Johanna Spyri
Heimatlos
Johanna Spyri

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Siebzehntes Kapitel.

Über die Berge zurück.

Am Morgen lang vor fünf Uhr stand Rico fertig auf der Station und konnte kaum erwarten, daß es vorwärts ging. Nun saß er im Wagen wie vor drei Jahren, aber nicht mehr so furchtsam in die Ecke gedrückt, mit der Geige in der Hand; jetzt brauchte er eine ganze Bank, denn neben ihm lagen Sack und Korb, die nahmen einen guten Platz ein. In Bergamo traf er richtig mit dem Roßhändler zusammen und nun reisten sie ungestört weiter, noch ein gutes Stück in demselben Wagen, dann über den See. Dann stiegen sie aus und wanderten gegen ein Wirtshaus hin, da standen schon die Pferde angespannt an dem großen Postwagen. Da erinnerte sich Rico deutlich, wie er hier gestanden in der Nacht, ganz allein, nachdem die Studenten dorthinüber gegangen waren, und drüben sah er die Stalltür, wo er die Laterne hangen gesehen und dann den Schafhändler wiedergefunden hatte. Es war schon Abend und bald bestieg man den Postwagen und fuhr den Bergen zu. Diesmal saß Rico mit seinem Begleiter im Wagen, und kaum hatte er sich auch recht in seine Ecke gesetzt, als ihm die Augen zufielen, denn vor Aufregung hatte er die vorhergehende Nacht keine Stunde geschlafen. Nun holte er es nach; ohne nur einmal zu erwachen, schlief Rico fort, bis die Sonne hoch am Himmel stand und der Wagen ganz langsam fuhr, und als er seinen Kopf aus dem Fenster steckte, erblickte Rico zu seiner unbeschreiblichen Verwunderung, daß der Wagen die Zickzackstraße hinauffuhr, die auf den Maloja führt und die er so wohl kannte.

Aus dem Fenster konnte er nicht viel sehen, nur von Zeit zu Zeit eine Wendung der Straße; aber jetzt hätte er so gern alles gesehen ringsum. Nun hielt der Wagen still, man war auf der Höhe angekommen. Da stand das Wirtshaus, da am Wege hatte er sich hingesetzt und mit dem Kutscher gesprochen. Alle Reisenden stiegen einen Augenblick aus, den Pferden wurde ein Futter gegeben. Rico stieg auch aus dem Wagen; er ging zum Kutscher hin und fragte ganz demütig: »Darf ich mit Euch auf dem Bock fahren bis nach Sils?«

»Steig auf«, sagte der Kutscher.

Und nun stieg alles wieder ein und auf und im lustigen Trab ging es abwärts und die ebene Straße dahin. Jetzt kam der See. Dort lag die waldige Halbinsel, und dort – das waren die weißen Häuser von Sils, und drüben lag Sils-Maria. Das Kirchlein schimmerte in der Morgensonne, und dort gegen den Berg hin sah er die beiden Häuschen.

Jetzt fing Ricos Herz stark zu klopfen an. Wo konnte Stineli sein? Nur noch wenige Schritte, und der Postwagen hielt an in Sils.

Stineli hatte seit Ricos Verschwinden viele harte Tage erlebt. Die Kinder wurden größer, und es gab immer mehr Arbeit und das meiste fiel auf Stineli; denn es war das älteste von den Kindern und neben den Alten war es doch das Jüngste; so hieß es bald: »Das Stineli kann dies tun, es ist ja alt genug«, und dann gleich nachher: »Das kann Stineli verrichten, denn es ist noch jung.« Die Freude konnte es mit niemandem mehr recht teilen, seit der Rico fort war, wenn es noch einen Augenblick Zeit dazu gehabt hätte.

Vor dem Jahre war dann die gute Großmutter gestorben, und von da an gab es für Stineli auch keine freien Augenblicke mehr; denn vom Morgen bis am Abend war da so viel Arbeit zu tun, daß man nie fertig wurde, sondern nur immer mittendrin war.

