Johanna Spyri
Heimatlos
Johanna Spyri

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Sechzehntes Kapitel.

Ein Rat zur Freude für viele.

In diesem Zustande der Unruhe war es für die Frau Menotti ein rechter Trost, als sie einmal wieder nach langer Zeit den wohlmeinenden alten Herrn Pfarrer im langen schwarzen Rock durch den Garten kommen sah, der von Zeit zu Zeit den kleinen Kranken besuchte. Sie sprang auf von ihrem Stuhl und rief erfreut: »Sieh, Silvio, da kommt der gute Herr Pfarrer!« und ging ihm entgegen. Silvio aber in seinem Groll über alle Dinge rief, so laut er konnte, der Mutter nach: »Ich wollte lieber, das Stineli käme!«

Dann kroch er aber eilends unter die Decke, damit der Herr Pfarrer nicht wissen könne, woher die Stimme kam. Die Mutter war sehr erschrocken und bat im Eintreten den Herrn Pfarrer, er solle doch den Empfang nicht übel nehmen, er sei auch nicht so ernst gemeint. Silvio rührte sich nicht, er sagte nur ganz heimlich unter der Decke: »Doch, es ist mir sicher ernst.«

Der Herr Pfarrer mußte geahnt haben, woher die Stimme kam; er trat gleich an das Bett heran, und obwohl er kein Haar von Silvio sah, sagte er: »Gott grüß' dich, mein Sohn, wie steht es mit der Gesundheit, und warum verkriechst du dich in unterirdische Höhlen wie ein kleiner Dachs? Komm hervor und erkläre mir: was verstehst du unter einem Stineli?«

Nun kroch Silvio hervor, denn er hatte Respekt vor dem Herrn Pfarrer, da er nun so nah war. Er streckte schnell seine kleine magere Hand zum Gruße aus und sagte: »Dem Rico sein Stineli.«

Nun mußte die Mutter erklärend dazwischentreten, denn der Herr Pfarrer schüttelte verwundert den Kopf, indem er sich an Silvios Bett niedersetzte. Sie erzählte ihm nun die ganze Sache mit dem Stineli, und wie der kleine Silvio sich in den Kopf gesetzt habe, es werde ihm nie mehr wohl, wenn das Stineli nicht zu ihm komme, und wie der Rico nun auch unvernünftig geworden sei und meine, er könne das Mädchen holen, während er keinen Weg und Steg wisse und es ja so weit weg oben in den Bergen wohne, wo niemand zukomme, und man gar nicht wissen könne, was für ein erschreckliches Volk da sei. Denn man könne sich denken, wie es da zugehen müsse, wenn ein zartes Büblein, wie der Rico, lieber den größten Gefahren entgegenlaufe und sie bestehe, als unter solchen Leuten zu bleiben. Wenn alles anders wäre, fügte Frau Menotti hinzu, so wäre ihr kein Geld zu viel, so ein Mädchen kommen zu lassen, um dem Silvio das Verlangen zu stillen und jemand für ihn zu haben, denn manchmal werde es ihr fast zu viel mit allem, was sie zu tragen habe, und sie meine, sie könne nicht mehr fortkommen. Und der Rico, der sonst recht vernünftig rede, meine, kein Mensch könne ihr so gut in allem beistehen, wie dieses Stineli. Er müsse es gut kennen, und wenn es so sei, wie er es beschreibe, so konnte es auch noch eine Rettung sein für so ein Mädchen, wenn es von da droben wegkomme; aber da wüßte sie ja von keinem Menschen, der ihr einen solchen Dienst tun würde.

Der Herr Pfarrer hatte ganz ernsthaft zugehört und kein Wort gesagt, bis die Frau Menotti fertig war. Er hätte auch nicht gut dazwischenkommen können mit Worten, denn sie hatte ihr Herz lange nicht ausgeschüttet und es war ihr so voll geworden, daß Frau Menotti bei dem großen Andrang der Worte fast um den Atem gekommen war.

