekannte dort erwarteten. Giacomo hatte sich unterdessen beruhigt und erzählte nun, an Frau Maurizius sei von einem alten Freunde in ihrer Heimat, einem Gärtner Melchior, geschrieben worden, gute Freunde aus Amerika, bei denen er vor Jahren gearbeitet hatte, hätten ihn angefragt, ob er einen Sohn oder Verwandten habe, der sich auf die Gärtnerei so gut verstände wie er, und ob er einen solchen hinüberschicken wollte, wenn er nicht daran denke, noch einmal selbst zu kommen, was sie vor allem begehrten. Daran denke er nun gar nicht, aber an den jungen Gärtner habe er gleich gedacht, von dem Frau Maurizius ihm geschrieben hatte, er gehöre wie zu ihrem Hause. Er meinte, den wollte er am liebsten empfehlen, und er könnte sagen, der junge Mann gehe seinem Glück entgegen. Die Freunde, die ihn für ihre Arbeiten begehrten, seien Männer, bei denen ein Junger nur das Beste sehen und lernen könne.

»Du siehst, Dori«, schloß Giacomo, »wenn es mein Glück ist, so habe ich es dir und deiner Mutter zu danken, wie alles, was ich bin und habe.«

Dori brach in einen völligen Jubel aus: »O, wie freue ich mich!« rief sie aus, »wie freu ich mich! Was vom Gärtner Melchior kommt, das ist gut, das führt zum Rechten. Wenn du zu seinen Freunden kommst, dann bist du gut aufgehoben, dann reise nur, Giacomo, nun ich das weiß, kann ich mit voller Freude an dein Fortgehen denken.«

»Also soll ich gehen, Dori, du bist ganz dafür? Siehst du, deswegen bin ich eigentlich auch hierher gekommen, um dich noch zu beraten, ob ich es tun soll. Frau Maurizius und die Großmutter waren beide gleich erfreut über den Antrag; aber ich wollte doch zuerst noch wissen, was du dazu sagst«, setzte Giacomo in der alten, kindlichen Weise hinzu, »du hast doch immer am besten gewußt, was gut für mich war.«

»Ja, das ist nun etwas sehr Gutes!« sagte Dori bestimmt. »Nun kommst du in die Welt hinaus und siehst so viel Neues und kannst so viel lernen! Wie neu und reich wird dir das Leben vorkommen, wenn du nun in die weite Welt hinaus kommst, wo du so viel sehen wirst, das du nie kennen lernen würdest, wenn du für immer in Pallanza und Cavandone sitzen bleiben müßtest, und später kannst du ja wieder in die Heimat zurückkehren.«

»Ja, und ich wollte den sehen, der in Cavandone bleiben möchte, wenn du nicht mehr dort bist«, fiel Giacomo ein.

»Laß doch diese Einbildung fahren«, sagte Dori rasch. »Erzähl mir nun, wohin du zunächst reisen wirst, oder kehrst du noch einmal nach der Heimat zurück?«

Giacomo berichtete, nun gehe er nicht mehr heim, da Dori ihm so bestimmt zum Fortgehen rate, werde er gleich den Bergen zu und hinüber nach dem Engadiner Tal zum Gärtner Melchior reisen. Dieser hätte ihn dazu aufgefordert, denn er wünschte noch alles mit ihm zu besprechen; er hätte ihm wohl auch noch manchen guten Rat zu erteilen.

»O du gehst zu meinem guten alten Freund Melchior, den mußt du tausendmal von mir grüßen«, rief Dori aus, »und mußt ihm sagen, daß ich von Jahr zu Jahr hoffe und wünsche, ihn wiederzusehen, und daß ich ihm hundertmal im stillen danke für das Gute, das er an mir getan hat.«

»Das muß ein Rechter sein, von dem du so sprichst, zu dem geh' ich gern«, sagte Giacomo.

