Johanna Spyri
Heimatlos
Johanna Spyri

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Drittes Kapitel.

Des alten Schullehrers Geige.

Vor der Tür hatten sich Stineli und Rico bald aus dem Rudel herausgemacht und zogen zusammen ihren Weg.

»Hast du vor lauter Staunen nicht mehr mitgesungen, Rico?« fragte jetzt Stineli. »Ist dir etwa auf einmal der See in den Sinn gekommen?«

»Nein, etwas anderes«, sagte Rico; »ich weiß jetzt, wie man spielt: ›Ihr Schäflein hinunter‹. Wenn ich nur eine Geige hätte!«

Der Wunsch mußte Rico schwer auf dem Herzen liegen, denn er kam mit einem tiefen Seufzer heraus. Stineli war gleich ganz voller Teilnahme und unternehmender Gedanken.

»Wir wollen eine kaufen zusammen«, rief es plötzlich in großer Freude über die Hilfe, die ihm in den Sinn gekommen war. »Ich habe ganz viele Blutzger von der Großmutter, etwa zwölf; wie viele hast du?«

»Gar keinen«, sagte Rico traurig; »der Vater hat mir ein paar gegeben, ehe er fortging. Aber die Base hat gesagt, ich mache nur unnützes Zeug damit, und hat sie genommen und ganz hoch hinauf in den Kasten gelegt; man kann sie nicht mehr erlangen.«

Aber Stineli ließ sich nicht so bald entmutigen. »Vielleicht haben wir doch genug Geld, und die Großmutter gibt mir schon noch ein wenig«, sagte es tröstend; »weißt du, Rico, eine Geige kostet nicht so viel; es ist nur altes Holz und vier Saiten darüber gespannt, das kostet nicht viel. Du mußt nur morgen den Lehrer fragen, was eine Geige kostet, und nachher suchen wir eine.«

So blieb es ausgemacht, und Stineli dachte, es wolle daheim tun, was es nur könne, und ganz früh aufstehen und das Feuer anmachen, eh' nur die Mutter auf sei; denn wenn es so immerfort etwas tat von früh bis spät, steckte ihm gewöhnlich die Großmutter einen Blutzger in den Sack.

Am folgenden Morgen, als die Schule aus war, ging Stineli allein hinaus und an der Ecke vom Schulhaus stand es still hinter dem Holzhaufen und wartete auf den Rico, der jetzt den Lehrer fragen sollte wegen der Geige. Er kam lange nicht heraus, und Stineli guckte immer wieder mit Ungeduld hinter dem Holze hervor, aber es waren nur die anderen Buben, die noch da und dort herumstanden. Aber jetzt – richtig, Rico kam um den Holzhaufen herum. Da war er.

»Was hat er gesagt, was kostet sie?« rief Stineli mit angehaltenem Atem vor Erwartung.

»Ich habe nicht fragen mögen«, antwortete Rico verzagt.

»O, wie schade!« sagte Stineli und stand ganz verblüfft da, aber nicht lange. »Es ist gleich, Rico«, sagte es wieder fröhlich und nahm ihn bei der Hand zum Heimgehen, »du kannst nur morgen fragen. Ich habe auch schon wieder einen Blutzger bekommen heute früh von der Großmutter, weil ich schon auf war, als sie in die Küche kam.«

Nun ging es aber am folgenden Tage wieder ganz gleich und am dritten auch; Rico blieb immer eine halbe Stunde lang vor der Wohnstube des Lehrers stehen und mochte nicht hineingehen und seine Frage tun. Da dachte Stineli heimlich: Wenn er noch drei Tage lang nicht fragt, dann frag' ich. Aber am vierten Tage, als Rico wieder nachdenklich und zaghaft an der Tür stand, ging diese plötzlich auf, und der Lehrer trat eilig heraus und stieß so gewaltig gegen den Rico an, daß das federleichte Büblein ein gutes Stück rückwärts flog. In großem Erstaunen und ziemlichem Unwillen stand der Lehrer da. »Was ist das, Rico?« fragte er jetzt, als der Kleine wieder am Platze stand. »Warum kommst du an eine Tür und klopfest nicht an, wenn du da etwas zu verrichten hast; wenn du aber nichts da zu verrichten hast, warum entfernst du dich nicht? Solltest du mir aber etwas zu berichten haben, so kannst du's gleich hier sagen. Was wolltest du?«

»Was kostet eine Geige?« stürzte Rico vor lauter Angst in voller Hast heraus.

