Johanna Spyri
Heimatlos
Johanna Spyri

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Sechstes Kapitel.

Das Alte und auch etwas Neues.

Der Sommer war vergangen und auch die schönen Herbsttage waren wohl zu Ende. Es wurde kühl und nebelig am Abend, und in den feuchten Wiesen fraßen die Kühe das letzte Gras ab, und hier und da flackerten auf den Wiesen kleine Feuer auf, denn die Hirtenbuben brieten Kartoffeln da und wärmten sich die Hände.

An einem solchen nebelgrauen Abend kam Otto aus der Schule heimgerannt und erklärte seiner Mutter, er müsse nachsehen, was das Wiseli mache, denn seit den Herbstferien war es noch gar nie in die Schule gekommen, wohl acht Tage lang nicht. Otto steckte seine Vesperäpfel zu sich und eilte fort. Am Buchenrain angekommen, sah er den Rudi vor der Haustür am Boden sitzen und von einem Haufen Birnen, die neben ihm lagen, eine nach der anderen zerbeißen.

»Wo ist das Wiseli?« fragte Otto.

»Draußen«, war die Antwort.

»Wo draußen?«

»Auf der Wiese.«

»Auf welcher Wiese?«

»Ich weiß nicht«, und Rudi knackte weiter an seinen Birnen.

»Du stirbst einmal nicht am Gescheitsein«, bemerkte Otto und ging aufs Geratewohl die große Wiese hin, die sich vom Haus bis gegen den Wald hinaufzog. Jetzt entdeckte er drei schwarze Punkte unter einem Birnbaum und ging darauf zu. Richtig, da bückte sich Wiseli, um die Birnen zusammenzulesen, dort saß der Chäppi rittlings auf seinem Birnenkratten, und zuhinterst lag der Hans rücklings über den vollen Korb hin und schaukelte sich so darauf, daß der Korb jeden Augenblick umzustürzen drohte. Chäppi sah ihm zu und lachte bei jedem Rucke.

Als Wiseli den Otto herankommen sah, kam ein ganzer Sonnenschein auf sein Gesicht. »Guten Abend, Wiseli«, rief er von weitem, »warum bist du so lange nicht in die Schule gekommen?« Wiseli streckte ganz erfreut dem Otto die Hand entgegen. »Wir haben so viel zu tun, darum durfte ich nicht kommen«, sagte es; »sieh nur, wieviel Birnen es gibt! Ich muß vom Morgen bis zum Abend auflesen, soviel ich nur kann.«

»Du hast ja ganz nasse Schuhe und Strümpfe«, bemerkte Otto; »bah, hier ist's nicht gemütlich, frierst du nicht, wenn du so naß bist?«

»Es schaudert mich nur manchmal ein wenig, sonst ist es mir eher heiß vom Auflesen.« In diesem Augenblick gab der Hans seinem Korb einen solchen Ruck, daß alles übereinander auf den Boden hinrollte; der Hans, der Korb und alle Birnen, die fuhren nach allen Richtungen hin.

»Oh, oh!« sagte Wiseli kläglich, »nun muß man die alle wieder zusammenlesen.«

»Und die auch«, rief Chäppi und lachte heraus, als die Birne, die er geworfen hatte, dem Wiseli an die Schläfe fuhr, daß es ganz bleich wurde und ihm vor Schmerz das Wasser in die Augen kam. Kaum hatte Otto das gesehen, als er auf den Chäppi losfuhr, ihn samt seinem Kratten umwarf und ihn fest im Genick packte. »Hör auf, ich muß ersticken«, gurgelte der Chäppi; jetzt lachte er nicht mehr. – »Ich will machen, daß du daran denkst, daß du es mit mir zu tun hast, wenn du so mit dem Wiseli verfährst«, rief Otto zornglühend. »Hast du genug? Willst du daran denken?« – »Ja, ja, laß nur los!« bat Chäppi, mürbe gemacht. Nun ließ Otto los. »Jetzt hast du's gespürt«, sagte er; »wenn du dem Wiseli noch einmal etwas zuleide tust, so packe ich dich so, daß du noch einen Schrecken hast davon, wenn du siebzig Jahr alt bist. Leb wohl, Wiseli.« Damit kehrte sich Otto um und ging mit seinem Zorn nach Hause.