Als nun alles still war, nahm der Herr Pfarrer erst ganz ruhig noch eine Prise zu der vorhergehenden; dann sagte er gelassen:

»Hm, hm, Frau Menotti, ich glaube fast, Ihr habt von den Leuten da droben eine Meinung, die fast erschrecklich ist; es gibt doch auch noch Christen da, und seit man so allerhand Mittel erfunden hat, um weiter zu kommen, wird es auch noch möglich sein, daß einer ohne Gefahr dort hinaufkommt. Das wird man etwa in Erfahrung bringen können, man muß sich besinnen.«

Hier mußte der Herr Pfarrer sich erst wieder ein wenig stärken aus seiner Dose, dann fügte er bei: »Es gibt allerlei Händler, die von da oben herunter nach Bergamo kommen, Schafhändler und Roßhändler, die müssen die Wege wissen. Man kann sich erkundigen und dann muß man sich bestimmen; es wird etwa ein Mittel gefunden werden. Wenn Euch viel dran liegt, Frau Menotti, so will ich mich etwa umsehen; ich komme alle Jahre ein- oder zweimal nach Bergamo, so könnte ich die Sache ein wenig in die Hand nehmen.«

Frau Menotti war von solcher Dankbarkeit, daß sie gar nicht wußte, wie sie diese dem Herrn Pfarrer ausdrücken sollte. Mit einem Male waren ihr alle die schweren Gedanken abgenommen, die sie so viele Tage und Nächte lang verfolgt hatten, und in die sie sich immer mehr verwickelt hatte, je mehr sie sich damit abgab, so daß sie keinen Ausweg mehr vor sich gesehen hatte. Nun hatte der Herr Pfarrer die ganze Last auf sich genommen, und sie konnte den Silvio von nun an auf ihn verweisen.

Silvio hatte das ganze Gespräch über mit seinen grauen Augen den Herrn Pfarrer fast durchbohrt vor Spannung. Als dieser nun aufstand und dem Kleinen die Hand zum Abschied bot, patschte Silvio die seinige ganz gewaltig hinein, so als wollte er sagen: diesmal gilt's mir! Der Herr Pfarrer versprach, Bericht zu geben, sobald er seine Erkundigungen eingezogen hätte und wüßte, ob die Sache ausführbar wäre, oder ob Silvio von seinem Begehren abstehen müsse.

Nun vergingen die Wochen eine nach der anderen, aber der Silvio hielt sich gut. Er hatte eine bestimmte Hoffnung vor Augen, und dazu war der Rico auf einmal so unterhaltend und lebendig geworden, wie noch nie. In den war es gefahren wie ein zündender Freudenfunke, als er den Ausspruch des Herrn Pfarrers vernommen hatte, und seither war ein neues Leben in ihm. Er wußte dem Silvio mehr zu erzählen als je, und nahm er seine Geige zur Hand, so kamen so herzerquickende Töne und Weisen daraus hervor, daß die Frau Menotti gar nicht mehr aus dem Zimmer weg mochte und sich nicht genug verwundern konnte, woher der Rico das alles nahm.

Rico hatte auch nur in dieser Stube rechte Freude an seiner Geige; in dem weiten, hohen Raum tönte es so schön und da war es so still und luftig, da war kein Tabaksqualm und kein Menschentumult, und er mußte nicht bei den Tänzen bleiben, sondern konnte spielen, was ihn freute. Mit jedem Tage kam auch Rico lieber in das Haus, und oft, wenn er eintrat, dachte er: so ist es wohl einem zumute, der heimkommt. Aber er war ja doch nicht daheim, er durfte nur für ein paar Stunden kommen und mußte immer wieder gehen.

In der letzten Zeit war aber etwas in den Rico gefahren, das die Wirtin manchmal in große Verwunderung setzte. Wenn sie etwa das schmutzige, zerbrochene Abfallbecken vor ihn hinstellte und sagte: »Da, Rico, bring es den Hühnern!« – so stellte er sich etwas auf die Seite und legte die Hände auf den Rücken, zum Zeichen, daß er das Becken nicht berühren möge, und sagte ruhig: »Ich wollte lieber, das täte jemand anders!«

Und wenn sie die alten Schuhe hervorbrachte und Rico in die Hand geben wollte, daß er sie zum Schuhflicker hintrage, so tat Rico wieder desgleichen und sagte: »Ich wollte lieber, es ginge ein anderer.«

