Johanna Spyri
Heimatlos
Johanna Spyri

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Elftes Kapitel.

Eine lange Reise.

Rico hatte sich an jenem Sonntagabend in seiner dunkeln Kammer auf seinen Stuhl gesetzt. Da wollte er bleiben, bis die Base zu Bett gegangen war.

Nachdem Stineli die Entdeckung gemacht hatte, wie die Reise nach dem See auszuführen wäre, kam Rico die Sache so leicht vor, daß er sich nur noch besinnen wollte, wann er am besten gehen könne, denn er hatte ein Gefühl davon, die Base würde ihn vielleicht zurückhalten, wenn er schon wußte, daß er ihr nicht stark mangeln würde.

Als sie dann beim Heimkommen so auf ihn losschalt, dachte er: »So will ich gleich auf der Stelle gehen, sobald sie im Bette ist.«

Als er nun so im Dunkeln auf seinem Stuhl saß, dachte er nach, wie angenehm es sein werde, wenn er nun viele Tage lang die Base nie mehr werde schelten hören, und welche große Büschel von den roten Blumen er dem Stineli mitbringen wolle, wenn er zurückkomme. Und dann sah er die sonnigen Ufer und die violetten Berge vor sich und war entschlafen.

Er war aber nicht in einer sehr bequemen Lage, denn die Geige hatte er nicht aus der Hand gelegt; so erwachte er wieder nach einiger Zeit, es war aber noch ganz dunkel. Nun kam ihm aber gleich alles klar in den Sinn. Er war noch in seinem Sonntagswämschen, das war gut; seine Kappe hatte er noch von gestern her auf dem Kopf, die Geige nahm er unter den Arm, und so ging er leise die Treppe hinunter, schob den Riegel weg und zog in die kühle Morgenluft hinaus.

Über den Bergen fing es schon leise an zu tagen und in Sils krähten die Hähne. Er ging tüchtig drauf los, damit er von den Häusern weg und auf die große Straße komme. Nun war er da und wanderte vergnügt weiter, denn da war ihm alles so wohl bekannt, er war oft mit dem Vater da hinaufgegangen. Wie lang es aber ging, bis man auf den Maloja kam, wußte er nicht mehr so recht, und es kam ihm lange vor, als er schon mehr als zwei gute Stunden immerfort gewandert war.

Aber nun kam nach und nach der helle Tag, und als er nach noch einer guten Stunde auf dem Platze vor dem Wirtshaus oben am Maloja angekommen war, da, wo er oft mit dem Vater die Straße hinuntergeschaut hatte, da lag ein sonniger Morgen über den Bergen und die Tannenwipfel waren alle wie von Gold. Rico setzte sich an den Rand der Straße nieder, er war schon recht müde, und nun merkte er auch, daß er nichts mehr gegessen hatte seit dem vorhergehenden Mittag. Aber er war nicht verzagt, denn nun ging es bergab und nachher konnte unversehens der See kommen. Wie er so dasaß, kam der große Postwagen herangerasselt; den hatte er schon oft gesehen, wenn er bei Sils vorbeifuhr, und immer dabei gedacht, das höchste Glück auf Erden genieße ein Kutscher, der immerfort mit einer Peitsche auf einem Bock sitzen und fünf Rosse regieren könne. Nun sah er einmal den Glücklichen in der Nähe, denn der Postwagen hielt still, und Rico verwandte nun kein Auge von dem merkwürdigen Manne, der von seinem hohen Sitz herunterkam, ins Wirtshaus eintrat und mit mehreren ungeheuren Stücken Schwarzbrot, über welchen ein gewaltig großer Brocken Käse lag, wieder aus dem Hause trat.

Nun zog der Kutscher ein festes Messer hervor und zerstückte sein Brot, und einem Pferd nach dem anderen steckte er einen guten Bissen ins Maul. Zwischenein kam er selbst an die Reihe, auf sein Stück Brot kam aber immer ein markiges Stück Käse. Wie sie nun alle zusammen so vergnüglich aßen, schaute der Kutscher ein wenig um sich, und mit einem Male rief er: »He, kleiner Musikant, willst du auch mithalten? Komm her!«

Erst seit Rico das Essen vor sich gesehen, hatte er gemerkt, wie sehr er Hunger hatte. Er folgte gern der Einladung und trat zu dem Kutscher heran. Der schnitt ihm ein ganz erstaunlich großes Stück Käse ab und legte dieses auf ein noch viel dickeres Stück Brot, so daß Rico kaum wußte, wie er die Dinge bewältigen konnte.

Er mußte seine Geige ein wenig auf den Boden legen. Der Kutscher schaute wohlgefällig zu, wie Rico in sein Frühstück biß, und während er selbst sein Geschäft fortsetzte, sagte er:

»Du bist noch ein kleiner Geiger, kannst du auch etwas?«

»Ja, zwei Lieder, und dann noch das vom Vater«, antwortete Rico.

»So, und wo willst du denn hin auf deinen zwei kleinen Beinen?« fuhr der Kutscher fort.

»Nach Peschiera am Gardasee«, war Ricos ernsthafte Antwort.