Aber Stineli hatte seinen guten Mut nie verloren, obschon es um die Großmutter stark hatte weinen müssen und jetzt noch jeden Tag ein paarmal dachte: ohne die Großmutter und den Rico sei es nicht mehr so schön auf der Welt, wie es einmal gewesen war. An einem sonnigen Samstagmorgen kam es mit einem großen Bündel Stroh auf dem Kopfe hinter der Scheune hervor; es wollte schöne Strohwische machen zum Fegen am Abend. Die Sonne schien schön auf den trockenen Weg gegen Sils hin und es stand still und schaute hinüber. Da kam ein Bursche des Weges, den es nicht kannte, das war kein Silser, das sah es sogleich. Und wie er näher kam, stand er still und schaute das Stineli an, und es schaute ihn auch an und war verwundert; aber mit einem Male warf es sein Strohbündel weit weg und sprang auf den Stillstehenden zu und rief: »O Rico, bist du noch am Leben? Bist du wieder da? Aber du bist groß, Rico! Zuerst habe ich dich gar nicht mehr erkannt; aber wie ich dir ins Gesicht sah, da habe ich dich gleich erkannt; es hat ja kein Mensch sonst so ein Gesicht wie du!«

Und Stineli stand ganz glühend rot vor Freude vor dem Rico, und der Rico stand kreideweiß vor innerer Erregung und konnte zuerst gar nichts sagen und schaute nur das Stineli an. Dann sagte er: »Du bist auch so groß, Stineli, aber sonst bist du noch wie vorher. Je näher ich dem Hause kam, je mehr wurde es mir angst, du seiest vielleicht anders geworden.«

»O Rico, daß du wieder da bist!« jubelte das Stineli, »o wenn das die Großmutter wüßte! Aber du mußt hereinkommen, Rico, die werden sich alle verwundern!« Stineli lief voraus und machte die Tür auf, und Rico ging hinein. Die Kinder versteckten sich sogleich immer eins hinter das andere, und die Mutter stand auf und grüßte den Rico fremd und fragte, was ihm gefällig sei. Weder sie, noch eins der Kinder hatte ihn mehr erkannt. Jetzt traten auch Trudi und Sami in die Stube und grüßten im Vorbeigehen.

»Kennt ihr ihn denn alle nicht?« brach nun das Stineli aus; »es ist ja der Rico!«

Jetzt ging das Verwundern von allen Seiten an, und man war gerade noch daran, als der Vater eintrat zum Essen.

Rico ging ihm entgegen und bot ihm die Hand. Der Vater nahm sie und schaute den Jungen an.

»Ist's etwa einer von den Verwandten?« sagte er dann, denn er kannte diese nie so genau, wenn sie etwa kamen.

»Jetzt kennt ihn der Vater auch nicht«, sagte Stineli ein wenig empört. »Es ist ja der Rico, Vater!«

»So, so, das ist recht«, bemerkte der Vater und schaute ihn nun noch einmal an, von oben bis unten, dann fügte er bei: »Du darfst dich sehen lassen, hast du etwas von einer Hantierung gelernt? Komm, sitz zu mit uns, da kannst du's erzählen, wie es mit dir gegangen ist.«

Rico setzte sich nicht gleich, er schaute immer wieder nach der Tür; endlich fragte er zögernd: »Wo ist die Großmutter?« Der Vater sagte, sie liege drüben in Sils, nicht weit vom alten Lehrer weg. Rico hatte wohl mit der Frage gezögert, weil er die Antwort fürchtete, da er die Großmutter nirgends sah. Er setzte sich nun zu Tisch mit den anderen, aber erst war er ganz still und essen konnte er auch nicht; er hatte die Großmutter so lieb gehabt.

