Johanna Spyri
Heimatlos
Johanna Spyri

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Zwanzigstes Kapitel.

In der Heimat.

Als der goldene Sonntagmorgen über den Garten mit den roten Blumen leuchtete, trat Frau Menotti heraus und setzte sich auf die Rasenbank am Zaun. Sie schaute ringsum und hatte ihre eigenen Gedanken dabei. Hier die Oleanderblumen und die Lorbeerhecke dahinter, dort die vollen Feigenbäume und die goldenen Weinranken dazwischen, – da sagte sie leise für sich: »Gott weiß, ich wäre froh, wenn mir das Unrecht vom Gewissen genommen würde; aber so schön, wie es hier ist, würde ich's nirgends mehr finden.«

Jetzt trat der Rico in den Garten; er mußte ja heut' Nachmittag fort, und so den ganzen Tag, ohne einmal zu kommen, konnte er's nicht gut aushalten. Als er gerade nach der Stube gehen wollte, rief ihn Frau Menotti und sagte:

»Setz dich einen Augenblick hier zu mir; wer weiß, wie lange wir hier noch nebeneinander sitzen werden!«

Rico erschrak.

»Warum denn, Frau Menotti, Ihr geht doch nicht fort?«

Nun mußte Frau Menotti ablenken, ihre Geschichte konnte sie nicht erzählen. Es kam ihr in den Sinn, was Stineli ihr gestern Abend vom Rico gesagt hatte; sie war aber so von ihrer eigenen Sache erfüllt gewesen, daß sie es nicht recht verstanden hatte. Jetzt fing es an, sie ein wenig zu wundern, da es ihr wieder in den Sinn kam.

»Sag einmal, Rico«, fing sie an, »warst du denn früher schon einmal da, daß du den See wiedersehen wolltest, wie mir gestern das Stineli erzählt hat?«

»Ja, wie ich klein war«, sagte Rico, »dann kam ich fort.«

»Wie kamst du denn hierher, als du klein warst?«

»Hier kam ich auf die Welt.«

»Was, hier? Was war denn dein Vater, daß er aus den Bergen hier herunterkam?«

»Er war nicht aus den Bergen, nur die Mutter!«

»Was du sagst, Rico. Dein Vater war doch nicht von hier?«

»Doch, er war von hier.«

»Das hast du alles nicht erzählt, das ist ja so merkwürdig! Du hast doch keinen Namen von hier; wie hieß denn dein Vater?«

»Wie ich hieß er: Enrico Trevillo.«

Frau Menotti fuhr von der Bank auf, als treffe sie ein Anfall.

»Was sagst du da, Rico«, rief sie, »was hast du gerade jetzt gesagt?«

»Meines Vaters Namen«, sagte Rico ruhig.

Frau Menotti hatte nicht mehr zugehört, sie war an die Tür gelaufen.

»Stineli, gib mir ein Halstuch«, rief sie hinein. »Ich muß zum Herrn Pfarrer auf der Stelle, mir zittern alle Glieder.«

Stineli brachte erstaunt ein Halstuch.

»Komm ein paar Schritte mit mir, Rico«, sagte Frau Menotti im Weggehen; »ich muß dich noch etwas fragen.«

Zweimal noch mußte Rico sagen, wie sein Vater hieß, und zum dritten Male fragte Frau Menotti ihn noch an der Tür des Pfarrers, ob er auch sicher sei. Dann trat sie in das Haus ein. Rico kehrte zurück und war verwundert über den Zustand der Frau Menotti.

Rico hatte seine Geige mitgebracht, er wußte, daß es dem Stineli jedesmal Freude machte, wenn sie mitkam. Als er nun damit in der Stube anlangte, traf er den Silvio und das Stineli in der besten Stimmung: denn Stineli hatte seinem Versprechen gemäß die Geschichte vom Peterli erzählt und damit sich und den Silvio in die größte Heiterkeit versetzt. Als dieser nun die Geige erblickte, rief er gleich: »Nun wollen wir singen, mit dem Stineli wollen wir die Schäflein singen.« Stineli hatte sein Lied nie mehr gehört, seit es entstanden war: denn Rico spielte jetzt viele schöne Weisen, und es hatte lange niemand mehr an das Lied gedacht. Daß aber der kleine Silvio das deutsche Lied singen wollte, überraschte es sehr, denn es wußte nicht, wie viele hundert Male Rico es ihm vorgesungen hatte in den drei Jahren. Stineli hatte die größte Freude, daß es das alte Lied wieder einmal mit Rico singen sollte, und nun ging's an, und richtig: Silvio sang aus allen Kräften mit, und ohne daß er ein einziges Wort verstand, hatte er sie alle dem Tone nach behalten durch das viele Anhören. Aber diesmal war das Lachen am Stineli: denn Silvio sprach seine Worte meistens so ganz verwunderlich aus, daß es vor Lachen gar nicht singen konnte, und wie nun der Silvio das Stineli so mit dem ganzen Gesicht lachen sah, da fing auch er an, und dann sang er noch vernehmlicher und lauter, daß das Stineli noch mehr lachen mußte, und dazu geigte der Rico mit aller Kraft sein: »Schäflein hinunter«.