Jetzt entfuhr dem Kutscher ein so kräftiges Gelächter, daß der Rico ganz erstaunt zu ihm aufschauen mußte.

»Du bist ein guter Fuhrwerker, du«, lachte der Kutscher noch einmal; »weißt du denn nicht, wie weit das ist, und daß ein schmales Musikäntlein, wie du eins bist, sich beide Füße mitsamt den Sohlen durchlaufen würde, bevor es noch einen Tropfen Wasser vom Gardasee gesehen hätte? Wer schickt dich denn dort hinunter?«

»Ich gehe selber aus mir«, sagte Rico.

»Ein solcher ist mir noch nicht vorgekommen«, lachte der Kutscher gutmütig. »Wo bist du daheim, Musikant?«

»Ich weiß es nicht recht, vielleicht am Gardasee«, erwiderte Rico völlig ernsthaft.

»Ist das eine Antwort!« Jetzt schaute der Kutscher den Knaben vor sich genau an. Wie ein verlaufenes Bettelbüblein sah der Rico nicht aus. Der schwarze Lockenkopf über dem Sonntagswämschen sah ganz stattlich aus, und das feine Gesichtchen mit den ernsthaften Augen trug einen edlen Stempel und man schaute es gern noch einmal an, wenn man es gesehen hatte.

Dem Kutscher mochte es auch so gehen, er schaute den Rico fest an und dann noch einmal erst recht, dann sagte er freundlich: »Du trägst deinen Paß auf dem Gesicht mit, Büblein, und es ist kein schlechter, wenn du schon nicht weißt, wo du daheim bist. Was gibst du mir nun, wenn ich dich neben mich auf den Bock nehme und dich weit hinunterbringe?«

Rico staunte, als wäre es fast nicht möglich, daß der Mann diese Worte wirklich ausgesprochen habe. Auf dem hohen Postwagen ins Tal hinunter gefahren, ein solches Glück hätte er nie für sich möglich gehalten. Aber was konnte er dem Kutscher geben?

»Ich habe gar nichts als eine Geige, und die kann ich Euch nicht geben«, sagte der Rico traurig nach einigem Besinnen.

»Ja, mit dem Kasten wüßte ich auch nichts anzufangen«, lachte der Kutscher. »Komm, nun sitzen wir auf, – und du kannst mir ein wenig Musik machen.«

Rico traute seinen Ohren nicht; aber wahrhaftig! der Kutscher schob ihn über die Räder auf den hohen Sitz hinauf und kletterte nach. Die Reisenden waren wieder eingestiegen, der Wagen wurde zugeschlagen und nun ging's die Straße hinunter, die bekannte Straße, die Rico so oft sich von oben her angeschaut und verlangt hatte, da hinunter zu kommen. Nun war die Erfüllung da und in welcher Weise! Hoch oben zwischen Himmel und Erde flog der Rico dahin und konnte immer noch fast nicht glauben, daß er es selber sei.

Den Kutscher wunderte es nun doch ein wenig, wem denn das Büblein neben ihm gehören könnte.

»Sag mir einmal, du kleine, fahrende Habe, wo ist denn dein Vater?« fragte er nach einem festen Peitschenknall.

»Der ist tot«, antwortete Rico.

»So, und wo ist deine Mutter?«

»Die ist tot.«

»So, und dann hat man noch etwa einen Großvater und eine Großmutter, wo sind diese?«

»Die sind tot.«

»So, so, aber etwa einen Bruder oder eine Schwester hast du ja sicher; wo sind die hingekommen?«

»Sie sind tot«, war Ricos fortwährende traurige Antwort.

Da nun der Kutscher sah, daß da alles tot war, ließ er die Verwandtschaft in Ruhe und fragte nur: »Wie hieß dein Vater?«

»Enrico Trevillo von Peschiera am Gardasee«, erwiderte Rico.

Nun legte der Mann sich die Dinge ein wenig zurecht und dachte bei sich: das ist ein verschlepptes Büblein von da unten herauf, und es ist gut, daß es wieder an seinen Ort kommt. Damit ließ er die Sache liegen.

Als nun nach der ersten steil abwärts gehenden Strecke der Bergstraße der Weg etwas ebener wurde, sagte der Kutscher: »So, Musikant, nun spiel einmal ein lustiges Liedlein auf.«

Da nahm Rico die Geige vor und war so wohlgemut da oben auf seinem Thron, unter dem blauen Himmel hinfahrend, daß er mit der hellsten Stimme anfing und kräftig darauflos sang:

»Ihr Schäflein hinunter von sonniger Höh'.«

Nun saßen zuoberst auf dem Postwagen drei Studenten, die machten eine Ferienreise, und wie nun das Lied weiterging und Rico mit aller Lust und Fröhlichkeit Stinelis Verse sang, da gab es auf einmal oben auf dem Wagen ein lautes Hallo und Gelächter und die Studenten riefen: »Halt, Geiger, fang noch einmal an, wir singen auch mit.«

Da fing Rico wieder an, und nun fielen die Studenten ein und sangen mit aller Macht:

»Und die Schäflein, und die Schäflein« –

und dazwischen lachten sie so ungeheuer, daß man nichts mehr hörte von Ricos Geige, und dann sangen sie wieder und einer sang zwischenein ganz allein:

»Und tät' er nichts denken,
So tät' ihm nichts weh!«

Dann fielen die anderen wieder ein und sangen, so laut sie konnten:

»Und die Schäflein, und die Schäflein« –

und so ging es eine ganze Weile lang fort, und wenn Rico einmal etwas innehielt, so riefen sie: »Weiter, Geiger, nicht aufhören!« und warfen ihm kleine Geldstücke zu, immer wieder, daß er einen ganzen Haufen in der Kappe hatte.

