Johanna Spyri
Heimatlos
Johanna Spyri

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Viertes Kapitel.

Der ferne, schöne See ohne Namen.

Als am Sonntagmorgen Stineli die Augen aufmachte, hatte es eine große Freude im Herzen und wußte zuerst gar nicht warum, bis es sich besann, daß es Sonntag war und die Großmutter noch am Abend spät gesagt hatte: »Morgen mußt du Sonntag haben, den ganzen Nachmittag, er gehört dir!«

Als das Mittagessen vorbei war und Stineli alle Teller weggetragen und den Tisch abgewaschen hatte, rief der Peterli: »Komm zu mir, Stineli«, und die zwei anderen im Bett schrieen: »Nein, zu mir!« Und der Vater sagte: »Das Stineli muß nach der Geiß sehen.«

Aber nun ging die Großmutter in die Küche hinaus und winkte dem Stineli nach. »Geh du jetzt in Frieden«, sagte sie, »der Geiß und den Kindern will ich schon nachgehen, und wenn's Betglocke läutet, kommt ordentlich heim.« Die Großmutter wußte schon, daß ihrer zwei waren.

Jetzt schoß Stineli davon wie ein Vogel, dem man die Käfigtür aufgemacht hat, und drüben stand Rico, der hatte lange schon gewartet. Nun zogen sie aus über die Wiese hin, der Waldhöhe zu. Die Sonne schien an allen Bergen und der Himmel lag blau darüber. Auf der Schattenseite mußten sie noch ein wenig im Schnee gehen bis hinauf, aber da kam die Sonne von vorn und flimmerte über den See, und da waren schöne, trockene Plätzchen am Abhang, steil über dem Wasser. Da saßen die Kinder hin; es pfiff ein scharfer Wind über die Höhe und sauste ihnen um die Ohren. Stineli war lauter Freude und Genuß. Ein Mal über das andere rief es aus:

»Sieh, sieh, Rico, die Sonne, wie schön! Jetzt wird's Sommer: sieh, wie es glitzert auf dem See. Es kann gar keinen schöneren See geben, als der ist«, sagte es jetzt zuversichtlich.

»Ja, ja, Stineli, du solltest nur einmal den See sehen, den ich meine!« und Rico schaute so verloren über den See hin, als finge, was er ansehen wollte, erst dort an, wo man nichts mehr sah.

»Siehst du, dort stehen nicht so schwarze Tannen mit Nadeln, da sind so glänzende, grüne Blätter und große, rote Blumen, und die Berge stehen nicht so hoch und schwarz und so nah, nur weit drüben liegen sie ganz violett, und am Himmel und auf dem See ist alles golden und so still und warm; da tut der Wind nicht so und die Füße hat man nicht so voll Schnee, dann kann man immer so am sonnigen Boden sitzen und zuschauen.«

Stineli war bald hingerissen; es sah schon die roten Blumen und den goldenen See vor sich, das mußte doch so schön sein.

»Vielleicht kannst du wieder einmal dahin gehen an den See und alles wieder sehen; weißt du den Weg?«

»Man geht auf den Maloja. Dort bin ich schon mit dem Vater gewesen: da hat er mir die Straße gezeigt, die geht den ganzen Weg hinunter, immer so hin und her, und weit unten ist der See, aber noch so weit, daß man fast nicht hinkommen kann.«

»Ach, das ist ganz leicht«, meinte Stineli, »du müßtest nur immer weiter gehen, so kämst du sicher zuletzt dahin.«

»Aber der Vater hat mir noch etwas gesagt; siehst du, Stineli: wenn man auf dem Wege ist und in ein Wirtshaus hineingeht und ißt und schläft da, so muß man immer bezahlen, da muß man wieder Geld haben.«

»O, Geld haben wir jetzt so viel«, rief Stineli triumphierend. Aber Rico triumphierte nicht mit.

»Das ist gerade so viel wie nichts, das weiß ich noch von der Geige her«, sagte er traurig.

»So bleib du lieber daheim, Rico; sieh, es ist doch daheim so schön.«

Eine Weile lang saß Rico nachdenklich da, seinen Kopf auf den Ellbogen gestützt, und seine Augenbrauen kamen wieder ganz zusammen. Jetzt kehrte er sich wieder zu Stineli, das unterdessen von dem weichen, grünen Moos ausrupfte und ein Bettlein machte, zwei Kissen und eine Decke, die wollte es dem kranken Urschli bringen. »Du sagst, ich soll nur daheim bleiben, Stineli«, sagte er mit gefalteter Stirne; »aber siehst du, mir ist es gerade so, wie wenn ich nicht wüßte, wo ich daheim bin.«

»Ach, was sagst du«, rief Stineli und warf vor Erstaunen eine ganze Hand voll Moos weg. »Hier bist du daheim, natürlich. Da ist man immer daheim, wo man seinen Vater und seine Mutter –«; hier hielt es plötzlich inne: Rico hatte ja gar keine Mutter, und der Vater war schon so lang wieder fort, und die Base? – Stineli kam der Base nie zu nah, sie hatte ihm nie ein gutes Wort gegeben; es wußte gar nicht mehr, was sagen. Aber Stineli konnte in einem so unsicheren Zustande nicht lange bleiben. Rico hatte wieder zu staunen angefangen; auf einmal faßte es ihn am Arm und rief:

»Nun möchte ich doch etwas wissen, wie heißt der See, wo es so schön ist?«

Rico besann sich. »Ich weiß es nicht«, sagte er, selbst verwundert darüber.

Da schlug Stineli vor, sie wollten jemand fragen, wie er heißen könne; denn wenn Rico doch einmal viel Geld hätte und gehen könnte, so müßte er ja den Weg erfragen und einen Namen wissen. Nun fingen sie an zu beraten, wen man fragen könnte; den Lehrer oder die Großmutter. Da fiel es Rico ein, der Vater werde es am besten wissen; den wollte er fragen, sobald er heimkomme.

Unterdessen war die Zeit vergangen und auf einmal hörten die Kinder ganz in der Ferne ein leises Läuten. Sie kannten den Ton, es war die Betglocke. Sie sprangen gleich beide vom Boden auf und rannten miteinander Hand in Hand durch Gestrüpp und Schnee die Halde hinunter und über die Wiese hin, und es hatte noch nicht lange verläutet, so standen sie schon an der Tür, wo die Großmutter nach ihnen aussah.

Stineli mußte nun gleich ins Haus hinein, und die Großmutter sagte nur schnell: »Geh du auch gleich hinein, Rico, und bleib nicht mehr stehen vor der Tür.«

Das hatte die Großmutter noch nie zu ihm gesagt, obschon er es immer tat, denn es gelüstete ihm nie, in das Haus hineinzugehen, und er stand immer erst eine Zeitlang vor der Haustür, ehe er's tat. Er gehorchte aber der Großmutter aufs Wort und ging gleich hinein.

 


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