So tönte schon von weitem das singende Gelächter der Frau Menotti entgegen, als sie sich ihrem Garten näherte, und sie konnte nicht recht fassen, wie das so sein konnte in dieser ereignisvollen Stunde. Eilends kam sie durch den Garten und trat in die Stube ein; sie mußte sich gleich auf dem ersten Stuhle niederlassen, denn der Schrecken und die Freude und das Laufen und die Erwartung aller kommenden Dinge hatten sie überwältigt, und sie mußte erst zu sich kommen. Die Sänger waren verstummt und schauten verwundert auf die Mutter. Jetzt hatte sie sich gesammelt.

»Rico«, sagte sie, feierlicher als sonst, »Rico, sieh um dich! Dieses Haus, dieser Garten, das Feld, alles, was du hier sehen und nicht sehen kannst von oben bis unten, das gehört alles dir; du bist der Besitzer, es ist dein väterliches Erbgut. Da ist deine Heimat; dein Name steht im Taufbuch, du bist der Sohn von Enrico Trevillo, und der war meines Mannes nächster Freund.«

Stineli hatte bei den ersten zwei Worten schon alles begriffen und unaussprechliche Freude überstrahlte sein Gesicht. Rico saß wie versteinert auf seinem Stuhl und gab keinen Laut von sich. Aber der Silvio, große Kurzweil ahnend, brach in Jubel aus und rief:

»O jetzt gehört auf einmal das Haus dem Rico! Wo muß er schlafen?«

»Muß? Muß? Silvio!« sagte die Mutter. »In allen Stuben kann er sein, wo er will; er kann uns alle drei heut' noch da hinausstellen, wenn er will, und ganz mutterseelenallein im Hause bleiben.«

»Dann ging ich lieber auch zu euch hinaus«, sagte Rico.

»Ach, du guter Rico!« rief Frau Menotti aus; »wenn du uns da drinnen haben willst, wie bleiben wir so gern! Siehst du, ich habe mir schon im Heimweg ein wenig ausgedacht, wie wir es machen könnten. Ich könnte dir das halbe Haus abnehmen und so mit dem Garten und dem Land; so gehörte die eine Hälfte von allem dir und die andere dem Silvio.«

»Dann geb' ich meine Hälfte dem Stineli«, rief Silvio.

»Und ich die meine auch«, sagte Rico.

»Oho, nun gehört alles dem Stineli!« frohlockte der Kleine aus seinem Bett heraus, »der Garten und das Haus und alles, was drin ist, die Stühle und die Tische und ich und der Rico und seine Geige. Jetzt wollen wir wieder singen!«

Aber so abgemacht, wie der Silvio die Sache auffaßte, kam sie dem Rico nicht vor. Er hatte unterdessen über die Worte der Frau Menotti nachgedacht und fragte nun zaghaft:

»Aber wie könnte das sein, daß das Haus von Silvios Vater mein wäre, darum, daß mein Vater sein Freund war?«

Da fiel es der Frau Menotti erst ein, daß ja der Rico von dem ganzen Hergang der Sache noch nichts wußte, und sie fing gleich an und erzählte die ganze Geschichte von vorn an und noch viel weitläufiger, als sie am Abend vorher alles dem Stineli erzählt hatte. Und wie sie zu Ende war, da hatten die drei alles völlig begriffen, und bei allen dreien ging ein unbeschreiblicher Jubel los, denn da war gar kein Hindernis mehr, daß Rico auf der Stelle in sein Haus einziehe und es nie wieder verlasse.

Mitten aus dem Jubel heraus aber sagte Rico:

»Weil doch alles so ist, Frau Menotti, so muß ja nun gar nichts anders werden in dem Hause; ich komme nun auch und bin daheim hier, und wir bleiben so zusammen, und Ihr seid unsere Mutter.«

»O Rico, daß du es bist, daß du es bist! Wie hat doch der liebe Gott das alles so schön herausgeführt! Daß ich es alles dir zu übergeben habe und doch dableiben kann mit dem besten Gewissen. Ich will dir auch eine Mutter sein, Rico, sieh, du bist mir ja auch lange schon lieb wie ein eigenes Kind. Jetzt mußt du mich auch Mutter nennen, und das Stineli auch, und wir sind die glücklichste Haushaltung in ganz Peschiera.«

»Jetzt müssen wir unser Lied fertig singen«, rief der Silvio, dem es so ums Singen und Jauchzen war, daß er einen Ausweg haben mußte, und Rico und Stineli begannen noch einmal den Gesang in der größten Fröhlichkeit, denn es war ihnen nicht minder wohl ums Herz. Als sie aber damit fertig waren, sagte Stineli:

»Nun möchte ich noch ein Lied mit dir singen, Rico; Weißt du, was für eines?«

»Ja, ich weiß es«, antwortete Rico, »und ich will auch gern mithalten; wir wollen gleich beim Vers der Großmutter anfangen«, und er stimmte an und sang so schön und tief heraus, wie er noch gar nie gesungen hatte, und Stineli sang mit seinem ganzen Herzen dazu:

    »Er hat noch niemals was versehn
In seinem Regiment,
Und was er tut und läßt geschehn,
Das nimmt ein gutes End'.