Aber nun wollte der Vater etwas erzählen hören, wo der Rico hingekommen sei an jenem Tage, da sie nach ihm in der Rüfe herumstocherten, und was er in der Fremde erlebt habe. Da erzählte denn Rico alles, wie es ihm ergangen war, und kam so bald auf die Frau Menotti und den Silvio zu sprechen und erklärte nun deutlich, warum er hierher gekommen sei, und daß er mit dem Stineli nach Peschiera zurückkehren wolle, sobald es dem Vater und der Mutter recht sei. Das Stineli machte die Augen ganz weit auf während Ricos Erzählung, es hatte ja von allem noch gar kein Wort gehört. Wie ein Freudenfeuer leuchtete es auf in seinem Herzen: mit dem Rico an seinen schönen See hinuntergehen und wieder alle Tage mit ihm zusammensein bei der guten Frau und dem kranken Silvio, der so nach ihm begehrte.

Erst schwieg der Vater eine Zeitlang, denn er überstürzte nie ein Ding, dann sagte er: »Es ist recht, wenn eins unter die Fremden kommt, es lernt etwas; aber das Stineli kann nicht gehen, von dem ist keine Rede. Es ist nötig daheim; es kann ein anderes gehen, etwa das Trudi.«

»Ja ja, so ist's besser«, sagte die Mutter; »ohne das Stineli kann ich es nicht machen.« Da hob das Trudi seinen Kopf vom Teller auf und sagte: »So ist es mir auch recht, es ist doch nur immer ein Kindergeschrei bei uns.«

Das Stineli sagte kein einziges Wort; es sah nur ganz gespannt den Rico an, ob er nichts mehr sagen werde, weil der Vater so bestimmt abgesagt hatte, und ob er nun das Trudi mitnehmen wolle. Aber der Rico sah den Vater unerschrocken an und sagte:

»Ja, so geht es nicht. Der kranke Silvio will präzis das Stineli haben und kein anderes, und er weiß schon, was er will; er würde nur das Trudi wieder heimschicken, dann hätte es den Weg vergebens gemacht. Und dann hat mir die Frau Menotti auch noch gesagt: wenn das Stineli mit dem Silvio gut auskomme, so könne es alle Monate seine fünf Gulden heimschicken, wenn man es so begehre; und daß der Silvio und das Stineli gut zusammen fertig werden, weiß ich im voraus so gut, wie wenn ich es gerade vor mir sähe.«

Der Vater stellte seinen Teller beiseite und setzte die Kappe auf. Er war fertig mit Essen, und zum strengen Nachdenken hatte er gern die Kappe auf dem Kopf; es war so, wie wenn sie ihm die Gedanken besser zusammenhielte.

Jetzt überdachte er im stillen, wie er sich abmühen mußte, bis er nur einen einzigen baren Gulden in die Hand bekam, und dann sagte er zu sich: »Fünf Gulden jeden Monat bar in die Hand, ohne auch nur einen Finger aufzuheben!« Dann schob er die Kappe auf die eine Seite und dann auf die andere, dann sagte er: »Es kann gehen; es wird ein anderes auch etwas tun können im Haus.«

Stinelis Augen leuchteten. Die Mutter sah aber ein wenig seufzend alle die kleinen Köpfe und Teller, denn wer sollte das alles säubern helfen? Und das Trudi gab dem Peterli einen Ellbogenstoß und sagte: »Sitz einmal still!«, obschon er diesmal völlig ruhig seine Bohnen aß.

