Johanna Spyri
Heimatlos
Johanna Spyri

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Zwölftes Kapitel.

Es geht noch weiter.

Rico war auch entschlafen. Er erwachte daran, daß ihn der Kutscher packte, um ihn herunterzunehmen. Nun stieg alles aus und herunter, und die drei Studenten kamen noch auf den Rico zu und schüttelten ihm die Hand und wünschten ihm viel Glück auf seine Reise. Und einer rief: »Grüß uns auch freundlich das Stineli!«

Dann verschwanden sie in einer Straße und Rico hörte, wie sie noch einmal anstimmten: »Und die Schäflein, und die Schäflein.«

Nun stand Rico da in der dunkeln Nacht und hatte gar keinen Begriff, wo er war, und auch nicht, was er tun sollte. Da fiel ihm ein, daß er nicht einmal dem Kutscher gedankt hatte, der ihn doch so weit hatte mitfahren lassen, und er wollte es gleich noch tun.

Aber der Kutscher war mitsamt den Pferden verschwunden, und es war dunkel ringsum: nur drüben hing eine Laterne, auf diese ging Rico zu. Sie hing an der Stalltür, wo die Pferde eben hineingeführt wurden. Daneben stand der Mann mit dem dicken Stock, er schien auf den Kutscher zu warten. Rico stellte sich auch hin und wartete desgleichen.

Der Schafhändler mußte ihn in der Dunkelheit nicht gleich erkannt haben; auf einmal sagte er erstaunt: »Was, bist du auch noch da, Kleiner, wo mußt du denn deine Nacht zubringen?«

»Ich weiß nicht, wo«, antwortete Rico.

»Das wäre der Tausend! um elf Uhr in der Nacht ein solches bißchen von einem Buben wie du, und im fremden Lande –«

Der Schafhändler mußte seine Worte völlig herausblasen, denn in der Erregung kam er nicht gut zu Atem; er endigte aber seinen Satz nicht, denn der Kutscher kam aus dem Stalle, und Rico lief gleich auf ihn zu und sagte: »Ich habe Euch noch danken wollen, daß Ihr mich mitgenommen habt.«

»Das ist gerade gut, daß du noch kommst, jetzt hätte ich dich über den Rossen vergessen und wollte dich doch da einem Bekannten übergeben. Eben wollte ich Euch fragen, guter Freund«, fuhr er, zum Schafhändler gewandt, fort, »ob Ihr nicht das Büblein mitnehmen würdet, weil Ihr doch ins Bergamaskische hinabgeht. Es muß an den Gardasee hinunter, irgendwohin; es ist so eins von denen, die so hin und her – Ihr versteht mich schon.«

Dem Schafhändler kamen allerhand Geschichten von gestohlenen und verlorenen Kindern vor Augen, er schaute Rico im Schein der Laterne mitleidsvoll an und sagte halblaut zum Kutscher: »Er sieht auch so aus, als ob es nicht sein rechtes Futteral wäre, in dem er steckt. Er wird wohl in ein Herrenmäntelchen hineingehören. Ich nehme ihn mit.«

Nachdem er noch einen Schafhandel mit dem Kutscher besprochen, nahmen die beiden Abschied voneinander, und der Schafhändler winkte Rico, daß er mit ihm kommen solle.

Nach einer kurzen Wanderung trat der Mann in ein Haus und unmittelbar in eine große Wirtsstube ein, wo er sich mit Rico in einer Ecke niederließ.

»Nun wollen wir einmal deine Barschaft ansehen«, sagte er zu Rico, »daß wir wissen, was sie erleiden mag. Wohin mußt du unten am See?«

»Nach Peschiera am Gardasee«, war Ricos unveränderliche Antwort. Er zog nun seine Geldstücke alle hervor, ein artiges Häuflein kleiner Münzen und oben darauf das größere Silberstück.

»Hast du nur das eine gute Stück?« fragte der Händler.

»Ja, nur das, von Euch hab' ich's«, entgegnete Rico.

Das gefiel dem Mann, daß er allein ein großes Stück gegeben hatte und daß es der Junge gut wußte; er bekam Lust, ihm gleich noch etwas zu geben. Als nun gerade das Essen vor sie hingestellt wurde, nickte der behäbige Mann seinem kleinen Nachbar zu und sagte: »Das bezahl' ich und das Nachtlager auch; so kommst du morgen aus mit deinem Vermögen.«

Rico war so müde von all dem Singen und Geigen und Fahren den ganzen Tag, daß er kaum mehr essen konnte, und in der großen Kammer, wo er zusammen mit seinem Beschützer die Nacht zuzubringen hatte, war er kaum in sein Bett gestiegen, als er sofort in einen tiefen Schlaf sank.