Hier suchte er gleich seine Mutter auf und schüttete seine ganze Empörung vor ihr aus, daß das Wiseli eine solche Behandlung erdulden müsse. Er war auch ganz entschlossen, auf der Stelle zum Herrn Pfarrer zu gehen und den Vetter-Götti und seine ganze Familie anzuklagen, daß man ihnen das Wiseli entreiße. Die Mutter hörte ruhig zu, bis Otto sich ein wenig abgekühlt hatte, dann sagte sie:

»Sieh, lieber Junge, das würde gar nichts nützen, das Kind würde man dem Vetter-Götti nicht wegnehmen, nur ihn reizen, wenn er so etwas hörte. Er meint es selbst nicht böse mit dem Kinde, und es ist kein genügender Grund da, ihm Wiseli ganz wegzunehmen. Ich weiß wohl, daß das arme Kind jetzt ein hartes Brot ißt, ich habe es auch gar nicht vergessen, ich schaue immer danach aus, ob mir der liebe Gott nicht einen Weg auftue, da dem Kinde in einer gründlichen Weise könnte geholfen werden; die Sache liegt mir auch am Herzen, das kannst du glauben, Otto. Wenn du unterdessen das Wiseli schützen und den rohen Chäppi ein wenig zähmen kannst, ohne selbst dabei roh zu werden, so bin ich ganz damit einverstanden.«

Otto beruhigte sich am besten im Gedanken, daß die Mutter doch auch immerfort nach einem anderen Wege für das Wiseli ausschaute. Er selber dachte alle möglichen Rettungswege aus, aber alle führten in die Luft hinauf und hatten keinen Boden, und er sah ein, daß das Wiseli da nicht darauf wandeln konnte, und als er dann zu Weihnachten seine Wünsche aufschreiben durfte, da schrieb er ganz desperat mit ungeheuren Buchstaben, so als müßte man sie vom Himmel herunter lesen können, auf sein Papier: »Ich wünsche, daß das Christkind das Wiseli befreie.«

Nun war der kalte Januar wieder da und der Schlittweg war so prächtig glatt und fest, daß die Kinder gar nicht genug bekommen konnten, die herrliche Bahn zu benutzen. Es kam auch eben eine helle Mondnacht nach der anderen, und Otto hatte auf einmal den Einfall, am allerschönsten müßte das Schlittenfahren im Mondschein sein die ganze Gesellschaft sollte sich am Abend um sieben Uhr zusammenfinden und die Mondscheinfahrten ausführen, denn es war der Tag des Vollmonds, da mußte es prächtig werden. Mit Jubel wurde der Vorschlag angenommen und die Schlittbahngenossen trennten sich gegen fünf Uhr wie gewöhnlich, da die Nacht einbrach, um sich um sieben Uhr wieder zusammenzufinden. Weniger Anklang fand der Vorschlag bei Ottos Mutter, als er ihr mitgeteilt wurde, und sie wurde gar nicht von der Begeisterung hingerissen, mit welcher die Kinder beide auf einmal und in den lautesten Tönen ihr das Wundervolle dieser Unternehmung schilderten. Sie stellte ihnen die Kälte des späten Abends vor, die Unsicherheit der Fahrten bei dem ungewissen Licht und alle Gefahren, die besonders das Miezchen bedrohen könnten. Aber die Einwendungen entflammten immer mehr den brennenden Wunsch, und Miezchen flehte, als hinge seine einzige Lebensfreude an dieser Schlittenfahrt; Otto versprach auch hoch und teuer, er würde dem Miezchen nichts geschehen lassen, sondern immer in seiner nächsten Nähe bleiben. Endlich willigte die Mutter ein. Mit großem Jubel und wohlverpackt zogen die Kinder ein paar Stunden nachher in die helle Nacht hinaus. Es ging alles ganz nach Wunsch, die Schlittbahn war unvergleichlich, und das Geheimnisvolle der dunkeln Stellen, wo der Mondschein nicht hinfiel, erhöhte den Reiz der Unternehmung. Eine Menge Kinder hatte sich eingefunden, alle waren in der fröhlichsten Stimmung. Otto ließ sie alle vorausfahren, dann kam er und zuletzt mußte das Miezchen kommen, damit ihm keiner in den Rücken fahren konnte; so hatte es Otto eingerichtet, er konnte dabei auch immer von Zeit zu Zeit mit einem schnellen Blick gewahren, ob Miezchen richtig nachkomme. Als nun alles so herrlich vonstatten ging, fiel einem der Buben ein, nun müßte einmal der ganze Zug »anhängen«, nämlich ein Schlitten an den anderen gebunden werden und so herunterfahren, das müßte im Mondenschein ein ganz besonderes Juxstück abgeben. Unter großem Lärm und allgemeiner Zustimmung ging man gleich ans Werk. Für Miezchen fand Otto die Fahrt doch ein wenig gefährlich, denn manchmal gab es dabei einen großartigen Umsturz sämtlicher Schlitten und Menschen darauf; das konnte er für das kleine Wesen nicht riskieren. Er ließ seinen Schlitten zuletzt anbinden, der Miezchens aber wurde freigelassen. So fuhr es, wie immer, hinter dem Bruder her, nur konnte er jetzt nicht, wie sonst, seinen Schlitten langsamer fahren lassen, wenn Miezchen zurückblieb, denn er war in der Gewalt des Zuges. Jetzt ging es los, und herrlich und ohne Anstand glitt die lange, lange Kette die glatte Bahn hinunter.