Der Vater hatte aber noch einmal an seiner Kappe gerutscht, es war ihm noch etwas in den Sinn gekommen. »Das Stineli ist aber noch nicht konfirmiert«, sagte er; »es wird, denk' ich wohl, noch konfirmiert sein müssen.«

»Ich werde erst in zwei Jahren konfirmiert, Vater«, sagte Stineli eifrig; »so kann ich ganz gut jetzt für zwei Jahre fortgehen, und dann kann ich ja wieder heimkommen.«

Das war ein guter Ausweg, nun waren auf einmal alle zufrieden. Der Vater und die Mutter dachten: wenn alles krumm gehe ohne das Stineli, so sei es doch nur für eine Zeit, die werde auch umgehen, und nachher sei es wieder da, und das Trudi dachte: »Sobald es wieder da ist, gehe ich, und dann können sie sehen, wann ich wiederkomme.« Aber der Rico und das Stineli sahen einander an, und die helle Freude lachte ihnen aus den Augen.

Da der Vater die Sache nun als abgemacht ansah, stand er vom Tische auf und sagte: »Sie können dann morgen gehen, so weiß man, woran man ist.«

Aber die Mutter schlug einen großen Jammer auf und sagte, so schnell werde es ja nicht sein müssen, und jammerte immerfort, bis der Vater sagte: »So können sie am Montag gehen«, denn weiter hinaus wollte er es nicht verschieben, weil er dachte, es töne nun so fort, bis das Weggehen vorbei sei.

Für Stineli gab es nun Arbeit; das begriff der Rico wohl und er machte sich an den Sami und sagte ihm, er wolle sehen, ob es in Sils-Maria noch sei wie früher; und dann sollte er noch einen Sack und einen Korb von Sils herüberholen, da könnte ihm der Sami tragen helfen. So zogen sie aus. Zuerst stand Rico vor seinem ehemaligen Häuschen still und schaute die alte Haustüre an und den Hühnerstall; es war noch alles ganz gleich. Er fragte den Sami, wer drin wohne, ob die Base noch ganz allein sei. Aber die Base war schon lange fortgezogen, hinauf nach Silvaplana, und kein Mensch sah sie mehr, denn in Sils-Maria zeigte sie sich nie mehr.

In dem Häuschen wohnten Leute, von denen Rico nichts wußte. Überall, wo er mit Sami hinkam, vor den alten bekannten Häusern und aus den Scheunen starrten ihn die Leute fremd an, kein einziger kannte ihn mehr. Wie sie am Abend nach Sils hinübergingen, da schwenkte Rico gegen den Kirchhof ein; er wollte auf das Grab der Großmutter gehen, aber Sami wußte nicht recht, wo es war.

Mit Sack und Korb beladen, kehrten die beiden, als es dunkelte, zum Hause zurück. Da stand Stineli noch am Brunnen und fegte den Stalleimer zum letzten Male, und als nun der Rico neben ihm stand, sagte es strahlend vor Freuden und Fegeifer: »Ich kann es noch fast nicht glauben, Rico!«

»Aber ich«, sagte dieser so sicher, daß ihn das Stineli erstaunt ansehen mußte. »Aber weißt du, Stineli«, fügte er hinzu, »du hast es auch nicht so lange ausdenken können wie ich.«

Aber Stineli mußte sich noch ein paarmal wundern, daß der Rico so bestimmt etwas sagen konnte; das hatte es früher nicht an ihm gekannt.

Dem Rico hatte man ein Bett zurecht gemacht, oben in der Dachkammer; da schleppte er seine Sachen hinauf, denn erst morgen wollte er alles auspacken. Wie nun am folgenden Tage, am hellen, schönen Sonntag, alle um den Tisch saßen, da kam Rico und schüttete gerade vor das Urschli und den Peterli hin einen solchen Haufen von Pflaumen und Feigen, wie sie in ihrem ganzen Leben noch keinen gesehen hatten, und Feigen hatten sie auch noch gar nie gegessen; und seine Masse Würste und Fleisch und Eier stellte er mitten auf den Tisch. Und nachdem das große Erstaunen darüber ein wenig nachgelassen hatte, ging eine Schmauserei an, wie sie da noch nicht stattgefunden hatte, und bis zum späten Abend knupperten die Kinder im höchsten Vergnügen an den süßen Feigen herum.

 


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