»Und dann tust du mir wohl noch einen Gefallen«, fuhr Dori mit Lebhaftigkeit fort, »weil du doch dort so nahe bei meinen Verwandten bist, denn Sint, wo der Gärtner Melchior wohnt, ist nicht weit von Schuls, er zeigt dir gewiß den Weg dahin. Dann suchst du meine alte Urgroßmutter auf, sie nennen sie alle die Nonna, und bringst ihr meinen Gruß und sagst ihr auch, sie soll mir vor allen meinen lieben Vetter Niklaus grüßen und auch die anderen Verwandten. O wie liegt die Zeit so weit hinter mir, da ich dort in Schuls lebte, und doch stehen sie mir alle so frisch im Gedächtnis, mit denen ich dort zusammen war, und das Land fast noch mehr als die Menschen, nur gerade den Vetter Niklaus und den alten Melchior ausgenommen. Mir ist, ich sehe gerade vor mir den felsigen Pisok, mit den grauen Wolken auf seinem Rücken.«

Giacomo versprach, alles recht auszurichten und noch von Sint aus an Dori zu schreiben und ihr über alles Nachricht zu geben, auch darüber, wie er seine Reise fortsetzen werde. Daß er dann auch bald von drüben schreiben sollte, wie es ihm ergehe, mußte er nun noch bestimmt versprechen. Nun stand er auf, um seinen Weg fortzusetzen, und da er dabei blieb, nicht in das Pensionshaus eintreten zu wollen, hielt ihn Dori auch nicht länger zurück. Ihre herzlichen Abschiedsworte und Ottos lebhafte Glückwünsche zu der weiten Reise nahm Giacomo schweigend hin. Er schüttelte nur die beiden dargebotenen Hände noch einmal und noch einmal, dann zog er seine Straße.

Auch Dori kehrte schweigend an Ottos Seite nach ihrer Wohnung zurück. Die Erinnerungen der vergangenen Zeit waren so lebendig in ihr aufgestiegen, daß ihre Gedanken ganz davon in Anspruch genommen waren. In ihrem Zimmer fand sie einen Brief vor; die Schriftzüge paßten so gut zu den Erinnerungen, die eben in ihr wach geworden waren; wie oft hatte sie dieselben angeschaut und sich eingeprägt, wenn sie in jener oberen Stube, die auf den Pisok hinüberschaute, die Strophen las, die der verehrte Lehrer für die Schülerin hingeschrieben hatte, wo das Buch mangelte. Der Brief war von Doktor Strahl. Er zeigte seine Ankunft mit den Söhnen für den folgenden Tag an. Otto verkündete in seiner Freude die Botschaft so laut und lebhaft bei Tisch, daß jedermann davon in Kenntnis gesetzt und in angenehmer Weise berührt wurde; denn neue Gäste waren nach den langen, wechsellosen Wochen sehr willkommen. So wurde mit allseitiger Spannung der Ankunft der Erwarteten entgegengesehen.

Am folgenden Abend, als der Hotelwagen, der die Fremden bringen sollte, erwartet wurde, wanderten die drei Geschwister Maurizius hin und her auf dem Balkon des Hauses, von dem man bequem die Zufahrt zum Hause übersehen konnte. Nun rollte der Wagen heran. Dori und Otto kamen aus dem Hause herausgelaufen. Ein hochgewachsener Herr schwang sich gewandt vom Wagen herunter.

»Der sieht nicht übel aus«, bemerkte Richard.

»Sogar sehr gut sieht er aus«, sagte seine Schwester Erna, »noch so jugendlich schlank und doch Vater von den zwei aufgeschossenen Bürschchen, wer würde das glauben!«

»In dem lockigen, schwarzen Haar sehe ich aber da und dort glänzende Fäden durchschimmern, das spricht von etwas anderem als von Jugend«, meinte ihr Bruder.

»Du wärest wohl froh, wenn in zehn Jahren solch dichtes Kraushaar deinen Kopf zieren würde, Richard, da nähmest du die Silberfäden gern mit in den Kauf auf deinen Scheitel, er fängt jetzt schon sich zu lichten an«, sagte die Schwester.