Am frühen Morgen wurde Rico von einer kräftigen Hand aus seinem festen Schlaf aufgerüttelt. Er sprang eilends aus seinem Bett; sein Begleiter stand schon reisefertig da mit dem Stock in der Hand.

Es währte aber gar nicht lang, so stand auch Rico zur Abreise bereit, die Geige im Arm. Erst traten die beiden in die Wirtsstube ein und Ricos Begleiter rief nach Kaffee. Dann ermunterte er den Jungen, er solle nur recht viel davon zu sich nehmen, denn nun komme eine lange Fahrt und eine solche, die Appetit mache.

Als das Geschäft zur Zufriedenheit abgetan war, zogen die Reisenden aus, und nach einer Strecke Wegs kamen sie um eine Ecke herum, und – wie mußte Rico da die Augen auftun – auf einmal sah er einen großen, flimmernden See vor sich, und ganz erregt sagte er: »Jetzt kommt der Gardasee.«

»Noch lange nicht, Bürschlein; jetzt sind wir am Comersee«, erklärte sein Schutzherr. Nun stiegen sie in ein Schiff und fuhren viele Stunden lang dahin. Und Rico schaute bald nach den sonnigen Ufern, bald in die blauen Wellen, und es wehte ihn heimatlich an. – Jetzt legte er mit einem Male sein Silberstück auf den Tisch.

»Was, was, hast du schon zuviel Geld«, fragte der Schafhändler, der, mit beiden Armen auf seinen Stock gestützt, erstaunt dem Unternehmen zusah.

»Heute muß ich bezahlen«, sagte Rico, »Ihr habt's gesagt.«

»Du gibst doch acht, wenn man dir etwas sagt, das ist etwas Gutes; aber sein Geld legt man nicht nur so auf den Tisch, gib mir's einmal her.«

Damit stand er auf und ging, sich nach der Bezahlung umzusehen. Als er aber seinen dicken Lederbeutel hervorzog, der ganz voll solcher Silberstücke war, denn er war auf einer Handelsreise begriffen, da konnte er's nicht übers Herz bringen, des Bübleins einziges Stück herzugeben, und er brachte es wieder zurück samt der Karte und sagte:

»Da, du kannst's morgen noch besser brauchen; jetzt bist du noch bei mir und wer weiß, wie es dir nachher geht. Wenn du einmal da unten ankommst und ich nicht mehr bei dir bin, findest du dann auch ein Haus, wo du hinein mußt?«

»Nein, ich weiß kein Haus«, antwortete Rico. Der Mann hatte ein großes heimliches Erstaunen zu bewältigen, denn des Bübleins Geschichte kam ihm sehr geheimnisvoll vor. Er ließ aber nichts merken und fragte auch nicht weiter; er dachte, da komme er doch nicht ins klare; der Kutscher müsse ihm dann einmal Aufschluß geben, der wisse wohl mehr von allem, als das Büblein selbst. Mit diesem hatte er großes Mitleid, denn es mußte nun bald noch seinen Schutz verlieren.

Als das Schiff stillstand, nahm der Mann Rico an die Hand und sagte: »So verlier' ich dich nicht und du kommst besser nach, denn jetzt heißt's gut marschieren; die warten nicht.«

Rico hatte zu tun, den guten Schritten nachzukommen. Er schaute weder rechts noch links und auf einmal stand er vor einer langen Reihe ganz sonderbarer Rollwagen. Da stieg er auf einem Treppchen hinein, dem Begleiter nach, und nun fuhr Rico zum ersten Male in seinem Leben auf einer Eisenbahn. Nachdem man so eine Stunde lang gefahren war, stand der Schafhändler auf und sagte: »Jetzt kommt's an mich, da sind wir in Bergamo, und du bleibst ruhig sitzen, bis dich einer herausholt, denn ich habe alles eingerichtet, dann steigst du aus und bist da.«

»Bin ich dann in Peschiera am Gardasee?« fragte Rico. Das bestätigte sein Beschützer. Nun bedankte sich Rico recht schön, denn er hatte wohl verstanden, wie viele Guttaten ihm dieser Mann erwiesen hatte, und so schieden sie und es tat jedem leid, daß er vom anderen wegkam.

Rico saß nun ganz still in seiner Ecke und hatte Zeit zum Staunen, denn es bekümmerte sich kein Mensch mehr um ihn. So mochte er wohl gegen drei Stunden unbeweglich dagesessen haben, als der Zug wieder einmal anhielt, wie schon mehrere Male.

Jetzt trat ein Wagenführer herein, nahm den Rico beim Arm und zog ihn in Eile aus dem Wagen und die Treppe hinunter. Dann deutete er die Anhöhe hinab und sagte: »Peschiera«, und im Nu war er wieder im Wagen droben und verschwunden, der Zug sauste weiter.

 


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