    Ei nun, so laß ihn ferner tun
Und red ihm nicht darein,
So wirst du hier im Frieden ruhn
Und ewig fröhlich sein.«

Aber nach Riva ging der Rico nicht an dem Tage. Die Mutter Menotti hatte ihm geraten, gleich hinzugehen und der Wirtin seine veränderten Verhältnisse mitzuteilen, einen Geiger nach Riva zu beordern und gleich heute noch in sein Haus einzuziehen. Dieser Vorschlag gefiel dem Rico, und er eilte gleich fort. Die Wirtin hörte ihm mit der größten Verwunderung zu, als er ihr seine Mitteilungen machte; als er fertig war, rief sie ihren Mann herbei und bezeugte eine laute Freude und wünschte dem Rico allen Segen in sein Haus, und es kam ihr recht von Herzen. Sie verlor ihn ungern, aber sie hatte schon seit einiger Zeit den Verdacht gehegt, die Wirtin zu den »Drei Kronen« fahnde auf den Rico und mache ihn ihr noch abspenstig; das hätte sie nicht ertragen. Nun war der gefürchteten Tat der Riegel gestoßen, und daß der Rico ein Gutsherr geworden war, mochte sie ihm gönnen, denn sie hatte ihn immer wohl gemocht. Und der Mann hatte seine besondere Freude an der Sache, denn er hatte den Vater gekannt und konnte gar nicht begreifen, daß es ihm nie in den Sinn gekommen war, wie ihm der Rico aufs Haar gleich sehe. So nahm Rico einen freundlichen Abschied aus dem Hause, und als ihm die Wirtin unter der Tür noch einmal die Hand gab, empfahl sie sich noch für alle Fälle, wenn er etwa mit der Zeit einmal einen Anlaß von seinem Haus aus zu geben hätte. Noch an demselben Abend wußte ganz Peschiera die ganze Geschichte des Rico, wie sie sich zugetragen hatte, und dann noch viel dazu, und jedermann mochte dem Rico sein Glück gönnen, und einer sagte zum anderen: »Er paßt gerade als Herr auf sein Gütlein, als wäre er eigens dazu geschaffen worden.«

Die Mutter Menotti aber wußte nicht, wie sie es dem neuen Besitzer gut genug machen wollte in seinem Hause. Sie rüstete das große Zimmer auf mit den zwei Fenstern über den Garten und auf den See hinab; von der Wand schauten schöne weiße Marmorfigürchen herunter, auf den Tisch kam ein duftender Blumenstrauß, und das ganze Zimmer sah so sauber und festlich aus, daß der Rico unter der Tür stehen blieb vor Erstaunen, wie er jetzt, vom Stineli geführt, heraufkam, wo die Mutter Menotti ihn empfangen wollte. Als diese ihn aber bei der Hand nahm und zum Fenster führte, wo er auf den flimmernden See hinunter und bis zu den violetten Bergen hinübersah, da stieg dem Rico so vieles auf im Herzen, daß es ihm vor Freude und Dank übervoll wurde und er nur leise sagen konnte:

»O wie schön! nun darf ich daheim sein!«

In der wohnlichen Stube mit den offenen Türen auf den Blumengarten wurde von dem Abend an, da Rico sein Haus bezogen hatte, von den vier Bewohnern desselben ein Tag nach dem anderen in solcher Fröhlichkeit und ungetrübtem Glücke verlebt, daß keines von allen bemerkte, wie rasch die Zeit dahinging.

Am Tage ging der Rico seinem pfeifenden Burschen nach zu den Feigenbäumen und auf den Acker hinaus ins Maiskorn, denn das mußte er nun alles behandeln lernen. Dann dachte der Bursche bei sich selbst: »Ich kann freilich mehr als mein Meister«, und der Hochmut stieg ihm ein wenig in den Kopf gegen den Rico; aber am Abend klangen aus der erleuchteten Stube so schöne und herzgewinnende Weisen in den Garten hinaus, daß der Bursche sich an die Hecke lehnte und stundenlang lauschte, denn Musik ging ihm über alles. Dann sagte er zu sich: »Mein Meister kann doch mehr als ich«, und bekam einen großen Respekt vor ihm.

 


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