Des Lehrers mißbilligendes Erstaunen wuchs sichtlich. »Rico, was muß ich von dir denken?« fragte er mit gestrenger Miene; »kommst du extra an die Tür deines Lehrers, um unnütze Fragen an ihn zu tun? oder hast du eine Absicht? Was hast du damit sagen wollen?«

»Ich habe nichts sagen wollen«, entgegnete Rico schüchtern, »nur fragen, was eine Geige kostet.«

»Du hast mich nicht verstanden, Rico; paß jetzt auf, was ich dir sage: ein Mensch spricht etwas aus und denkt sich dabei einen Zweck; oder er denkt sich nichts dabei, das sind unnütze Worte. Nun paß auf, Rico: hast du soeben diese Frage getan aus gar keinem Grunde, oder aus Neugierde, oder hat dich jemand geschickt, der gern eine Geige anschaffen wollte?«

»Ich wollte gern eine kaufen«, sagte Rico ein wenig herzhafter; aber er erschrak sehr, als der Lehrer mit einem Male in hellem Zorn ihn anfuhr: »Was? Was sagst du da? So ein – verlorenes, unvernünftiges, welsches Büblein, wie du eins bist, eine Geige kaufen? Weißt du denn, was eine Geige ist? Weißt du, wie alt ich war und was ich gelernt hatte, eh' ich eine Geige anschaffen konnte? Lehrer war ich, fertiger Lehrer, zweiundzwanzig Jahre alt und stand in meinem Beruf! Und dann so ein Büblein, wie du eins bist! Und jetzt will ich dir sagen, was eine Geige kostet, so kannst du deinen Unverstand bemessen. Sechs harte Gulden habe ich bezahlt dafür; kannst du dir die Summe vergegenwärtigen? Wir wollen sie gleich einmal in Blutzger auflösen: Enthält ein Gulden 100 Blutzger, so enthalten sechs Gulden 6 × 100 gleich? – gleich? – Nun Rico, du bist sonst keiner von den Ungeschickten, – gleich?«

»Gleich 600 Blutzger«, ergänzte Rico leise, denn der Schrecken versagte ihm die Stimme, nun er die Summe überschaute und Stinelis zwölf Blutzger damit verglich.

»Und dann, Büblein«, fuhr der Lehrer im Zuge weiter fort, »was meinst du? Meinst du, es nimmt einer eine Geige nur in die Hand und spielt? Da muß einer anders dran, bis er so weit ist. Komm gleich einmal da herein« – und der Lehrer machte die Tür auf und nahm die Geige von der Wand –; »da, nimm sie einmal in den Arm und den Bogen in die Hand; so, Büblein, und wenn du mir nun c d e f herausbringst, so geb' ich dir gleich einen halben Gulden.« Rico hatte wirklich die Geige im Arm; seine Augen leuchteten auf wie Feuer, c d e f – spielte er fest und völlig korrekt. »Du Erzblitzbub«, rief der Lehrer vor Bewunderung aus, »woher kannst du das? Wer hat dich's gelehrt? Wie kannst du die Töne finden?«

»Ich kann noch etwas, wenn ich's spielen darf«, sagte Rico und schaute mit Verlangen auf das Instrument in seinem Arm.

»Spiel's!« bedeutete der Lehrer. Jetzt spielte Rico mit aller Sicherheit und freudestrahlenden Augen:

»Ihr Schäflein hinunter
Von sonniger Höh',
Der Tag ging schon unter,
Für heute ade!«

Der Lehrer hatte sich auf einen Stuhl niedergelassen und die Brille aufgesetzt. Er schaute mit ernster Prüfung jetzt auf Ricos Finger, dann auf seine funkelnden Augen, dann wieder auf die Finger. Rico hatte fertig gespielt.

