Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vom ‹Volk›

 

I

Wenn wir von der alten Kollektivbedeutung absehen, welche dem Begriff Volk von jeher eigen war, und welche wesentlich nichts anderes sagt, als was wir jetzt mit einem Fremdwort Nation nennen, so hat das Wort Volk eine eminent politische Tragweite, ja, seit der französischen Revolution ist dasselbe eines der allerwichtigsten Substantive des politischen Diktionärs.

Greifen wir zu den französischen Staatsdoktrinen des vorigen Jahrhunderts zurück, zu den sogenannten Philosophen, so finden wir den allmählichen Sieg folgender Ansichten, die noch jetzt die Grundlage der populären Theorie des Volkes bilden: Die menschliche Natur ist eine absolut gute, wie jede Natur. Um sie ins Böse umzukehren, bedarf es der Korruption; die Korruption aber geht von einzelnen Klassen aus, welche ein egoistisches Interesse daran haben, die Masse moralisch, geistig und politisch darniederzuhalten. Jene Klassen sind wie eine Eiterbeule im Staatsleben, dessen giftigsten Punkt der Monarch, der ‹Tyrann›. vorstellt. Unten, wo die ‹Natur› waltet, also zum Beispiel bei den Bauern, ist die Wohnstätte von Tugend und Sitte, oben von Laster und Bosheit. Der Name ‹Volk› aber bezeichnet die Summe derjenigen Klassen, welche nicht in die letztere Kategorie, das heißt nicht mittelbar oder unmittelbar zur Regierung gehören.

Bedarf es wohl eines Wortes, um die Ungeheuerlichkeit dieser utopischen Lehren zu kennzeichnen? Die Revolution hat sie ad absurdum demonstriert. Dennoch dürfen wir leider nicht sagen, daß diese Lehren darum gänzlich überwunden wären; im Gegenteil, sie verwirren noch heute allerlei Köpfe. Betrachten wir nicht die Monarchen als Tyrannen, welche, wenn sie nicht in Konstitutionen eingesperrt wären, wie wilde Tiere in einem Käfig, Anschläge gegen das Wohl des ‹Volkes› machen würden? Und begegnen wir nicht selbst in unsern Republiken der Neigung, die jeweilen Regierenden, also die Beamten, als natürliche Feinde des ‹Volkes› anzuschauen? Beweist nicht schon der Gebrauch, Regierende und ‹Volk› voneinander zu scheiden, daß wir noch in jenen Philosophemen befangen weilen?

Hier könnte jeder einzelne Gebildete des Guten viel stiften und des Bösen viel verwehren, indem er seine Rede und Schrift etwas vorsichtiger handhabte und sich davor bewahrte, der folgenschweren Begriffsverwirrung Vorschub zu leisten.

Was ist in jener alten, doktrinär-demagogischen Anschauung fehlerhaft? Nicht weniger als alles. Erstens ist es nicht wahr, daß die menschliche Natur ursprünglich gut wäre und erst durch Korruption verdorben würde, sondern im Gegenteil, sie ist ursprünglich bestial, aber verbesserungs- und veredlungsfähig. Zweitens gibt es keine Klassen, welche systematisch oder absichtlich darauf ausgingen, das ‹Volk›. das heißt die weniger von der Natur begünstigten Schichten, zu bedrücken. Drittens sind die Monarchen der modernen Staaten keine Tyrannen, sondern Männer, die sich vom Schicksal auf einen hohen, aber schwierigen Posten gestellt fühlen, auf dem sie wie jeder andere Mensch bedacht sind, ihre Pflicht zu erfüllen, so gut wie es ihnen ihr Charakter und ihre Einsicht erlaubt. Das ‹Volk› im engern Sinn, das ‹niedere Volk›. hat stets eine ganz besondere Vorliebe für seinen ‹Tyrannen› bewiesen, während freilich privilegierte Stände, bei welchen sich Kastenhochmut und ostensive Beleidigungen Niedriggestellter geltend machen, nie in Gunst standen. Allein steht es denn damit unter dem ‹niedern Volk› besser? Man sehe doch unter den Dörfern nach, ob da die Rang-, Reichtums- und Ehrenauszeichnungen humaner, das heißt weniger grausam geübt werden. Hochmut, diese abscheulichste Ausdrucksform der menschlichen Eitelkeit, zeigt sich unter allen Ständen und unter allen Schichten, weil es überall und ewig rohe Seelen gibt. Das hat jedoch mit der Politik, mit Freiheit oder Tyrannei nichts zu schaffen, und kein politisches System, keines, selbst Nihilismus oder Anarchismus, wird daran etwas Wesentliches ändern.