Richard strich mit beiden Händen über sein schön gescheiteltes Haar: »So schlimm ist es nicht«, erwiderte er befriedigt. »In zehn Jahren? Ja, so wird's sein; zehn Jahre kann der Herr wohl mehr übernehmen, als ich sie habe, zwölf können es auch sein, vierzig vorüber, da sind meine zwanzig und sieben ein reines Kinderspiel dagegen. Du hast deren noch zwei mehr, Erna.«

»Übertreib doch nicht immer, Richard, anderthalb sind es, gerade so viel, wie du deren mehr hast, als Wera.«

»Seht doch, wie sonderbar«, fiel diese eben ein, »der ältere ist ganz so schwarzlockig wie der Vater, und so ist ja auch der jüngste, und der zweite dort ist völlig hellblond.«

»Das kommt ja vor«, bemerkte Erna; »was ich viel sonderbarer finde, ist, wie lange der Herr dem Fräulein die Hand schüttelt. Er hat ihr ja wohl zu danken, das ist begreiflich, aber ihr gleich beide Hände zu schütteln – dann noch einmal, nun wird's doch genug sein.«

»Und wie dem Fräulein die helle Freude aus den Augen leuchtet, so habe ich meine Cousine noch nicht gesehen!« setzte der Bruder hinzu.

»Sie darf auch zufrieden sein, daß er ihr seine Dankbarkeit in solcher Weise zeigt; das tut nicht jeder, nicht einmal für Dienste, die ganz andere Opfer fordern, als Spazierengehen an der Riviera mit einem Jungen, der ja offenbar gar nicht mehr krank ist«, sagte Erna.

»Damit sind gewiß die Opfer gemeint, die du täglich für meine Erziehung bringst«, setzte Richard schnell ein. »Wer hätte ihm sein Benjaminchen gehütet, wie diese sogenannte Tante es tat! Wie zärtlich der seinen Jungen umfaßt! Wer hätte so 'was hinter dem strammen Herrn mit den Adleraugen gesucht!«

Die Familie war nun ins Haus eingetreten. Auch die drei Geschwister traten hinein, die Glocke zur Abendtafel mußte bald ertönen.

Dori führte die neu Angekommenen erst nach dem Empfangszimmer, denn noch waren ja die Begrüßungen nicht recht zu Ende gekommen; vor dem Hause waren doch nur die ersten, eiligen Worte gewechselt worden. Die drei Brüder hatten sich gleich eine Menge Mitteilungen zu machen, die nun alle zu gleicher Zeit in so lebhafter Weise überliefert wurden, daß kaum einer der Sprecher mehr als seine eigenen Worte verstehen konnte. Doktor Strahl erfaßte noch einmal Doris Hände: »Nun lassen Sie mich endlich ein Wort des Dankes sagen für alles, was Sie für meinen Jungen, was Sie für mich getan haben«, sagte er mit Herzlichkeit. »Wie ist es nur möglich, daß er wieder so frisch vor mir steht, wie damals, als er mir von Cavandone zurückkehrte! Komm her, Otto, laß dich noch einmal recht anblicken!«

Otto stellte sich vor seinen Vater hin.

»Weißt du auch, mein Junge, welchen Dank wir der Tante Dori schulden? Wie anders schaust du mich an, als da du abreistest! Du bist ja wieder ein ganz anderer Mensch geworden!«

»Wir haben auch schöne Tage hier zusammen verlebt, nicht, Otto?« sagte Dori. »Die haben wir Ihnen zu danken, Herr Doktor.«

»Sie haben mir zu danken? Das ist ganz, wie Sie sind, aber auch nur Sie, Fräulein Dori! – Darf ich Sie denn auch noch so nennen?«

»Ob Sie dürfen, Herr Doktor?« entgegnete Dori. »Wenn Sie mich anders nennen würden, müßte ich denken, ich sei für Sie eine Fremde geworden, Sie haben die vergangenen Tage ganz vergessen.«

»Vergessen«, wiederholte der Doktor, »wie sollte ich jene schönen Tage in dem lieben, stillen Schuls je vergessen! Jene Tage, da Sie meine Schülerin und Lehrerin zu gleicher Zeit waren!«

»O Herr Doktor, Ihre Schülerin war ich jederzeit«, rief Dori aus, »auch dann, wenn Sie meinten, Sie wollten das Italienische von mir erlernen. Ich weiß am besten, was ich Ihnen von meiner Kenntnis dieser Sprache zu verdanken habe.«

»Ja, Papa, es war so prachtvoll, wie wir's zusammen hier hatten!« fiel nun Otto ein, »es gibt nur eines auf der Welt, das noch schöner ist, das ist unser Leben in Cavandone! Wenn du nur einmal dahin kommen wolltest, dann wüßtest du's.«

»Papa, nun möchten wir auch einmal diese Tante begrüßen, wir kennen sie eigentlich schon recht gut, Otto hat ja von niemand anders gesprochen, seit wir wieder daheim sind.« Mit diesen Worten trat der älteste der Brüder vor Dori hin und machte eine Verbeugung.