»Komm hier zu mir her, Rico!«

Der Lehrer rückte seinen Stuhl ins Licht, und Rico mußte sich gerade vor ihm aufstellen. »So, nun muß ich ein Wort mit dir reden. Dein Vater ist ein Welscher, Rico, und siehst du, dort unten gehen allerhand Dinge, von denen wir hier in den Bergen nichts wissen. Nun sieh mir in die Augen und sag mir aufrichtig und der Wahrheit gemäß: Wie bist du dazu gekommen, diese Melodie ohne Fehler auf meiner Geige zu spielen?«

Rico schaute den Lehrer mit ganz ehrlichen Augen an und sagte: »Ich habe sie Euch abgelernt in der Singschule, wo wir sie so viel singen.«

Diese Worte gaben der Sache eine ganz andere Wendung. Der Lehrer stand auf und ging einige Male hin und her. So war er selbst der Urheber dieser wunderbaren Erscheinung; da waren also keine Schwarzkünste dabei im Spiel. Mit versöhntem Gemüte zog er jetzt seinen Beutel hervor: »Da ist ein halber Gulden, Rico, er gehört dir mit Recht. Nun fahr so fort und sei recht aufmerksam auf das Geigenspiel, solange du zur Schule gehst, so kannst du's zu etwas bringen, und in zwölf bis vierzehn Jahren wird die Zeit da sein, da du auch eine Geige anschaffen kannst. Jetzt kannst du gehen.«

Rico warf noch einen Blick auf die Geige, dann ging er mit der allertiefsten Betrübnis im Herzen.

Stineli kam hinter dem Holzstoß hervorgerannt: »Diesmal bist du aber lang geblieben, hast du gefragt?«

»Es ist alles verloren«, sagte Rico, und seine Augenbrauen kamen vor Leid so nah zusammen, daß ein dicker, schwarzer Strich war über die Augen hin. »Eine Geige kostet sechshundert Blutzger, und in vierzehn Jahren kann ich eine kaufen, wenn schon lange alles tot ist; wer wollte noch am Leben sein in vierzehn Jahren. Da, das kannst du haben, ich will's nicht.« Damit drückte er den halben Gulden in Stinelis Hand.

»Sechshundert Blutzger!« wiederholte Stineli voller Entsetzen. »Aber woher hast du das viele Geld hier?«

Rico erzählte nun alles, wie es gegangen war bei dem Lehrer, und endete wieder mit dem Worte des größten Leides: »Jetzt ist alles verloren.«

Stineli wollte ihm wenigstens seinen halben Gulden aufdringen als einen ganz kleinen Trost; aber er war ganz ergrimmt über den unschuldigen halben Gulden und wollte ihn nicht ansehen.

Da sagte Stineli: »So will ich ihn zu meinen Blutzgern tun und dann wollen wir das Geld alles miteinander teilen und alles gehört uns zusammen.«

Diesmal war auch Stineli sehr niedergeschlagen; als es aber mit Rico um die Ecke kam, wo es ins Feld hineinging, lag der schmale Fußweg so schön trocken in der Sonne bis zur Haustür hin, und dort flimmerte das Plätzchen davor auch ganz weiß und trocken, und Stineli rief:

»Sieh, sieh, nun wird's Sommer, Rico, und wir können wieder in den Wald hinauf; dann freut's dich auch wieder. Wollen wir schon am Sonntag gehen?«

»Es freut mich gar nichts mehr«, sagte Rico; »aber wenn du gehen willst, so will ich schon mitkommen.«

An der Tür wurde es noch ganz ausgemacht, am Sonntag wollten sie hinübergehen auf die Waldhöhe, und dem Stineli kam schon wieder die Freude obenauf. Es tat auch noch die Woche durch, was es nur vermochte, und es gab viel zu tun; der Peterli und der Sami und das Urschli hatten die Röteln, und im Stall war eine Geiß krank, der mußte man öfter heißes Wasser bringen, und Stineli mußte da- und dorthin laufen und überall Hand anlegen, sobald es nur aus der Schule kam, und am Samstag den ganzen Tag lang, bis spät am Abend, da mußte es noch den Stalleimer fegen. Da sagte aber auch der Vater am Abend: »Das Stineli ist ein handliches.«

 


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