Johanna Spyri
Heimatlos
Johanna Spyri

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Achtes Kapitel.

Am Silser See.

Das Stineli kam gar nicht mehr ins Gleichgewicht vor Freude die ganze Woche durch; aber es kam ihm auch vor, als habe diese Woche zehn Tage mehr als jede andere, denn es wollte gar nicht Sonntag werden.

Als er aber doch endlich kam und eine goldene Sonne über die Herbsthöhen leuchtete, und es mit dem Rico oben unter den Tannen ankam, und der glitzernde See vor ihnen lag, da kam eine solche Freude über das Stineli, daß es rings im Moos herumhüpfen und jauchzen mußte; und dann setzte es sich auf den äußersten Rand am Abhang, daß es alles sehen konnte, die sonnigen Höhen und den See und weit hinüber den blauen Himmel.

Nun rief es: »Komm, Rico, da wollen wir singen, lang, lang!«

Da setzte sich der Rico neben das Stineli hin und machte seine Geige zurecht, denn die war mitgekommen.

Nun fing er an und die Kinder sangen:

    »Ihr Schäflein hinunter
Von sonniger Höh'« –

alle Verse durch, aber Stineli hatte noch lange nicht genug.

»Wir wollen immer weiter singen«, sagte es und sang weiter:

    »Ihr Schäflein hinüber
Auf die lustige Höh',
Die Sonne steht drüber
Und der Wind geht am See.«

Und nun sang der Rico den Vers auch mit und freute sich und sagte:

»Sing noch weiter!«

Das Stineli war ganz begeistert vor Freude und schaute auf und ab und sang wieder:

    »Und die Schäflein, und die Schäflein,
Und der Himmel, so blau,
Und rot' und weiße Blumen
Auf der grasgrünen Au'.«

Und Rico geigte und sang mit und sagte:

»Sing noch weiter!«

Da schaute das Stineli den Rico lachend an und sang:

    »Und ein Bub' ist so traurig,
Und ein Mädle das lacht,
Und ein See ist wie der andre
Von Wasser gemacht.«

Und Rico lachte auch und sang und sagte:

»Sing noch weiter!«

Da fing das Stineli noch einmal an und sang hintereinander; und Rico geigte immerfort dazu, und es sang:

    »Und die Schäflein, und die Schäflein,
Die springen herum,
Und sind alleweil fröhlich,
Und wissen auch nicht warum.

    Und ein Bub' und ein Mädle,
Die sitzen am See,
Und tät er nichts denken,
So tät's ihm nicht weh.«

Und nun fingen sie wieder von vorne an und sangen ihr Lied hintereinander durch und hatten ein großes Wohlgefallen daran, und wenn sie es fertig gesungen hatten, so fingen sie noch einmal an und dann noch einmal und sangen das Lied wohl zehnmal durch, und je mehr sie es sangen, desto besser gefiel es ihnen.

Rico spielte dann noch einige Melodien, die er vom Vater her wußte, aber nach einer Weile kamen sie wieder auf ihr Lied zurück und fingen aufs neue zu singen an.

Aber mittendrin hörte Stineli auf und rief: »Jetzt kommt es mir in den Sinn, wie du an den See hinunter kannst und doch kein Geld brauchst.«

Rico hielt plötzlich inne und schaute erwartungsvoll auf das Stineli.

»Siehst du«, fuhr es eifrig fort, »jetzt hast du eine Geige und kannst ein Lied. Da mußt du bei jedem Wirtshaus unter die Stubentür gehen und das Lied singen und geigen: dann geben dir die Leute etwas zu essen und lassen dich schlafen da, denn sie sehen dann, daß du nicht ein Bettler bist. So kannst du gehen bis an den See, und im Heimweg kannst du es wieder so machen.«

Rico wurde ganz nachdenklich, aber Stineli ließ ihm keine Zeit zum Staunen, es wollte gleich noch einmal singen.

Vor lauter Gesang hörten sie auch gar nichts von der Betglocke, und erst als es zu dunkeln anfing, merkten sie, daß es Zeit war, heimzugehen, und schon von fern sahen sie die Großmutter, wie sie ängstlich umherschaute.

Aber diesmal war Stineli zu sehr im Feuer, um von einer Besorgnis gedämpft zu werden. Es rannte auf die Großmutter zu und rief: »Du kannst nicht glauben, Großmutter, wie gut der Rico geigen kann, und wir haben jetzt ein eigenes Lied, nur für uns. Wir wollen dir's gleich singen.«

Und eh' die Großmutter nur ein Wort sagen konnte, sangen sie schon mit heller Stimme zu der Geige ihr ganzes Lied durch, und die Großmutter hörte die frischen Stimmen gerne. Sie war auf das Holz niedergesessen, und wie die Kinder nun zu Ende waren, sagte sie: »Komm, Rico, jetzt mußt du mir auch noch ein Lied spielen und wir wollen es miteinander singen. Kannst du das Lied: ›Ich singe dir mit Herz und Mund‹?«

Rico hatte es vielleicht auch schon gehört, aber er wußte es nicht mehr recht und meinte, erst müsse es die Großmutter einmal singen; dann wolle er leise nachgeigen, nachher könne er's dann schon.

»Jetzt werd' ich noch Vorsinger mit meiner Zitterstimme«, sagte die Großmutter, aber sie sang ganz vergnügt einen Vers durch, und wenn die Stimme ein wenig zitterte, so war sie doch ganz richtig und Rico konnte ihr gut die Melodie abnehmen, er hatte sie auch vorher schon gehört.

Nun fingen sie an, und vor jedem Vers sagte die Großmutter den Kindern die Worte vor, und so sangen sie fröhlich alle miteinander:

    »Ich singe dir mit Herz und Mund,
Herr, meines Herzens Lust.
Ich sing' und mach' auf Erden kund,
Was mir von dir bewußt.

    Ich weiß, daß du der Brunn'n der Gnad'
Und ew'ge Quelle bist,
Daraus uns allen früh und spat
Viel Heil und Gutes fließt. –

    Was kränkst du dich in deinem Sinn?
Und grämst dich Tag und Nacht?
Nimm deine Sorg' und wirf sie hin
Auf den, der dich gemacht.

    Er hat noch niemals was versehn,
In seinem Regiment,
Nein, was er tut und läßt geschehn,
Das nimmt ein gutes End'.

    Ei nun, so laß ihn ferner tun
Und red' ihm nicht darein,
So wirst du hier im Frieden ruhn
Und ewig fröhlich sein.«

»So«, sagte die Großmutter zufrieden, »das war ein rechter Abendsegen, jetzt könnt ihr in Frieden zur Ruhe gehen, Kinder.«

 


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