Mit einem Mal hörte Otto ein ganz furchtbares Geschrei, und er kannte die Stimme wohl, die es ausstieß, es war Miezchens Stimme. Was war da geschehen? Otto hatte keine Wahl, er mußte die Lustpartie zu Ende machen, wie groß auch sein Schrecken war. Aber kaum unten angelangt, riß er sein Schlittenseil los und rannte den Berg hinan; alle anderen hinter ihm drein, denn fast alle hatten das Geschrei vernommen und wollten auch sehen, was los war. An der halben Höhe des Berges stand das Miezchen neben seinem Schlitten und schrie aus allen seinen Kräften und weinte ganze Bäche dazu. Atemlos stürzte Otto nun herzu und rief: »Was hast du? Was hast du?«

»Er hat mich – er hat mich – er hat mich«, schluchzte Miezchen und kam nicht weiter vor innerem Aufruhr.

»Was hat er? Wer denn? Wo? Wer?« stürzte Otto heraus.

»Der Mann dort, der Mann, er hat mich – er hat mich totschlagen wollen und hat mir – und hat mir – furchtbare Worte nachgerufen.«

So viel kam endlich heraus unter immer neuem Geschrei.

»So sei doch nur still jetzt, hör' Miezchen, tu' doch nicht so, er hat dich ja doch nicht totgeschlagen; hat er dich denn wirklich geschlagen?« fragte Otto ganz zahm und teilnehmend, denn er hatte Angst.

»Nein«, schluchzte Miezchen, neuerdings überwältigt: »aber er wollte, mit einem Stecken, – so hat er ihn ausgestreckt und hat gesagt: ›Wart du!‹ Und ganz furchtbare Worte hat er mir nachgerufen.«

»So hat er dir eigentlich gar nichts getan«, sagte Otto und atmete beruhigt auf.

»Aber er hat ja – er hat ja – und ihr wart alle schon weit fort, und ich war ganz allein«, – und vor Mitleid für seinen Zustand und nachwirkendem Schrecken brach Miezchen noch einmal in lautes Weinen aus.

»Bscht! Bscht!« beschwichtigte Otto: »sei doch still jetzt, ich gehe nun nicht mehr von dir weg, und der Mann kommt nicht mehr, und wenn du nun gleich ganz still sein willst, so geb' ich dir den roten Zuckerhahn vom Christbaum, weißt du?«

Das wirkte. Mit einem Male trocknete Miezchen seine Tränen weg und gab keinen Laut mehr von sich, denn den großen, roten Zuckerhahn vom Christbaum zu erlangen, war Miezchens allergrößter Wunsch gewesen, er war aber bei der Teilung auf Ottos Teil gefallen und Miezchen hatte den Verlust nie verschmerzen können. Wie nun alles im Geleise war und die Kinder den Berg hinanstiegen, wurde verhandelt, was es denn für ein Mann könne gewesen sein, der das Miezchen habe totschlagen wollen.

»Ach was, totschlagen«, rief Otto dazwischen; »ich habe schon lange gemerkt, was es war, wir haben ja im Herunterfahren den großen Mann mit dem dicken Stock auch angetroffen, er mußte unseren Schlitten ausweichen in den Schnee hinein, das machte ihn böse, und wie er dann hintenan das Miezi allein antraf, hat er es ein wenig erschreckt und seinen Zorn an ihm ausgelassen.«

Die Erklärung fand allgemeine Zustimmung, das war ja so natürlich, daß jedes meinte, es sei ihm selber so in den Sinn gekommen; so ward auch die Sache gleich völlig vergessen und lustig drauf los geschlittet. Endlich aber mußte auch dies Vergnügen ein Ende nehmen, denn es hatte längst acht Uhr geschlagen, die Zeit, da aufgebrochen werden sollte. Im Heimweg schärfte der Otto dem Miezchen ein, zu Hause nichts zu erzählen von dem Vorfall, sonst könnte die Mutter Angst bekommen, und dann dürften sie gar nie mehr im Mondschein schlitten gehen; den Zuckerhahn müsse es gleich haben, aber noch daraufhin versprechen, nichts zu erzählen. Miezchen versprach hoch und teuer, kein Wort sagen zu wollen; die Spuren seiner Tränen waren auch längst vergangen und konnten nichts mehr verraten.