Bleiben wir bei unserer republikanischen Demokratie, also bei der Volksherrschaft. Das Volk (die ganze Nation) beauftragt eine gewisse Zahl seiner Mitglieder, die Staatsgeschäfte zu besorgen; es steht ihm frei, diejenigen zu wählen, denen es Zutrauen schenkt. Die betreffenden Mandatare bilden also die Elite des Volkes. Dieser Tatsache zum Trotz sondert man dieselben alsobald im Sprachgebrauch vom ‹Volke›, wenn man sie nicht gar als Kandidaten der Bedrückung hinstellt. Welche sonderbare mysteriöse Anschauung hegen doch viele von den ‹grünen Sesseln›! Werden etwa die besten mit dem Augenblicke, da sie ihr Mandat ausführen, durch die Regierungsgeschäfte korrumpiert? Und wenn nicht, wie will man das Mißtrauen entschuldigen, welches man denjenigen entgegenbringt, die von der Majorität des Volkes als die Würdigsten proklamiert sind? Fühlt der Scheltende nicht, daß jede Charakterverdächtigung eines Volkserwählten die ganze Nation schimpft, als könnte die Wählerschaft keinen zweifellos anständigen Mann im Lande ausfindig machen? Diese traditionelle Beamtenhetze beruht, wie gesagt, auf einem doktrinärrevolutionären Grundirrtum; daneben auf Neid. Man mißgönnt den Herren ihren Rang, ihre Notorietät, ihre Ehre, ihre Macht und ihre fixe Besoldung. Um sie dafür zu büßen, macht man ihnen nach Kräften das Leben sauer. Meinetwegen, aber das Mitanrecht an den Namen Volk soll man ihnen nicht abstreiten.

 

Auf politischem Sprachgebiet muß jede Anwendung des Namens Volk, welche einen Stand, wie zum Beispiel den regierenden Beamtenstand oder die Armee, die Polizei, oder eine Klasse, wie zum Beispiel die Kapitalisten oder den Adel, ausschließt, ein Mißbrauch heißen. Und der Mißbrauch wird um so ungerechter sein, je mehr Tugenden und Ehren dem ‹Volk› im allgemeinen zudekretiert werden. Was nun diese Tugenden des Volkes betrifft, so sind wir glücklicherweise davon abgekommen, eine Spezies von Menschheit, und wäre es selbst die Summe aller Staatsmitglieder, als ein reines, unbeflecktes Tugendlamm darzustellen, wie die Professoren der Revolution pflegten. Immerhin treffen wir noch manche Übertreibungen, ja in oratorischen Leistungen mitunter noch Huldigungen, welche bedenklich höfisch-demagogisch klingen. Überhaupt ließe sich fragen, ob es durchaus nötig sei, daß in einer Republik das Volk, das heißt jedermann, als Zugabe zur Freiheit und Herrschaft alljährlich eine gewisse nicht homöopathische Dosis von Schmeicheleien zu hören bekomme. Eigenlob in der ersten Person Pluralis halten freilich viele für anständig. Was sage ich anständig? Für einen Beweis des Patriotismus!

Wenn wir es einen Mißbrauch nannten, die regierenden oder begüterten Klassen von dem Anrecht auf den Namen Volk auszuschließen, so können wir es ebenso wenig billigen, daß sich einzelne Stände oder Schichten einer Nation ein Monopol auf den betreffenden Titel anmaßen.

 

II

Bei der beispiellosen Wichtigkeit, welche dem politischen Volksbegriff in der Schätzung des modernen Europas zukommt, bedeutet eine Usurpation des betreffenden Ehren- und Rechtstitels durch einzelne Stände eine Beeinträchtigung der übrigen Klassen. Zunächst freilich nur eine theoretische, allein in dem Zeitalter der öffentlichen Meinung stellt eine populäre Theorie eine gewaltige Macht vor, welche unter günstigen Umständen die widerstehendsten Verhältnisse umgestaltet.

