Johanna Spyri
Heimatlos
Johanna Spyri

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Fünfzehntes Kapitel.

Silvio wünscht mit Nachdruck.

In dem kleinen Silvio arbeitete aber die Aufregung weiter, und als er nun wußte, daß der Rico zwei Tage hintereinander keinen Augenblick kommen würde, fing er schon am frühen Morgen an mit Grimm auszurufen: »Nun kommt der Rico nicht! Nun kommt der Rico nicht!« und fuhr mit kleinen Zwischenpausen so fort bis zum Abend, und am folgenden Tag fing er wieder an beizeiten. Am dritten Tage aber hatte ihn diese Tätigkeit so ausgetrocknet, daß er war wie ein Häuflein Stroh, das ein kleiner Funke gleich in helle Flammen bringen kann.

Rico erschien am Abend noch ganz angewidert von dem Tanzlärm, bei dem er gewesen war. Seit er nun wußte, daß er nirgends daheim war, hatte der Gedanke an das Stineli eine neue Gewalt bekommen, und er sagte bei sich: »Da ist nur das Stineli auf der ganzen Welt, zu dem ich gehöre und das sich um mich bekümmert.« Und es kam ein großes Heimweh nach dem Stineli über ihn. Er saß auch kaum an Silvios Bett, so sagte er: »Siehst du, Silvio, nur einzig beim Stineli ist es einem wohl und sonst gar nirgends.« Kaum waren diese Worte ausgesprochen, so schnellte sich der Kleine augenblicklich in die Höhe und rief mit aller Kraft: »Mutter, ich will das Stineli haben. Das Stineli muß kommen; einzig nur beim Stineli ist es einem wohl und sonst gar nirgends!«

Die Mutter war herzugetreten, und da sie oft Ricos Erzählungen vom Stineli und seinen kleinen Geschwistern mit vieler Befriedigung zugehört hatte, wußte sie schon, von wem die Rede war, und sagte: »Ja, ja, mir wär' es schon recht, ich könnte ein Stineli schon brauchen für dich und mich; wenn ich nur eins hätte!«

Aber auf diese unbestimmte Auslassung ging Silvio gar nicht ein, denn er war völlig Feuer und Flamme für seine Sache.

»Jetzt kannst du gleich eins haben«, rief er weiter; »der Rico weiß, wo es ist, er muß es holen; ich will das Stineli haben alle Tage und immerfort; morgen muß es der Rico holen, er weiß, wo es ist.«

Wie nun die Mutter sah, daß der Kleine sich alles ausdachte und ganzen Ernst aus der Sache machen wollte, fing sie an, ihn auf alle Weise abzumahnen und auf andere Gedanken zu bringen, denn sie hatte mehrmals erzählen hören, was für unglaubliche Gefahren der Rico auf seiner Reise zu bestehen hatte, und wie es das größte Wunder sei, daß er lebendig habe bis nach Peschiera herunterkommen können, und was für ein schreckhaft wildes Volk dort oben in den Bergen lebe. So wußte sie ja, daß kein Mensch so ein Mädchen herunterholen würde, am wenigsten ein zartes Bürschlein wie Rico; er konnte ja ganz elend zugrunde gehen, wenn er so etwas beginnen würde, und dann hätte sie die Verantwortung auf sich. Das wollte sie nicht auch noch, sie hatte schon genug.

Sie stellte dem Silvio die ganze Unmöglichkeit der Sache vor und sprach ihm von vielen schreckhaften Ereignissen und bösen Menschen, die den Rico verfolgen und umbringen könnten. Aber diesmal half alles nichts. Der kleine Silvio mußte sich die Sache in den Kopf gesetzt haben, wie noch nichts in seinem Leben; denn was die Mutter auch vorbrachte und wie sehr sie in Eifer geriet vor Besorgnis, sobald sie innehielt, sagte Silvio: »Der Rico muß es holen, er weiß, wo es ist.«

Da sagte die Mutter: »Und wenn er's auch weiß, meinst du denn, der Rico wolle so in die Gefahr und ins Gottversuchen hinauslaufen, wenn er es haben kann wie hier und gar zu keinen bösen Menschen mehr gehen muß?«

Da sah Silvio den Rico an und sagte: »Du willst schon gehen und das Stineli holen, Rico, oder nicht?«

»Ja, ich will«, antwortete Rico fest.