Dori reichte ihm die Hand, die er nun kräftig schüttelte. Der Blick der lebendigen, dunklen Augen, der frei erhobene, von reichem Kraushaar umrahmte Kopf, kam ihr vom Vater und seinem Jüngsten her so bekannt vor, daß auch sie die Hand des aufgeschossenen Bürschchens wie die eines alten Bekannten drückte und schüttelte.

»Es ist wahr, die Vorstellung vor dem Hause war so flüchtig, daß man kaum Bekanntschaft machen konnte«, sagte Doktor Strahl, »komm heran, Waldemar, begrüße auch du Fräulein Maurizius.«

Ein noch schlankeres, etwas kleineres Bürschchen als der Älteste stellte sich mit stummer Verbeugung vor Dori hin. Sie hielt ihm ihre Hand entgegen. Er berührte sie kaum und zog sich wieder zurück.

»Er ist seinen Brüdern nicht gleich, das finden Sie wohl auch«, sagte Doktor Strahl zu Dori gewandt. »Er ist das Bild meiner seligen Großmutter, einer Pastorenfrau, deren wohltuend sanfte Stimme mir unvergeßlich ist. Sie war eine stille, nach innen gekehrte Natur. Nicht nur äußerlich trägt Waldemar ihr Gepräge.«

Der Ruf zur Tafel hatte erklungen. Doktor Strahl zog sich mit seinen Söhnen vorerst in seine Zimmer zurück, noch hatten sie sich ja ihrer Reiseanzüge zu entledigen.

Die neuen Gäste, die etwas spät zu Tische erschienen waren, saßen noch mit Dori und Otto zusammen im Speisezimmer, nachdem die anderen Tischgenossen es alle verlassen hatten. Es war keiner der hellen Abende, die in den dufterfüllten Garten hinauslockten. Ein leichter Gewitterregen war gefallen, die Wege waren feucht und am Himmel standen noch drohende Wolken, aus denen dann und wann ein heller Blitz aufleuchtete.

»An solchen Abenden versammelt man sich wohl im Gesellschaftszimmer, da werden Sie mit den Gästen, die hier zu Tische saßen, gute Bekanntschaft geschlossen haben«, meinte Doktor Strahl.

Dori sagte, bis jetzt habe sie, der Vorschrift des Arztes gemäß, Otto dazu angehalten, sich früh zurückzuziehen, was sie dann natürlich auch getan habe.

»Das werden Sie doch nicht so ausgeführt haben, daß Sie dann in Ihrem Zimmer blieben und die ganzen Abende die Gesellschaft nicht aufsuchten? Doch? So taten Sie mit allen Ihren Abenden, seit Sie hier sind?« rief der Doktor aus. »Otto, hast du denn nicht gewünscht, daß deine Tante Dori zur Gesellschaft zurückkehre und sie darum gebeten? Hast du es dulden können, daß sie um deinetwillen allem gesellschaftlichen Verkehr entsage?«

»Otto hat wirklich versucht, mich zur Gesellschaft zu schicken, damit ich Musik hören könnte«, sagte Dori schnell, »aber ich habe es vorgezogen, für mich zu bleiben, es war durchaus mein eigener Wunsch.«

Der Doktor schaute Dori mit seinen durchdringenden Augen an, er sagte nichts mehr.

»Eben jetzt höre ich Musik von drüben her ertönen, wir wollen doch hinübergehen, Papa«, drängte Oskar.