Nun wissen wir leider nur zu wohl, daß nichts gebräuchlicher ist als eine solche Usurpation, und wir haben uns das durch Gewohnheit so sehr gefallen lassen, daß wir kaum mehr dagegen reagieren. In allen Staaten, zumal in Republiken, wo das Wort Volk seine höchste Kraft gewinnt, gibt es Stände, die sich gewissermaßen als das Herz der Nation glauben gebärden zu dürfen, und Fraktionen, die den Ehrennamen Volk meinen gepachtet zu haben. Ein Arbeiter von Belleville zum Beispiel hält sich für demokratisch wertvoller als einen Bauern der Normandie, und ein Deputierter von Kohlenbezirken für befugter, im Namen des Volkes zu sprechen, als ein Deputierter einer Seehandelsstadt.

Woher stammt diese Rechtsanmaßung?

Jedenfalls nicht aus dem Wesen der Republik. Wir haben in der Geschichte unserer Eidgenossenschaft ein treffliches, jedem gegenwärtiges Beispiel einer wahren, das heißt natürlichen Republik im Gegensatz zu der Republik staatsphilosophischer Doktoren. Wenn wir nun den Begriff des Schweizervolkes in seiner Entwicklung verfolgen, so begegnen wir vor der Invasion ausländischer künstlicher Theorien nirgends der Monopolisierung des politischen republikanischen Volksbegriffs zugunsten einzelner Klassen; wie denn überhaupt nicht Schlagwörter, sondern Rechte das Ziel des Schweizerbürgers und nicht ‹Freiheit›. sondern, wie Segesser geistreich bemerkt, Freiheiten den Gegenstand unserer nationalen Kämpfe bildeten. Mit dem natürlichen republikanischen Volksbegriff kommen überhaupt unsere modernen theoretischen Demokraten schlecht aus; zwar beugen sie sich prinzipiell vor dem ‹Volk›. worunter sie die Unbemittelten oder Ungebildeten verstehen; sobald aber so ein armes Volk sich gewissen Buchsystemen unzugänglich zeigt, siehe, da ist es mit aller Ehrfurcht plötzlich vorbei; das Volk ist nicht mehr Volk, und der nationalökonomische Revolutionsdoktor hat einzig das Wort. So habe ich, und nicht vor langem, irgendwo von sonst höchst intelligenter Seite den Ausspruch gelesen, es gebe in der Schweiz ‹absolutistische› Kantone. Ein hübscher Ausdruck für die schlichte Wahrheit, daß gewisse Kantone sich vollständig unempfindlich gegen zusammengelesene Staatskatechismen verhalten! Die Tatsache aber, daß gerade jene Kantone, welche uns allen die staatliche Unabhängigkeit und die republikanische Freiheit erstritten, ganz besonders den Zorn der modernen Demokraten auf sich laden, kann als Beweis für den durchgreifenden Unterschied dienen, der zwischen der wahren Volksherrschaft, das heißt der freien Selbstbestimmung, und zwischen der importierten revolutionären Demokratie, das heißt der Abstraktionstyrannei herrscht.

Nicht aus der echten, organisch erwachsenen Republik also, sondern aus der revolutionären Buch- und Tribünendogmatik stammt die Gewohnheit, einzelne Schichten der Gesellschaft als bevorzugte Inhaber des Volkstitels hinzustellen. Erkundigen wir uns jetzt, wie jene privilegierten Schichten heißen.

 

In erster Linie erscheinen natürlich die Herren Demosophen, Demologen und Demolalen, das heißt diejenigen, welche so oft als möglich den Namen Volk nebst andern wohlklingenden Substantiven im Munde führen. Ohne ein außerordentliches Mandat zu besitzen, sprechen sie doch immer als Sprechrohr der Volksstimme, und es stört sie auch nicht, wenn sie vom Volk desavouiert werden. Denn sie selber sind ja ein ideales, inkarniertes Solovolk, gegen welches im Konfliktfalle das andere Volk, nämlich die Nation, Unrecht behält.