Drinnen im Wagen machten die Reisenden alle Fenster auf und steckten die Köpfe heraus, um den frohen Gesang zu hören. Dann fing Rico von neuem an, und die Studenten brachen von neuem los und teilten das Lied in Soli und Chöre. Da sang die Solostimme ganz feierlich:

»Und ein See ist wie ein andrer
Von Wasser gemacht« –

und dann wieder:

»Und tät' er nichts denken,
So tät' ihm nichts weh« –

und dazwischen fiel der Chor ein, und sie sangen mit aller Kraft:

»Und die Schäflein, und die Schäflein« –

und nachher wollten sie sich wieder totlachen und konnten eine ganze Weile nicht fortfahren vor Gelächter.

Aber nun hielt auf einmal der Kutscher still, denn es mußte ein Halt gemacht und ein Mittagessen eingenommen werden. Als er den Rico hinunterschwang, hielt er ihm sorgfältig seine Kappe fest, denn da war all das Geld drin, und Rico hatte genug zu tun, seine Geige zu halten.

Der Kutscher war ganz vergnügt, als er die Kappe in Ricos Hand abgab und sagte: »So ist's recht, nun kannst du auch Mittag haben.«

Die Studenten sprangen hinunter, einer nach dem anderen, und alle wollten nun den Geiger sehen, denn sie hatten ihn nicht recht sehen können von ihrem Sitze aus, und als sie nun das schmächtige Männlein sahen, da ging die Verwunderung und die Heiterkeit erst recht wieder an: sie hätten der guten Stimme nach einen größeren Menschen erwartet, nun war der Spaß doppelt groß. Sie nahmen das Büblein in ihre Mitte und zogen mit Gesang ins Wirtshaus ein. Da mußte denn an dem schöngedeckten Tisch der Rico zwischen zwei der Herren sitzen und sie sagten, er sei nun ihr Gast, und legten ihm alle drei miteinander jeder ein Stück auf den Teller, denn keiner wollte ihm weniger geben, und ein solches Mittagessen hatte Rico in seinem ganzen Leben noch nie eingenommen.

»Und von wem hast du dein schönes Lied, Geigerlein?« fragte nun einer von den dreien.

»Vom Stineli, es hat es selbst gemacht«, antwortete Rico ernsthaft.

Die drei sahen sich an und brachen in ein neues, schallendes Lachen aus.

»Das ist schön vom Stineli«, rief der eine, »nun wollen wir es gleich hoch leben lassen.«

Rico mußte auch anstoßen und tat es ganz fröhlich auf Stinelis Gesundheit.

Nun war die Zeit um, und als man wieder zum Wagen herantrat, kam ein dicker Mann auf Rico zu, der hatte einen so gewaltigen Stock in der Hand, daß man denken mußte, er habe einen jungen Baum ausgerissen. Er war in einen festen, gelb-braunen Stoff gekleidet von oben bis unten.

»Komm her, Kleiner«, sagte er, »du hast so schön gesungen. Ich habe dich gehört hier drinnen im Wagen, und ich habe es auch mit den Schafen zu tun wie du; siehst du, ich bin ein Schafhändler, und weil du so schön von den Schafen singen kannst, mußt du von mir auch etwas haben.« Damit legte er ein schönes Stück Silbergeld in Ricos Hand, denn die Kappe war indessen geleert und alles in die Tasche gesteckt worden.

Dann stieg der Mann in den Wagen an seinen Platz und Rico wurde vom Kutscher wie eine Feder hinaufgehoben; dann ging's wieder davon.

Wenn der Wagen nicht zu rasch fuhr, wollten die Studenten immer gleich Musik haben, und Rico spielte alle Melodien, deren er sich nur erinnern konnte vom Vater her, und zuletzt spielte er noch: »Ich singe dir mit Herz und Mund.«

An dieser Melodie mußten die Studenten ganz sanft entschlafen sein, denn es war alles still geworden, und nun schwieg die Geige auch, und der Abendwind kam milde herangeweht, und leise stiegen die Sternlein auf am Himmel eins nach dem anderen, bis sie strahlten ringsum, wo Rico hinsah. Und er dachte an Stineli und die Großmutter, was sie nun tun, und es fiel ihm ein, daß um diese Zeit die Betglocke läutete und die beiden ihr Vaterunser beteten. Das wollte er auch tun; es war dann so, wie wenn er bei ihnen wäre, und Rico faltete die Hände und betete unter dem leuchtenden Sternenhimmel andächtig sein Vaterunser.

 


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