»Ach, ihr barmherzigen Heiligen, was soll das werden, jetzt wird mir der Rico auch noch unvernünftig!« rief die Mutter ganz erschrocken. »So weiß man sich ja gar nicht mehr zu helfen. Nimm die Geige, Rico, und spiel und sing etwas, ich muß in den Garten«, und damit lief Frau Menotti eilends unter die Feigenbäume hinaus, denn sie nahm an, der Silvio vergesse am schnellsten seinen Einfall wieder, wenn er nicht mehr an ihr zwingen könne.

Aber die beiden guten Freunde drinnen spielten nicht und sangen nicht, sondern brachten sich gegenseitig ganz ins Fieber mit allerhand Vorstellungen, wie das Stineli geholt werden müsse und wie es dann nachher zugehen werde, wenn es da sei. Rico vergaß gänzlich, fortzugehen, obschon es dunkel geworden war, denn die Frau Menotti kam absichtlich noch nicht herein, sie hoffte, der Silvio entschlafe dann vorher. Endlich trat sie aber doch ein und Rico ging gleich, aber mit Silvio hatte sie noch einen schweren Stand. Er wollte durchaus nicht die Augen zumachen, bis die Mutter versprechen würde, der Rico müsse das Stineli holen; das konnte sie aber nicht versprechen, und so kam Silvio zu keiner Ruhe, bis die Mutter sagte: »Sei nun zufrieden, über Nacht kommt dann alles in Ordnung.« Denn sie dachte, über Nacht vergesse er sein Begehren, wie schon viele, und es komme ihm etwas Neues in den Sinn.

Da wurde Silvio still und schlief ein. Aber die Mutter hatte sich verrechnet. Noch war sie am Morgen kaum recht erwacht, so rief Silvio aus seinem Bettchen herauf: »Ist alles in Ordnung, Mutter?«

Als sie dies unmöglich bejahen konnte, ging ein solcher Sturm los, wie sie desgleichen an dem Büblein noch nie erlebt hatte, und den ganzen Tag ging das Unwetter fort bis zum späten Abend, und am Morgen darauf fing Silvio gerade so wieder an, wie er am Abend aufgehört hatte.

Eine solche Beharrlichkeit auf demselben Begehren hatte Silvio noch nie an den Tag gelegt. Wenn er schrie und lärmte, konnte sie's noch ertragen; aber wenn nun die Stunden der großen Schmerzen kamen, da wimmerte Silvio fortwährend in der kläglichsten Weise: »Nur beim Stineli ist es einem wohl und sonst gar nirgends!«

Das schnitt der Mutter ins Herz und war ihr wie ein Vorwurf, so als wollte sie nicht tun, was ihm wohlmachen könnte; aber wie hätte sie auch nur daran denken können, sie hatte ja den Rico selbst auf Silvios Frage: »Weißt du auch den rechten Weg zum Stineli?« antworten hören: »Nein, ich weiß keinen Weg, aber ich finde ihn dann schon.«

Von Tag zu Tag hoffte sie, durch einen glücklichen Umstand komme dem Silvio eine neue Forderung in den Sinn, denn so war es sonst immer gewesen; sie konnte darauf rechnen: hatte er etwas begehrt, wenn ihm wohl war, so verwarf er es sicher, sobald seine Schmerzen kamen. Aber diesmal war es anders, und es hatte seinen guten Grund. Ricos Erzählungen und Aussprüche über das Stineli hatten in dem empfindlichen Gemüte des kranken Silvio die feste Überzeugung hervorgebracht, daß ihm nie mehr etwas weh tun würde, wenn das Stineli bei ihm wäre. So gebärdete sich Silvio jammervoller von Tag zu Tag, und seine Mutter wußte nicht, wo sie Rat und Beistand finden könnte.

 


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