So zum Beispiel die Nihilisten. Wenn man ihnen einwendet, daß das Volk, das sie befreien wollen, weder von Befreiung noch von Nihilisten etwas wissen will, so antworten sie: «Eben das, daß das Volk nicht einmal fühlt, daß es unglücklich ist, beweist, wie bodenlos unglücklich es ist, und wie sehr es äußerst not tut, daß wir ihm helfen». Auf diesem Wege kommt man dann dazu, daß man einem Volke ein Volksbeglückungssystem zwangsweise aufnötigt, mit andern Worten: der doktrinäre Volksredner, wenn er auf Widerstand stößt, wird Terrorist; er köpft das Volk im Namen des ‹Volkes›.

Das sind die Privilegierten, die Clemenceau, die Rochefort, die Basly und so weiter. Ein Thiers, der von dreiundzwanzig Departementen Frankreichs gewählt wurde, hatte kein Recht, im Namen des Volkes zu sprechen, aber ein Rochefort, der mit genauer Not eine Mehrheit erlangt, schimpft im Namen Frankreichs und eine Louise Michel im Namen Europas.

Nach diesen erlauchten Selbsterwählten des ‹Volkes› kommt, wie man zu sagen pflegt, lange niemand. Dann erst erscheinen die Gesamtklassen der Privilegierten zweiten Ranges, die dritten, vierten, fünften und sechsten Stände.

Zuerst trat, wie wir wissen, der famose dritte Stand als Alleininhaber des Volkstitels auf. Zugegeben, daß an jenem berühmten Zeitpunkte der dritte Stand erstens die Intelligenz und zweitens die große Mehrzahl der Nation repräsentierte, mithin eine relative Berechtigung zu der Usurpation des Volkstitels hatte – so bedeutete doch die theoretische Ausstoßung der höhern Stände aus dem Bereiche des Volkes einen verhängnisvollen, folgenschweren Irrtum. Wenn man das Volk zählt, dann repräsentiert natürlich die Mehrzahl die Gesamtheit, wo jedoch das Volk in Gruppen und Ständen eingeteilt wird, da kommt das numerische Verhältnis gar nicht in Betracht, und eine wahrhaftige Repräsentation der Gesamtheit wird mir durch Vereinigung sämtlicher Stände erzielt. Mit dem Augenblick, da der dritte Stand den Adel, den Klerus und das Königtum absorbierte und annullierte, um sich allein als Sprachführer zu gebärden, war das Volk, das wahre Volk, das heißt die Gesamtheit der Nation, falsch und lückenhaft vertreten; eine Einseitigkeit, der andere Länder durch die Institution eines obern Hauses entgangen sind.

Von einem dritten Stand ist indessen heute gar nicht mehr die Rede; derselbe ist von den modernen Jakobinern längst zu den Tyrannen und Bedrückern geschlagen worden. Desgleichen der vierte Stand, der Bauer. Allein der Bauer zeigt sich widerspenstig gegen Systeme, folglich wird ihm der Volksname einfach abdekretiert.

