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Thomas am Sechseläuten

Als mir von derjenigen Zunft, welche großmütig die Wiederbelebung des städtefeindlichen Friedrich in persona übernommen, die Ehre und, wie ich später erfuhr, auch das Vergnügen einer Einladung zuteil wurde, glaubte ich sowohl über die Bedeutung wie über die Beziehung einer solchen zuvorkommenden Liebenswürdigkeit im klaren zu sein.

Erstens pflegen überhaupt kaiserliche Höfe gastfrei und ultramarine Zünfte splendid zu verfahren, so daß sie mit weitherzigen Einladungen im Stil des evangelischen Gleichnisses einem eigenen immanenten Bedürfnis genügen. Sodann sitzt in den Tiefen des Zentralkomitees ein Psycholog, der mit der Menschenkenntnis eine vielleicht durch das Polizeihandwerk geschärfte Personalkunde verknüpft und offenbar den Anlaß für geeignet erachtete, Thomas zum Glauben an die auferstandene Vorzeit zu bekehren. Ich sollte Gelegenheit erhalten, meine Fingernägel in die Wundmale zu legen. Die Absicht war löblich, die Gesinnung freundschaftlich und Katechisation nicht überflüssig. Denn wenn es nach einem französischen Sprichwort keinen schlimmeren Tauben gibt als jenen, der nicht hören will, so mußte ich mich zu den bösartigsten Blinden zählen, da ich bisher dem Sechseläuten durch allerlei Finkenstriche, sei es nach dem Ütliberg oder auch weiter, je nach Stimmung und Witterung aus dem Wege gegangen war. Um mich jedoch zu belehren, mußte man mich vor allem festsetzen; dazu aber erschien kein Rezept wirksamer, als mir in aller Höflichkeit ein rotes Fez auf das Haupt zu drücken. Das Mittel hat sich als probat erwiesen; denn statt mich in den ersten Stunden zu verziehen, wie ich mir heimtückisch vorgenommen und wozu mir eine nur allzu wirkliche Influenza das gute Recht verlieh, fand der Hahn Gelegenheit, dreimal zu krähen, als ich endlich aus dem Hause schlich. Dazu kam noch ein leichtes, logisches Rechenexempel. Wenn man einen Geiger zu Gast bittet, erwartet man, er werde seine Violine mitbringen; wenn man den Uristier beruft, glaubt man, er werde vor allem brüllen und nachher trinken; wenn man einen Journalisten einlädt, denkt man, er werde vor allem trinken und nachher schreiben.

Von solchen eigenen und fremden Gedanken geleitet, warf ich zum voraus meine Netze nach irgendeiner kurzweiligen Formel aus, welche das Sechseläuten womöglich in das Stilgebiet eines Feuilletons banne. Gott allein weiß, was für krause Einfälle mir dabei durch das Gehirn fuhren, denn einfach und natürlich zu schildern und zu erzählen – nicht wahr? –, das wäre zu vernünftig, als daß es einem Schriftsteller von Fach in den Sinn käme. Indem ich nun nachträglich all den mühsam ausspintisierten Fisimatenten den Abschied gebe, um ernst und einfach meine Eindrücke auszusprechen oder wenigstens anzudeuten, glaube ich schon hiedurch einen Beweis von der Achtung zu leisten, welche mir das Sechseläuten abgenötigt hat.

Ja, ich bin bekehrt, wenn auch nicht zu einer ganzen Wendung, doch wenigstens zu einer halben Wendung nach rechts. Während ich nämlich vorher das Zürcher Sechseläuten nur als eine lokale Spielart des allgemeinen europäischen Karnevalrummels betrachtet hatte, etwa als eine verspätete Fastnacht oder eine verfrühte Walpurgisnacht, nehme ich es jetzt ernst, seit ich erfahren habe, daß es von der Bevölkerung ernst genommen wird. Ich bemerkte mit Verwunderung und Staunen die würdige Ruhe der zahllosen herbeigeströmten Zuschauer, welche von dem Lärm so mancher unserer Volksfeste vorteilhaft abstach, und die bis zur Andacht gesteigerte Feierlichkeit der Teilnehmer. Ich freute mich mit ästhetischem Wohlgefallen über die Ordnung, über die Sachkenntnis, über den Fleiß und die Pünktlichkeit, mit welchen der Festzug vorbereitet und ausgeführt war, ein Festzug, wie er wenige seinesgleichen in der Geschichte der Städte zählt. Ich spürte den Hauch einer hohen patriotischen Symbolik aus den bewußten Beziehungen zu der allgemein schweizerischen Bundesfeier dieses Jahres, so daß das diesmalige Sechseläuten geradezu als eine großartige Ouvertüre zu dem nationalen Gesamtfest aufgefaßt werden muß. Ich wurde endlich durch das glänzende Beispiel an die schöpferische Initiativkraft erinnert, welche das Schweizer Volk seit Jahrhunderten in seinen Festen, Prozessionen und Aufzügen bewährt und welche einen unverwüstlichen Fruchtboden für theatralische Spiele nationalen Stils bilden, – Pantomimen, beiläufig gesagt, denn von da bis zum Literaturdrama ist noch ein weiter Weg, vorausgesetzt, daß überhaupt von unserer patriotischen Festsymbolik ein Weg dorthin führe, wofür einstweilen noch keine Anzeichen vorhanden sind. Am Abend lernte ich vor allem eine Eigenschaft bewundern und lieben, welche dem Einheimischen schwerlich zum Bewußtsein kommt, da er sie als Erbteil erhalten hat: ich meine die unglaubliche, ja beispiellose Friedfertigkeit. Der Tausend! ein Tag und eine Nacht, da eine ganze Stadt außer Rand und Band ist, da die Gesetze schlafen und die Behörden trinken, keine Rauferei, kein Zank, kein Schimpfen, kein Brüllen – das will etwas heißen! Ich hatte mir in meiner kindlichen, frommen Unschuld vorgestellt, wenn zwei Zünfte sich ums Morgenrot begegneten, so traktierten sie sich gegenseitig mit den Stöcken – im besten Fall.