Die Wirtin aber war eine kluge Frau und hatte ihre Augen im Kopfe, um damit zu sehen, was vorging, und so war es ihr nicht entgangen, wie Rico sich seit einiger Zeit verändert hatte und wie er aussah. Frau Menotti hatte ihn immer gut gekleidet, seit sie die Verpflichtung dazu übernommen hatte; da aber dem Rico alles gut stand und er immer mehr aussah wie ein Herrensöhnchen, so hatte die Frau Menotti ihre Freude daran und kleidete ihn in gute Stoffe, und Rico ging sorgsam und ordentlich damit um, denn er mochte gern, was schön anzusehen war, und Schmutz und Unordnung war ihm zuwider wie der Lärm. Das sah die Wirtin alles an, und dazu war ihr wohlbewußt, wie der Rico ganz so, wie er das erste Mal getan, immer noch wenn er von den Tanzbelustigungen aus der Umgegend zurückkehrte, seine Tasche vor ihr ausleerte und das Geld hinrollen ließ, ohne eine Miene zu machen, als ob er nur etwas davon begehrte.

Er brachte auch immer mehr, denn er war nicht nur Tanzgeiger, wie die anderen; man wollte auch immer noch seine Lieder hören nach dem Tanzen und allerhand Melodien, die er wußte. So war der Wirtin daran gelegen, den Rico willig zu erhalten, und sie ließ ihn in Ruhe mit den Hühnern und den alten Schuhen und begehrte diese Dienste nicht mehr von ihm.

Über all' diesen Ereignissen waren an die drei Jahre dahingegangen, seit der Rico der Peschiera erschienen war. Er war nun ein vierzehnjähriger aufgeschossener Junge geworden, und wer ihn ansah, der hatte sein Wohlgefallen an ihm.

Wieder leuchteten die goldenen Herbsttage über den Gardasee und der blaue Himmel lag auf der stillen Flut. Im Garten hingen die Trauben golden an den Ranken und die roten Oleanderblumen funkelten im lichten Sonnenschein. In Silvios Stube war es ganz still; denn die Mutter war draußen, um Trauben und Feigen zum Abend hereinzuholen. Silvio lauschte auf Ricos Tritt, denn es war die Zeit, da er gewöhnlich kam. Jetzt ging das Pförtchen auf am Zaun; Silvio schoß auf. Ein langer schwarzer Rock kam hereingewandert, es war der Herr Pfarrer. Diesmal kroch Silvio nicht ins Loch; er streckte seine Hand, so weit er konnte, dem Herrn Pfarrer entgegen, lange eh' dieser nur halbwegs im Garten angekommen war. Der Empfang gefiel ihm aber; er trat gleich in die Stube ein und an Silvios Bett hin, obschon er die Mutter hinten im Garten sah, und sagte: »So ist's recht, mein Sohn, und wie steht es mit der Gesundheit?« – »Gut«, entgegnete Silvio schnell. Er schaute in höchster Spannung den Herrn Pfarrer an und fragte dann halblaut: »Wann kann der Rico gehen?«

Der Herr Pfarrer setzte sich an dem Bett nieder und sagte mit feierlichem Ton: »Morgen um fünf Uhr wird der Rico reisen, mein Söhnchen.«

Frau Menotti war eben eingetreten, und nun ging es an ein Fragen und Verwundern von ihrer Seite, daß der Herr Pfarrer Mühe hatte, sie zu beschwichtigen, damit er ungestört seinen Bericht auseinanderlegen könnte. Es gelang ihm endlich, und Silvio hielt seine Augen auf ihn geheftet wie ein kleiner Sperber, als nun die Erzählung kam.

Der Herr Pfarrer kam eben von Bergamo her, wo er zwei Tage zugebracht hatte. Da hatte er mit Hilfe seiner Freunde einen Roßhändler ermittelt, der kam schon seit 30 Jahren jeden Herbst nach Bergamo und kannte alle Wege und Gegenden von da bis noch weit über die Berge hinaus, wo Rico hin mußte. Er wußte auch, wie man in die Berge hinaufkommen konnte, ohne nur auszusteigen und zu schlafen unterwegs. Den Weg machte er selbst und wollte den Rico mitnehmen, wenn er am Morgen mit dem ersten Zuge in Bergamo ankomme. Der Mann kannte auch alle Kutscher und Kondukteure und wollte für die Rückkehr den Jungen und seine Begleiterin den Leuten übergeben und anempfehlen, so daß sie sicher reisen würden.

So fand der Herr Pfarrer, man könne nun den Rico in Frieden ziehen lassen, und gab seinen Segen zu der Reise.