Längst schon schliefen Otto und Miezchen auf ihren Kissen, und der rote Zuckerhahn spazierte durch Miezchens Träume und erfüllte sein Herz mit einer so großen Freude, daß es jauchzte im Schlaf. Da klopfte es unten an die Haustür mit solcher Gewalt, daß der Oberst und seine Frau vom Tisch auffuhren, an dem sie eben in Gemütlichkeit gesessen und sich über ihre Kinder unterhalten hatten, und die alte Trine in strafendem Tone oben zum Fenster hinausrief: »Was ist das für eine Manier!«

»Es ist ein großes Unglück begegnet«, tönte es von unten herauf; »der Herr Oberst soll doch herunterkommen, sie haben den Schreiner Andres tot gefunden.«

Damit lief der Bote wieder davon. Der Oberst und seine Frau hatten genug gehört, denn auch die hatten sich dem offenen Fenster genähert. Augenblicklich warf der Oberst seinen Mantel um und eilte dem Hause des Schreiners zu. Als er in die Stube hineintrat, fand er schon eine Menge Leute da; man hatte den Friedensrichter und Gemeindammann geholt, und eine Schar Neugieriger und Teilnehmender war mit ihnen eingedrungen. Andres lag am Boden im Blute und gab kein Lebenszeichen von sich; der Oberst näherte sich.

»Ist denn jemand nach dem Doktor gelaufen?« fragte er, »hier muß vor allem der Doktor her.«

Es war niemand dahin gegangen; da sei ja doch nichts mehr zu machen, meinten die Leute.

»Lauf, was du kannst, zum Doktor«, befahl der Oberst einem Burschen, der dastand; »sag ihm, ich lass' ihn bitten, er soll auf der Stelle kommen.« Dann half er selbst den Andres vom Boden aufheben und in die Kammer hinein auf sein Bett legen. Erst jetzt trat der Oberst an die schwatzenden Leute heran, um zu hören, wie der Vorfall sich zugetragen hatte, ob jemand etwas Näheres wisse. Der Müllerssohn trat vor und erzählte, er sei vor einer halben Stunde da vorbeigekommen, und da er noch Licht gesehen in des Schreiners Stube, habe er im Vorbeiweg schnell fragen wollen, ob seine Aussteuersachen auch zur Zeit fertig werden. Er habe die Tür der Stube offen stehend, den Andres tot im Blut liegend am Boden gefunden. Der Matten-Joggi, der dabeistand, habe ihm lachend ein Goldstück entgegengestreckt, wie er hereingetreten sei. Er habe dann nach Leuten gerufen, daß der Gemeindammann auf den Platz komme und wer sonst noch dahin gehöre.

Der Matten-Joggi, der so hieß, weil er unten in der Matte wohnte, war ein völlig törichter Mensch, der damit ernährt wurde, daß ihn die Bauern in den geringen Geschäften etwa mithelfen ließen, wo Steine und Sand herumzutragen, Obst aufzulesen, oder im Winter Holzbündelchen zu machen waren. Daß er boshafte Taten ausgeübt hätte, hatte man bis jetzt nicht gehört. Der Müllerssohn hatte ihm gesagt, er solle da bleiben, bis auch der Präsident noch da sein werde. So stand Joggi noch immer in einer Ecke, hielt seine Faust fest zugeklemmt und lachte halblaut. Jetzt trat der Doktor in die Stube und hinter ihm her auch noch der Präsident. Der Gemeindevorstand stellte sich nun mitten in die Stube und beratschlagte. Der Doktor ging direkt in die Kammer hinein und der Oberst folgte ihm nach. Der Doktor untersuchte genau den unbeweglichen Körper.