Gegenwärtig genießt der fünfte Stand, der Arbeiter, das Monopol, und zwar hauptsächlich deshalb, weil seine Leiden einerseits unsere besondere Teilnahme und anderseits die geheimen Hoffnungen der Blutprofessoren wachrufen. Selbstverständlich können wir uns in die Arbeiterfrage hier nicht einlassen; wir wünschen natürlich allen Bestrebungen, das Los Leidender zu verbessern, Glück, mögen dieselben nun von Privaten oder vom Staate ausgehen. Andere Fragen sind es, ob ‹Unglück› und ‹Volk› sich decken, ob das Elend besondere politische Befugnisse erteile, ob eine einzelne Klasse der vielen Unglücklichen, welche die Erde beherbergt, vor den andern ein Anrecht auf staatliche Hilfe habe, ob es überhaupt in der Macht des Staates liege, in der Weise Abhilfe zu schaffen, daß die Summe des Elends vermindert und nicht etwa bloß deplaciert werde, ob endlich der ideale Faktor der Kultur dem moralischen Faktor der Philanthropie rücksichtslos dürfe geopfert werden und so weiter. Darüber muß noch viel gedacht, gesprochen und gelernt werden. Das eben erschwert ja die politischen Aufgaben unseres Jahrhunderts, das wirft uns aus dem Fortschritt in Revolutionen und Reaktionen, daß sich allenthalben die Denkarbeit mit der dringenden Notwendigkeit nach rascher praktischer Hilfe verschwistert. Seit hundert Jahren vernehmen wir immer gleichzeitig die beiden Schreie: Freiheit und Brot. Ursprünglich hegten die Rufenden den naiven Glauben, daß die Freiheit das Brot von selbst im Gefolge haben werde; man überschätzte die Macht menschlicher Institutionen und unterschätzte die grausamen Naturbedingungen des irdischen Daseins. Jetzt haben wir eine lange revolutionäre Erfahrung und Enttäuschung hinter uns. Wir versprechen uns von keinerlei willkürlicher Verfassungsänderung mehr goldene Berge; wir wissen: wir mögen uns so oder anders betten, immer werden uns die Naturübel Schmerzen bereiten. Wer der Erfahrung und der modernen Erkenntnis zum Trotz einem leidenden Stande Revolutionen als Heilung seines Elendes preist, der ist nicht mehr entschuldigt, wie der Schwärmer vom Jahre 1789; wer vollends dem Leidenden die Sache so darstellt, als ob andere Stände aus Bosheit seine Leiden verursachten, der begeht eine unlautere Handlung.

Noch lastet auf uns die Not des fünften Standes, und schon erscheint ein sechster Stand am Horizont. Bei Gelegenheit der Londoner Straßentumulte wurde sein Dasein konstatiert. Bekanntlich zeichneten sich die englischen Arbeiter durch musterhafte Organisation und praktische Staatsklugheit aus, Eigenschaften, welche dieselben bisher vor tumultuarischem Vorgehen bewahrten; auch sind ja die jüngsten Ausschreitungen, welche alle Welt verblüfften, von den Arbeitern selbst seither kräftig desavouiert worden. Mit wem haben wir es hier zu tun? Da hat man die Beobachtung gemacht, daß unterhalb der regulären Arbeiter noch eine zahlreiche Klasse vegetiert, die überhaupt kaum jemals zur Arbeit gelangt, Arbeiter mit habitueller Arbeitslosigkeit, welche den genossenschaftlich enrollierten und streikenden Arbeiter zu den ‹Aristo› und Tyrannen rechnet. Bei diesem Anblick könnte einem beinahe Mut und Hoffnung sinken.

Wir haben zum Schlusse noch von dem ‹Volke› zu sprechen, das seinen Volkstitel auf geräuschvolle Manifestationen gründet.

 

III

Unter all den vielen Fraktionen, welche, obschon nur eine verschwindend kleine Minderheit einer Nation darstellend, sich den Namen ‹Volk› par excellence aneignen, ist keine bekannter, verwöhnter und gefürchteter, als das ‹Volk› der lärmenden Straßendemonstrationen. Genau gesprochen, dürften wir hier eigentlich nicht von einer Fraktion sprechen, wofern man wenigstens unter Fraktion eine Einheit versteht; es handelt sich vielmehr um eine Erscheinung der politischen Meteorologie, um ein plötzliches Konglomerat verschiedener Elemente, das im Augenblick nicht gesichtet werden kann, das sich aber der nachträglichen Forschung meistens als eine Zusammensetzung von ehrbaren Unglücklichen und von Intriganten erweist. Als Ausnahmen sind jene Demonstrationen zu betrachten, welche entweder, auf dem einen Extrem, von erwählten Abgeordneten einzelner Klassen und Stände ausgehen, oder, auf dem andern Extrem, von einer organisierten und mit vorausbestimmten Gewaltplänen instruierten Bande. Die Mischung ist die Regel.