»Wenn es Ihnen recht ist, Fräulein, so gehen wir«, sagte der Doktor, »Otto ist entschieden nun auch so weit, daß er mit uns bleiben kann.«

Das war auch Doris Ansicht. Voller Freude hing sich Otto an des Vaters Arm, um ihm den Weg zu zeigen. Aber Tante Dori mußte vorausgehen, das wollte der Vater haben. Eben ging die laut tönende Sonate zu Ende, die von den englischen Damen gespielt wurde, als Dori die Tür zum Gesellschaftszimmer aufmachte und eintrat.

»Wunder der Wunder, unsere Cousine erscheint im Gesellschaftssaal!« rief eine Stimme so laut, daß aller Augen sich auf die Eintretende richteten. Herr Maurizius, der den Ausruf getan, war aufgesprungen und kam Dori entgegen. »Nun stellen Sie uns dem großen Mann vor, der das Wunder bewerkstelligt hat; wir finden alle, er ist eine sehr sympathische Erscheinung«, setzte er flüsternd hinzu.

Dori erfüllte den Wunsch. Auch die Schwestern Maurizius hatten sich erhoben, da der Bruder ihnen die neuen Gäste zuführte; es folgte eine allseitige Vorstellung.

»So haben Sie Verwandte hier gefunden, Fräulein?« sagte Doktor Strahl verwundert zu Dori gewandt, die zurückgetreten war, da Herr Maurizius die ferneren Vorstellungen übernommen hatte.

»Gewiß, Herr Doktor«, fiel dieser schnell ein, »wir haben uns gefreut, unerwartet eine Cousine hier zu treffen, und heute freuen wir uns darüber, daß endlich ihrer Klausur ein Ende gemacht wird; kein heiliger Antonius konnte zäher an der seinigen festhalten.«

Die Blicke der Schwester Erna hätten den Sprecher schon längst in seiner Rede aufhalten sollen, er hatte sie aber nicht bemerkt. Jetzt bot er Dori einen Lehnstuhl an, der neben dem seinen stand. Fräulein Erna lud mit einer graziösen Handbewegung den Doktor ein, sich neben ihr niederzulassen. Die älteren Jungen setzten sich, wo sie Plätze fanden. Otto hatte sich gleich hinter den Stuhl gestellt, auf den Dori sich niedergelassen, da blieb er stehen.

»Du mußt dich setzen, Otto, das geht nicht«, sagte Dori. Sie erhob sich und schaute nach einem Sessel aus. In dem Augenblick stand Doktor Strahl rasch auf, er mußte Doris Bewegungen beobachtet und verstanden haben; schnell ging er dem andern Ende des Saales zu, wo freie Sessel standen. Oskar, der bemerkte, wohin der Vater zielte, wollte ihm zuvorkommen und lief durch den Saal; Herr Maurizius hatte sich schon auf einen Lehnstuhl gestürzt; Otto, von Dori geheißen, war ihm nachgelaufen.

»What a fuss! Es ist wohl der Mühe wert«, sagte Fräulein Erna mit verächtlichem Lächeln zu ihrer Schwester gewandt.

»Es sind eben alle sehr höfliche Herren, unser Bruder nicht ausgenommen«, entgegnete diese, eher anerkennend.

»Daß man aber einem jungen Bengel nicht sagen kann: ›Hol dir einen Sessel‹, sondern umherschauen muß, bis die ganze Gesellschaft auf den Füßen ist, das zeigt ein bißchen zu viel Mangel an allem Schicklichkeitsgefühl«, sagte Erna ärgerlich.

Die Herren waren auf ihre Sitze zurückgekehrt, die Ruhe war wieder hergestellt.

Dori entschuldigte sich bei ihrem Nachbar für die Störung, die sie verursacht hatte. Sie hätte sich nur umsehen wollen, wo noch ein Sessel zu finden wäre, denn sie wüßte wohl, daß ein Junge, der am fremden Ort zum erstenmal im Gesellschaftssaal erscheine, lieber einen ganzen Abend lang stehen bleiben würde, als daß er sich zwischen all den Gästen durchwindend nach einem Gegenstand suchen würde, von dem er gar nicht einmal sicher wisse, ob er zu finden sei.

