Johanna Spyri
Heimatlos
Johanna Spyri

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Sechstes Kapitel.

Ricos Mutter.

Über den Weg von Sils her kam an einem Stab der Lehrer gegangen. Er hatte an dem Begräbnis teilgenommen. Er hustete und keuchte, und als er nun bei der Großmutter angekommen war und einen »Guten Abend« geboten hatte, setzte er hinzu: »Wenn es Euch recht ist, Nachbarin, so sitze ich einen Augenblick neben Euch, denn ich habe es stark in dem Hals und auf der Brust; aber was kann unsereins sagen mit bald siebzig Jahren, wenn man solche begräbt, wie den heute. Er war noch nicht fünfunddreißig und ein Mann wie ein Baum.«

Der Lehrer hatte sich neben die Großmutter niedergesetzt.

»Es gibt mir auch zu denken«, sagte diese, »daß ich, eine Alte, Fünfundsiebzigjährige, übrig bleibe und da und dort ein Junges fort muß, von dem man denkt, es wäre noch nötig gewesen.«

»Die Alten werden auch noch zu etwas gut sein. Wo wäre sonst ein Beispiel für die Jungen?« bemerkte der Lehrer. »Aber was meint Ihr, Nachbarin, was soll nun aus dem Büblein werden da drüben?«

»Ja, was soll aus dem Büblein werden?« wiederholte die Großmutter; »ich frage auch so, und wenn ich nur auf die Menschen sehen wollte, so wüßte ich keine Antwort. Aber es ist noch ein Vater im Himmel, der die verlassenen Kinder sieht. Er wird auch einen Weg für das Büblein finden.«

»Sagt mir einmal, Nachbarin: wie ging es zu, daß der Italiener die Tochter von Eurer Nachbarin da drüben zur Frau bekam? Man weiß doch nie, woher solche fremde Menschen kommen und was mit ihnen ist.«

»Es ging eben, wie es geht, Nachbar. Ihr wißt ja, meine alte Bekannte, die Frau Anne-Dete, hatte alle ihre Kinder verloren und auch den Mann, und lebte allein drüben im Häuschen mit dem Marie-Seppli, das ein lustiges Töchterlein war. Es mögen jetzt elf oder zwölf Jahre sein, da kam der Trevillo zuerst hierher. Er hatte Arbeit oben am Maloja und kam etwa hier herunter mit den Burschen, und kaum hatten das Marie-Seppli und er einander gesehen, so wurden sie einig, sie wollten einander haben. Und das muß man dem Trevillo nachsagen, er war nicht nur ein schöner Bursche, der jedem gefallen konnte, sondern auch ein anständiger und rechtschaffener Mensch, die Anne-Dete hatte selber ihre Freude an ihm. Sie hätte nun freilich gern gewollt, die beiden blieben bei ihr im Häuschen, und der Trevillo hätte es gern getan, er konnte es gut mit der Mutter, und dem Marie-Seppli tat er, was es nur wollte. Er war aber manchmal mit ihm nach dem Maloja hinaufspaziert und hatte die Straße hinuntergeschaut, die man so sieht, wie sie weit ins Tal hinabgeht, und er hatte ihr erzählt, wie es unten sei, wo er daheim war. Da hatte sich das Marie-Seppli in den Kopf gesetzt, es wolle dort hinunter, und es half alles nichts, wie auch die Mutter anhielt und jammerte, sie könnten nicht leben da unten. Da sagte aber der Trevillo, deswegen müsse sie nicht Angst haben, er habe ein Gütlein und ein Häuschen unten; er sei nur lieber ein wenig in die Welt hinausgezogen. – Jetzt hatte er das Marie-Seppli gewonnen, und nach der Hochzeit wollte es auf der Stelle den Berg hinunter. Es schrieb dann etwa der Mutter, daß es ihm gut gehe und der Trevillo der beste Mann sei.

»Aber nach etwa fünf oder sechs Jahren trat eines Tages der Trevillo drüben in der Stube ein bei der Anne-Dete und hatte ein Büblein an der Hand und sagte: ›Da, Mutter, das ist noch das einzige, was ich vom Marie-Seppli habe; es liegt begraben dort unten mit seinen anderen kleinen Kindern. Der war sein erstes und sein liebstes.‹

»So hat sie's mir erzählt. Dann sei er auf die Bank niedergesessen, wo er zuerst das Marie-Seppli gesehen hatte, und habe gesagt: da wolle er bleiben mit seinem Büblein, wenn's der Mutter recht sei; denn dort unten habe er's nicht mehr ausgehalten.

»Das war Freud' und Leid miteinander für die Anne-Dete. Der kleine Rico war etwas zu vier Jahren und war ein zahmes, nachdenkliches Büblein, ohne Lärm und Unart, es war ihre letzte Freude, ein Jahr nachher starb sie schon, und man riet dem Trevillo, die Base der Anne-Dete zu sich zu nehmen für den Haushalt und das Kind.«

»So, so«, machte der Lehrer, als die Großmutter schwieg; »das habe ich alles nicht so gewußt. Es kann nun sein, daß sich etwa Verwandte von dem Trevillo zeigen mit der Zeit, und man kann sie anhalten, etwas für den Knaben zu tun.«

»Verwandte«, seufzte die Großmutter, »die Base ist auch eine Verwandte, von ihr bekommt er wenig gute Worte im Jahr.«

Der Lehrer stand mühsam auf von seinem Sitz. »Mit mir geht's bergab, Nachbarin«, sagte er kopfschüttelnd; »ich weiß nicht, wo meine Kräfte hingekommen sind.«

Die Großmutter ermunterte ihn und sagte: er sei ja noch ein junger Mann im Vergleich zu ihr. Sie mußte sich aber doch verwundern, wie langsam er davonging.

 


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