Mögen nun auch in einer solchen Mischung die anständigen Elemente noch so sehr überwiegen, so bleibt doch ohne Ausnahme die lärmende Massendemonstration eine politische Waffe von bedenklichem Charakter. Durch den Umstand nämlich, daß es dem ersten besten erlaubt ist, sich unterwegs anzuschließen, wird bei einigermaßen längerer Dauer das Wesen der Demonstration gefälscht, indem unlautere Elemente, die in großen Städten stets vorrätig und stets bereit sind, sich als Schweif anhängen, den bessern Kern überfluten, überschreien und ihm die Direktion entwinden. Ferner erhitzt sich durch die Demonstration der einzelne Demonstrierende, so daß er sein ursprüngliches Ziel aus den Augen verliert und sich zu beliebigen Handlungen hinreißen läßt. Wie ein Cäsarendelirium, so gibt es eine Trunkenheit der Straßengewalt. Bekanntlich ist die Pariser Februarrevolution auf diesem Wege entstanden; es geschah eine Umwälzung, ohne daß jemand dieselbe wollte. Über alledem schwebt noch eine schlimmere Gefahr: es kann unglücklicherweise, vielleicht durch einen Zufall, Blut fließen, ein Anblick, welcher mitunter plötzlich die Bestie im Menschen weckt und die ursprünglich wohlbeseelte Schar in eine Horde verwandelt.

Was nun der großen Revolution, trotz der beispiellosen Gutartigkeit der betreffenden Generation, ihren scheußlichen, grausamen Charakter gegeben hat, das war eben der Grundirrtum, eine jede Zusammenrottung für Volk anzusehen und in jedem Gebrüll die Volksstimme zu hören. Die Geschichte hat seither Muße gehabt, jenes ‹Volk› zu zählen und sich die Gesichter näher anzusehen. Sie hat berechnet, daß das Revolutionsvolk kaum einen Zehntteil des wahren Volkes, das heißt der erwachsenen Männer ausmachte, daß speziell das Straßendemonstrationsvolk von Paris in einer kompakten, stets derselben Masse von dreißigtausend Krakeelern bestand. Und diese regierten Frankreich! Und das nannte man Volksherrschaft!

Mit dem ersten Augenblick, wo dem Demonstrationvolk irgendwelche Beeinflussung der Behörden gestattet wird, haben wir schon eine Übervorteilung des wahren Volkes durch eine privilegierte Minderheit, und, wenn Furcht den Einfluß perpetuiert, den Terrorismus.

Nun kommt freilich auch die Form der Demonstration in Betracht. Ein Meeting zum Beispiel ist im Grunde eine im Freien beratende Vereinigung, eine Versammlung, keine Ansammlung. Dasselbe gebärdet sich auch nicht als Volk, sondern als Fraktion, Gegenmeetinge prinzipiell anerkennend. Gleichwohl haftet selbst dem Meeting das Erbübel der Demonstrationen an, nämlich die Erlaubnis, daß jede beliebige Masse sich herandrängt. Das ist der Unterschied zwischen Meeting und ordentlichen Wähler- und Parteiversammlungen oder Landsgemeinden. Bis vor kurzem hatte man geglaubt, die Gefahren des Meeting wären illusorisch, das heißt praktisch nicht vorhanden; die jüngsten Ereignisse entdeckten jedoch die Realität der Gefahren. Es gibt ferner ebenfalls einen harmlosen Spektakel, Fahnenprozessionen, revolutionäre Kostümfeste und Stimmproben. Die Ernsthaftigkeit und Gefährlichkeit derartiger Manifestationen zu beurteilen, ist eine der schwierigsten Aufgaben, welche den Polizeibehörden zufällt; einige Vorsichtsmaßregeln werden übrigens stets geboten sein, und sollten sie sich hundertmal überflüssig erweisen. Ins Extrem verfällt hiebei die russische Tradition, welche jede Musikbande und jedes Trüppchen singender Betrunkener als einen ‹Bund› (Verschwörung) verpönt. Eine der gefährlichsten Erscheinungsformen der Demonstrationen gehört glücklicherweise der Vergangenheit an: die Invasion offizieller Versammlungen, zu welcher meistens Petitionen den Vorwand abgeben mußten. Die Manifestationen auf den Tribünen gehören ebenfalls hieher. Man hat begriffen, daß die Duldung solcher Demonstrationen binnen kurzem die Anarchie herbeiführt. Dagegen erblüht uns noch immer die schöne Hoffnung auf revolutionäre Lynchjustiz; die Vorgänge in Décazeville haben bewiesen, daß die Gefährlichkeit und Abscheulichkeit dieser Art von Demonstration noch nicht allseitig genügend gewürdigt wird. Die theoretische Absolution der revolutionären Lynchjustiz, das heißt der Ermordung einzelner durch eine Masse, lautet folgendermaßen: «Da dem Volke unzweifelhaft sämtliche politischen Rechte zustehen, mithin auch das Recht der peinlichen Justiz, so hat eine Ermordung durch das Volk nicht weniger Wert und Würde als die Bestrafung durch den Henker; im Gegenteil, die direkte Volksjustiz ist feierlicher und erbaulicher als die Justiz durch beauftragte, bezahlte Richter und Nachrichter». Diese Apologie ließe sich einigermaßen hören, wenn die Gratis-Mordenden wirklich das Volk wären. Allein das sind sie ja nicht, sie sind nur ein Minimalteilchen des Volkes, ohne Mandat, ohne Befugnis. Das wahre Volk, die Nation, verabscheut jedesmal ohne Ausnahme den Vorgang. Dazu gesellen sich noch andere Bedenken. Die Leidenschaft ist ein schlechter Richter, und man kann nicht in eigener Sache Richter sein. Im Grunde darf denn auch der revolutionäre Mord nicht Lynchjustiz heißen, denn die Lynchjustiz wird nicht von den Beleidigten, sondern von neutralen Personen ausgeübt; dieselbe hat ferner zur Voraussetzung unfertige gesellschaftliche Zustände, das heißt die Barbarei.