Als er aber schon am Gartenzaun stand, kehrte die Frau Menotti, die ihn begleitet hatte, noch einmal um und fragte voller Besorgnis: »Ach, Herr Pfarrer, wird auch sicher keine Lebensgefahr dabei sein, oder daß der Rico auf den verirrlichen Wegen sich verlieren könnte und dann in den wilden Bergen umherirren müßte?«

Der Herr Pfarrer beruhigte die Frau nochmals, und nun ging sie zurück und bedachte, was nun alles für den Rico zu tun sei. Dieser trat eben in den Garten ein, und das Freudengeschrei, welches ihm Silvio nun entgegensandte, war so erstaunlich, daß Rico in drei Sprüngen an dem Bett war, um zu sehen, was sich da ereignet habe.

»Was hast du? was hast du?« fragte Rico immerzu, und Silvio rief in einem fort: »Ich will's sagen! Ich will's sagen!« vor lauter Angst, die Mutter komme ihm zuvor. Diese ließ aber nun die Buben mit ihrer Freude allein und ging ihrem Geschäfte nach, denn das war nun das Wichtigste. Sie holte einen Reisesack hervor und stopfte unten hinein ein ungeheures Stück geräuchertes Fleisch und einen halben Laib Brot und ein großes Paket gedörrter Pflaumen und Feigen und eine Flasche Wein, gut in ein Tuch gewickelt, und dann kamen die Kleider, zwei Hemden, ein Paar Strümpfe und ein Paar Schuhe und Taschentücher, und bei alledem war der Frau nicht anders zumute, als reiste Rico nach dem fernsten Weltteil, und sie merkte nun erst recht, wie lieb ihr der Rico war, so daß sie ohne ihn fast nicht mehr sein konnte.

Sie mußte auch zwischen dem Packen immer wieder niedersitzen und denken: »Wenn es nur auch kein Unglück gibt!«

Nun kam sie herunter mit dem Sack und ermahnte den Rico, jetzt gleich hinzugehen und der Wirtin alles gut zu erklären und sie zu bitten, daß sie ihn auch gehen lasse und nichts dagegen habe, und den Sack könne er gleich auf die Bahn bringen.

Rico war zum höchsten erstaunt über sein Gepäck; er tat aber folgsam, wie ihm geheißen wurde, und ging dann zur Wirtin. Er erzählte dieser, daß er in die Berge hinauf müsse und das Stineli herunterholen, und es komme vom Herrn Pfarrer her, daß er gleich morgen um fünf Uhr fort müsse. Das flößte der Wirtin schon ein wenig Respekt ein, daß der Herr Pfarrer mit der Sache zu tun habe. Sie wollte aber wissen, wer das Stineli sei und was es im Sinn habe; sie dachte gleich, das könnte etwas für sie sein. Sie brachte aber nur in Erfahrung, daß das Stineli ein Mädchen sei, das Stineli heiße, und daß es zur Frau Menotti komme. Da ließ sie die Sache gehen, denn der Frau Menotti wollte sie nichts in den Weg legen; sie war zufrieden genug, daß diese den Rico ihr so ruhig überlassen hatte. Sie nahm auch an, das Stineli sei natürlich Ricos Schwester, er sage es nur nicht, wie er überhaupt nie etwas von seinen Familienverhältnissen gesagt hatte.

So erzählte sie auch noch denselben Abend allen Gästen, die ins Haus kamen, der Rico hole morgen seine Schwester herunter, denn er habe erfahren, wie gut man es hier unten haben könne.

Nun wollte sie aber auch zeigen, wie sie es mit dem Rico meinte. Sie holte einen großen Korb vom Estrich herunter und steckte ihn ganz voller Würste und Käse und Eier und Brotschnitten mit fingerdicker Butter dazwischen und sagte:

»Auf der Reise mußt du keinen Hunger haben, und das übrige kannst du schon dort oben brauchen; da wirst du nicht zu viel finden, und im Heimweg mußt du auch noch etwas haben. Denn du kommst doch wieder, Rico, sicher?«

»Sicher«, sagte Rico, »in acht Tagen bin ich wieder da.«

Nun trug Rico noch seine Geige zur Frau Menotti, denn die hätte er sonst niemandem anvertraut, und nun nahm er Abschied für acht Tage, denn nach Verfluß dieser Zeit konnte er wohl wieder da sein, wenn alles gut ging.

 


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