»Das ist ganz wahr«, sagte Richard lachend, »wie können Sie nur die Empfindungen eines Jungen so gut kennen, da Sie doch niemals ein solcher gewesen sein können?«

»Das ist sehr einfach«, erwiderte Dori, »wenn man einen Jungen lieb hat, so merkt man recht gut, wie ihm zumute ist, bei allem, das man mit ihm durchlebt.«

Doktor Strahl sprach Erna sein Bedauern darüber aus, daß die Musik so bald verstummt war. Er fragte, ob die Damen Maurizius der Gesellschaft nicht die Freude machen wollten, ihr etwas vorzuspielen.

»Meine Schwester singt mehr als sie spielt«, sagte Fräulein Wera.

Der Doktor bezeugte seine besondere Freude darüber, das sei die Musik, die er jeder andern vorziehe, sagte er und bat nun besonders dringend, Fräulein Erna möchte sich hören lassen. Sie erhob sich und trat ans Klavier, Wera folgte ihr und setzte sich hin; sie war gewohnt, die Schwester zu begleiten.

»Lieben Sie Schubert, Herr Doktor?« fragte Erna, sich nach ihm umwendend, so, als hätte sie nur für den Doktor zu singen.

»Gewiß, sehr, ich bitte um einige seiner Lieder«, entgegnete er.

Erna sang. Sie hatte eine volltönende, umfangreiche Stimme, die vortrefflich ausgebildet worden war. Sobald ein Lied zu Ende ging, brachen die Engländer in einen Beifallssturm aus. Es wurde ein neues begehrt. Das Entzücken wurde immer lebhafter, immer wollte man noch mehr hören. Eben hatte die Sängerin wieder geendet; sie wandte sich zur Gesellschaft um. Doktor Strahl saß mit gekreuzten Armen in Lauschen versunken in seinem Lehnstuhl. Die Engländer fingen nochmals leidenschaftlich zu klatschen an.

»Herr Doktor, haben Sie noch einen besondern Wunsch?« fragte Fräulein Erna, »sonst möchte es wohl für heute genug des Gesanges sein.«

»Singen Sie: ›Über allen Wipfeln ist Ruh'‹?« fragte der Doktor.

»Gewiß und gern«, war die Antwort.

Dann ertönte das Lied. Als es zu Ende gesungen war, stand der Doktor auf. Er näherte sich Fräulein Erna und drückte ihr in verbindlichster Weise seinen Dank aus für den Genuß, den sie ihm bereitet hatte. Dann trat er ans Fenster und schaute auf den Garten hinaus. Der Mond trat aus den Wolken und schimmerte auf den ausgebreiteten Zweigen der Palme mitten im Garten und über die geschlossenen Kelche der schlafenden Blumen; dann verschwand er wieder in den Wolken.

Fräulein Erna hatte die englischen Damen gebeten, nun noch einiges zu spielen. Sie setzten sich hin und spielten laute, schwere Stücke aus allerlei Opern. Doktor Strahl verließ ganz leise das Zimmer. Bei jeder Pause klatschte Herr Maurizius enthusiastischen Beifall und rief dringend: da capo! da capo! Er hatte während der ganzen Zeit unter der Stimme an Dori herangeredet und wünschte, die Unterhaltung fortzusetzen. Dori hatte die Schlußakkorde eines Stückes abgewartet, dann war sie schnell aufgestanden. Ihr Nachbar wollte sie überzeugen, daß der Abend noch gar nicht als beendet betrachtet werden könne; aber sie sagte, die jungen Herren müssen müde sein von ihrer Reise und blieb dabei, sich zurückziehen zu wollen. Sehr bereitwillig folgten die beiden Jungen Doris Wink. Oskar hatte längst seine Augen suchend nach allen Seiten gerollt, ob nicht irgendwie ein Entrinnen möglich wäre. »Ach die schöne Luft!« rief er hoch aufatmend aus, als er die Saalthüre hinter sich geschlossen hatte und den Korridor entlang lief, durch dessen weit geöffnete Fenster der Blütenduft in ganzen Wogen aus dem Garten hereinströmte. »Ob man noch einen Sprung in den Garten tun dürfte? Was meinen Sie?« fragte Oskar. »Wenn man doch wüßte, wo der Papa hingekommen ist!«

»Ich glaube, er geht selbst draußen im Garten hin und her«, sagte Dori.