Stellen wir uns die schauderhafte Ermordung Watrins und die schwächliche Haltung der lokalen Behörden vor Augen, so erhalten wir ein Beispiel, wohin die Meinung, daß jede exasperierte Zusammenrottung das Volk repräsentiere, führt. Wer dort das Volk repräsentierte, das waren nicht die Mörder, sondern die Behörden, die vom Volk den Auftrag erhalten hatten, die Lokalpolitik und Lokalpolizei zu besorgen. Und diese harangieren, bitten, schmeicheln und sehen zu, mit einer dreifarbenen Schärpe dekoriert, wie ihr Schützling während eines langen Tages an ihrer Seite allmählich abgeschlachtet wird! Volk war ferner die den Behörden zu Gebote stehende Truppe, denn diejenigen Mitglieder des Gesamtvolkes, welche für das Vaterland ihr Leben opfern, haben doch wohl ebensoviel Berechtigung, Volk zu heißen als Bergwerkarbeiter. Volk bedeutete ferner der bedrohte Watrin, weil das Gesamtvolk jedes Attentat auf das Leben eines der Seinigen als eine Beleidigung aller empfindet und die Sache des Opfers als eigene Sache in die Hand nimmt, mit lauter Stimme Sühne begehrend. Wohl müssen wir auch hinwieder zugeben, daß die Aufgaben der Behörden in einem akuten Konflikt zwischen Volk und Pseudovolk äußerst schwierig sind; denn sie haben die doppelte Pflicht, einerseits der Verzweiflung und der Leidenschaft Rechnung zu tragen, also nicht voreilig gewaltsam einzuschreiten, anderseits den Bedrohten zu schützen. Daraus folgt jedoch nicht, daß sie sich der Aufgabe entziehen dürfen, und die französische Republik im besondern hat alle Ursache, darüber zu wachen, daß die Meinung, als ob die Republik das Leben des Bürgers der Gnade eines wütenden Straßengerichtshaufens anheimstelle, nicht um sich greife. Ein einziger ermordeter Watrin schadet der Republik mehr als ein ganzes Dutzend Prinzen Bonaparte und Orléans. Denn der Volkswille, mit einem Wort ausgedrückt, lautet überall und jederzeit: Sicherheit. So lange die revolutionäre Republik noch den Schein und Verdacht auf sich ruhen läßt, das Volk dem ‹Volk› preiszugeben, so lange kann ihr Kredit noch nicht als befestigt gelten.


 << zurück weiter >>