»Da haben wir's«, rief er auf einmal aus, »hier auf den Hinterkopf ist Andres geschlagen worden, da ist eine große Wunde.«

»Aber er ist doch nicht tot, Doktor, was sagst du?«

»Nein, nein, er atmet ganz leise, aber er ist bös dran.«

Nun wollte der Doktor allerlei haben, Wasser und Schwämme und Weißzeug und noch vieles, und die Leute draußen liefen alle durcheinander und suchten und rissen alles von der Wand und aus dem Küchenkasten und brachten Haufen von Sachen in die Kammer hinein, aber nichts von dem, was der Doktor brauchte.

»Da muß eine Frau her, die Verstand hat und weiß, was ein Kranker ist«, rief der Doktor ungeduldig. Alle schrieen durcheinander; aber wenn einer eine wußte, so rief ein anderer: »Die kann nicht kommen.«

»Lauf einer auf die Halde«, befahl der Oberst, »meine Frau soll mir die Trine herunterschicken!« Es lief einer davon.

»Deine Frau wird dir aber nicht danken«, sagte der Doktor, »denn ich lasse die Pflegerin drei bis vier Tage und Nächte nicht von dem Bett weg.«

»Sei nur unbesorgt«, entgegnete der Oberst, »für den Andres gäbe meine Frau alles her, nicht nur die alte Trine.«

Keuchend und beladen kam die Trine an, viel schneller, als man hätte hoffen können, denn sie stand schon lange ganz parat mit einem großen Korb am Arm, und die Frau Oberst stand neben ihr und lauschte, ob einer gelaufen komme. Sie hatte nicht annehmen können, daß der Andres wirklich tot sei, und hatte alles ausgedacht, was man brauchen könnte, um ihm wieder aufzuhelfen. So hatte sie Schwamm und Verbandzeug, Wein und Öl und warme Flanelle in einen Korb gepackt, und Trine hatte nur zu rennen, wie der Bote kam. Der Doktor war sehr zufrieden.

»Alles fort jetzt, gute Nacht, Oberst, und mach, daß die ganze Bande zum Haus hinauskommt!« rief er und schloß die Tür zu, nachdem der Oberst hinausgetreten war. Der Gemeinderat war noch am Beratschlagen; da aber der Oberst erklärte, nun müsse gleich alles zum Haus hinaus, so faßten die Männer den Beschluß, für einmal müsse der Joggi eingesperrt werden, dann wollte man weiter schreiten. Es mußten also zwei Männer den Joggi in die Mitte nehmen, daß er nicht fortlaufen könne, und ihn so nach dem Armenhaus bringen und in eine Kammer einsperren. Der Joggi ging aber ganz willig davon und lachte, und von Zeit zu Zeit guckte er vergnügt in seine Faust hinein.

Gleich am anderen Morgen eilte die Frau Oberst in voller Sorge nach dem Häuschen des Andres hinunter. Trine kam leise aus der Kammer heraus und brachte die frohe Nachricht: Andres sei gegen Morgen schon ein wenig zum Bewußtsein gekommen. Schon sei auch der Doktor dagewesen und habe den Kranken über Erwarten gut getroffen; ihr aber habe er recht eingeschärft, daß sie keinen Menschen in die Kammer hineinlasse, Andres dürfe auch noch kein Wort reden, wenn er auch wollte, nicht; nur der Doktor und die Wärterin sollen vor seine Augen kommen, erklärte die Trine in großem Amtseifer. Damit war die Frau Oberst ganz einverstanden und höchst erfreut kehrte sie mit ihren Nachrichten nach Hause zurück.

So vergingen acht Tage. Jeden Morgen ging die Oberstin nach dem Hause des Kranken, um genau Bericht zu bekommen und zu hören, ob etwas mangele, das dann schnell herbeigeschafft werden mußte. Otto und Miezchen mußten jeden Tag aufs neue besänftigt werden, daß sie ihren kranken Freund noch nicht besuchen durften, aber da war immer noch keine Erlaubnis vom Doktor. Die Trine war noch durchaus unentbehrlich, wurde auch täglich vom Doktor gelobt für ihre sorgfältige Pflege. Nach Verfluß der acht Tage schlug der Doktor seinem Freunde, dem Oberst, vor, nun einmal den Kranken zu besuchen, zu der Zeit, da er selbst dort sein würde, denn jetzt war der Augenblick gekommen, da Andres wieder reden durfte, und der Doktor wollte ihn in Gegenwart des Obersten darüber befragen, was er selbst von dem unglücklichen Vorfall wisse. Andres hatte große Freude, dem Herrn Oberst die Hand drücken zu dürfen, er hatte ja schon lange bemerkt, woher ihm alles Gute und alle Sorgfalt für sein Wiederaufkommen kam. Dann besann er sich, so gut er konnte, um die Fragen der beiden Herren zu beantworten. Er wußte aber nur folgendes zu sagen: Er hatte seine Summe beisammen, die er jährlich dem Herrn Oberst zur Verwahrung brachte; diese wollte er noch einmal überzählen, um seiner Sache sicher zu sein. Er hatte am späten Abend sich hingesetzt, den Rücken gegen die Fenster und die Tür gekehrt. Mitten im Zählen hörte er jemand hereinkommen; eh' er aber aufgeschaut hatte, fiel ein furchtbarer Schlag auf seinen Kopf; von da an wußte er nichts mehr. – Also hatte Andres eine Summe Geldes auf dem Tisch gehabt; davon war aber gar nichts mehr gesehen worden, als das einzige Stück in Joggis Hand. Wo könnte denn das andere Geld hingekommen sein, wenn wirklich Joggi der Übeltäter war? Als Andres vernahm, wie der Joggi gefunden worden und nun eingesperrt sei, wurde er ganz unruhig.