»Meinen Sie? Herrlich!«

Oskar war schon draußen. Richtig, dort ging der Vater rasch immer denselben Weg, den Reihen der jungen Orangen- und Zitronenbäume entlang, hin und her. Oskar lief auf ihn zu. Dori kam mit Otto langsam nach.

»Wenn es Ihnen recht ist, Herr Doktor, so ziehe ich mich mit Otto zurück, ich glaube, es ist besser für ihn, als noch länger dazubleiben«, sagte Dori.

»Gewiß, alles ist mir recht, was Sie mit dem Jungen tun«, entgegnete der Doktor; »es ist wohl auch für die anderen Jungen Zeit zur Ruhe zu gehen, wir sind ja weit gereist heute. Ich danke Ihnen, daß Sie mich daran erinnern, ich hätte mich wohl noch länger vergessen, unter diesen lieblich duftenden Bäumen umherwandernd. Es ist recht gut, daß Sie gekommen sind.«

Nun ging man zusammen dem Hause zu.

»Wo ist Waldemar?« fragte der Vater seinen Ältesten.

»Ich weiß nicht«, antwortete dieser, »ich glaube, er blieb im Haus zurück. Du weißt, Papa, er bleibt immer irgendwo zurück.«

An die Tür des Hauses gelehnt stand Waldemar und schaute regungslos vor sich hin.

»Komm, Waldemar«, sagte der Vater, ihn bei der Hand nehmend und mit sich führend, »du bist wohl müde. Morgen wirst du dich mit uns freuen all der herrlichen Blumen und Bäume und der Schönheit des Landes –«.

»Und des Meeres, Papa, vergiß das Meer nicht«, fiel Oskar ein, »da müssen wir morgen vor allem hin.«

Oben an der Treppe angekommen, schüttelte man sich allseitig die Hände zum Abschied für diesen Tag.

Dori hatte längst ihren letzten Besuch bei Otto gemacht. Sie hatte sich in ihrem Zimmer an das offene Fenster hingesetzt; da saß sie noch und schaute träumend in den stillen Garten hinaus. Doktor Strahls Erscheinen hatte alle die Erinnerungen, die eben in ihr wach gerufen worden, noch viel lebendiger angefacht. Sie hatte ihn nicht wiedergesehen seit jenem Tag in Schuls, da er ihr Haus verlassen und eine ungeheure Leere zurückgelassen hatte. Noch jetzt konnte sie jene Leere nachempfinden, als sie wußte, sie würde nun den Schritt nie mehr draußen hören, auf den sie täglich lauschte, denn er brachte ihr die schönste Stunde des Tages: Doktor Strahl ging dann auf sein Zimmer, um sie droben zur Unterrichtsstunde zu erwarten.

»Tante Dori«, rief Otto jetzt auf einmal, »wie kannst du etwas wissen, von dem man gar nichts weiß und das keiner erraten könnte?«

»Schläfst du denn noch nicht?« rief Dori zurück, »es fehlt dir doch nichts? Was soll ich denn besser erraten können als andere?«

»Wenn doch Papa kein Wort gesagt hat und niemand etwas von ihm wußte, wie hast du denn erraten, daß er im Garten war?«

»Das ist ganz einfach«, erwiderte Dori. »Als dein Papa das Musikzimmer verlassen hatte, hörte ich gleich darauf seinen Schritt im Garten, das Fenster war ja offen. Nun sollst du schlafen und nicht allerlei unnützen Dingen nachdenken, mein Junge!« Nur irgendwelche Aufregung und sein Schlaf ist wieder weg, sagte sie bei sich. Aber heute ging es Dori nicht anders als ihrem Jungen. Sie hatte sich längst niedergelegt und die Gedanken des Tages abgetan, wie sie dachte; aber der Schlaf kam nicht auf ihre Augen und die abgetanen Gedanken stiegen leise wieder auf, und wenn Dori meinte, nun sei die gewohnte Stille bei ihr eingekehrt, zogen plötzlich wieder die lebendig gewordenen Erinnerungen, allen Schlaf verscheuchend, an ihr vorüber.


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