»Sie sollen ihn doch gehen lassen, den armen Joggi«, sagte er; »der tut ja keinem Kinde etwas zuleide, der hat mich nicht geschlagen.«

Andres hatte aber auch auf keinen anderen Menschen den leisesten Verdacht. Er habe keine Feinde, sagte er, und kenne keinen Menschen, der ihm so etwas hätte antun wollen.

»Es kann auch ein Fremder gewesen sein«, bemerkte der Doktor, indem er die niedrigen Fenster ansah; »wenn Ihr da beim hellen Licht einen Haufen Geld auf dem Tische liegen habt und zählt, so kann das von außen jeder sehen und Lust zum Teilen bekommen.«

»Es muß sein«, sagte der Andres gelassen, »ich habe nie an so etwas gedacht, es war immer alles offen.«

»Es ist gut, daß Ihr noch etwas im Trocknen habt, Andres«, bemerkte der Oberst. »Laßt's Euch nicht zu Herzen gehen; das beste ist, daß Ihr wieder gesund werdet.«

»Gewiß, Herr Oberst«, erwiderte Andres, ihm die Hand schüttelnd, die er zum Abschied hinhielt, »ich habe nur zu danken; der liebe Gott hat mir ja sonst schon viel mehr gegeben als ich brauche.«

Die Herren verließen den friedlichen Andres, und vor der Tür sagte der Doktor: »Dem ist wohler als dem anderen, der ihn zusammenschlagen wollte.«

Vom Joggi wurde eine traurige Geschichte umhergeboten, die alle Buben in der Schule beschäftigte und in große Teilnahme versetzte. Auch Otto brachte sie nach Hause und mußte sie jeden Tag ein paarmal wiederholen, denn jedesmal, wenn er daran dachte, machte sie ihm aufs neue einen großen Eindruck. Als man den Joggi an dem Abend lachend ins Armenhaus gebracht hatte, da war er aufgefordert worden, sein Goldstück abzugeben an einen seiner Führer, den Sohn des Friedensrichters. Joggi aber klemmte seine Faust noch besser zusammen und wollte nichts hergeben. Aber die beiden waren stärker als er; sie rissen ihm mit Gewalt die Faust auf, und der Friedensrichterssohn, der manchen Kratz von dem Joggi erhalten hatte während der Arbeit, sagte, als er das Goldstück endlich in Händen hatte: »So, jetzt wart nur, Joggi, du wirst schon deinen Lohn bekommen. Wart nur, bis sie kommen, sie werden dir's dann schon zeigen.«

Da hatte der Joggi angefangen furchtbar zu schreien und zu jammern, denn er glaubte, er werde geköpft, und seither aß er nicht und trank nicht und stöhnte und jammerte fortwährend, denn die Furcht und Angst vor dem Köpfen verfolgte ihn beständig. Schon zweimal war der Präsident und der Gemeindammann bei ihm gewesen und hatten ihm gesagt, er solle nur alles sagen, was er getan habe, er werde nicht geköpft. Er wußte nichts zu sagen, als er habe beim Andres ins Fenster geschaut, und der sei am Boden gelegen; er sei zu ihm hineingegangen und habe ihn ein wenig gestoßen, da sei er tot gewesen. Da habe er etwas glänzen sehen in einer Ecke und habe es geholt, und dann sei der Müllerssohn gekommen und dann noch viele. Hatte der Joggi so viel gesagt, so fing er wieder zu stöhnen an und hörte nicht mehr auf.

 


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