Ich muß um Geduld bitten, ich bin mit meiner Bekehrung noch nicht zu Ende. Man hatte mir nämlich gesagt, am Sechseläuten fände Diogenes in ganz Zürich keinen einzigen nüchternen Mann, und ich hatte vorzügliche Gründe, das zu glauben, teils weil hüben und drüben der Limmat ein erstaunlicher Segen an Wirtshäusern herrscht, in welche viele Spuren hinein, aber wenige hinausführen, teils weil an andern Orten, wenn dergleichen Ereignisse prophezeit werden, sie pünktlicher einzutreffen pflegen als die Erdbeben des Herrn Dr. Falb. Nun, entweder war ich selbst betrunken, oder es war niemand betrunken; denn meiner flehentlichen Bitte, mir ein solches Phänomen zu zeigen, vermochte die größte Bereitwilligkeit nicht zu willfahren; es sei denn, daß man den Blick des einen oder des anderen für verdächtig erklärte. Es scheint also, man muß Optiker sein, um die angestochenen Sechseleute zu erkennen. Das kann man sich gefallen lassen. Freilich saß ich auch in vorzüglich prophylaktischer Gesellschaft. Ich weiß nicht, ob dem Kamel sämtliche Tugenden, die ihm vergangenen Montag zugesprochen wurden, wirklich anhaften – ein begeisterter Redner verstieg sich zum Beispiel zu der Behauptung: «Das Kamel ist ein intelligentes Tier» –, ein nüchternes Tier ist es jedenfalls.

Die Ausnahme bestätigt die Regel. Dieser Satz ist zwar eine der kapitalsten Dummheiten, die jemals auf Erden gesagt worden sind, aber das ist kein Grund, ihn nicht zu wiederholen. Kurz, abends um acht Uhr, als ganz Fez und Marokko in der freundlichen Oase am See versammelt war, hörte man von der Treppe ‹toc toc› wie im Finale des «Don Juan», und herein trat mit Helmbusch und Beinschienen ein steinerner Gast, es fehlte nichts als das Mehl auf der Nase. Mit unheimlichen Schritten stellte er sich in der Mitte des Saales auf, eine Hand von dämonischer Größe über den Magen geschlagen und mit der andern geheimnisvolle Zeichen winkend; schauerlich wankte er von einem Bein auf das andere, während der Helmbusch über dem Kopfe wackelte wie der Schweif eines Eichhörnchens. Jeder prüfte sein Gewissen, ob er nicht etwa eine vergessene Elvira darin liegen habe. Die Hoffnung, ihn singen zu hören: «Du hast mich eingeladen, ich bin gekommen», verwirklichte sich leider nicht. Entweder hatte er in Ermangelung eines Souffleurs den Text vergessen, oder er war gekommen und war nicht eingeladen. Einige flinke Leporello, als die gefürchtete Stimme immer und immer nicht zum Vorschein kam, faßten Mut, krochen hinter den Tischen hervor, Don Juan ließ einen seiner Schweizer gegen das Gespenst los, einen bärenmützigen Grenadier mit roten Hosen, der den stummen Komtur schneidig mit ‹rechtsum› und ‹linksum› in die Unterwelt zurückspedierte. Ich begriff, das sollte eine Scharade sein: «Der Sieg der Feuerwaffen über den Panzer» oder «Die Macht des modernen Exerzierregimentes über undisziplinierte Geister.» Erst später erfuhr ich den wirklichen Sinn des Rebus: Der Zunftvorstand, nach dem Muster der Spartaner, gebraucht die List, vor Beginn der Hauptfröhlichkeit einen Schiefgeladenen als abschreckendes Beispiel vorzuführen.

Noch etwas anderes hatte man behauptet: es werde bei den Begrüßungsreden viel Blech verzapft. Auch das habe ich geglaubt und ich glaube es jetzt noch. Das konnte mir also nicht imponieren, vielmehr daß daneben noch mehr Gescheites und namentlich Gefühltes und Begeistertes geredet wurde. Folgende vier Motive kehrten dabei beständig wieder. Ein Kanon im Adagio dolce lusingando: Zunft X dankt Zunft Y und Z für ihre opferfreudige Mitwirkung. Zunft Y dankt vielmehr Zunft X und Z für ihre Mitwirkung. Zunft Z dankt im Gegenteil Zunft Y und X für ihre Mitwirkung. Und so weiter ad infinitum. Zweites Motiv, ein fugiertes Trio in Cis-Dur: der Mutz, die Muse und das Museum. Drittes Thema, ein Tutti im Rubato: Großzürich und die Zünfte. Endlich viertens: Die Bedeutung des Sechseläutens und des Zunftwesens für die bürgerliche Gesundheit. Die ernste Rede herrschte im ganzen vor, und sie erzielte auch den durchschlagendsten Erfolg. Von mehreren Seiten wurde beständig gut, von einigen meisterhaft geredet. Der Held des Abends aber war sowohl durch das, was er gab, als durch das, was er empfing, derjenige, dessen Name in diesen Tagen jedem auf der Zunge schwebte. Ob das mir wohl tat! ob ich mich in sein Herz hinein freute! Ich habe ihn als einen treuen Freund und als eine goldene Seele ohne Makel in schweren Zeiten kennengelernt. Damals war er nichts, letzten Montag war er alles. Ein ganzer Wille, selbstlos auf ein bestimmtes, wenn auch noch so bescheidenes Ziel geworfen, so wird man Jemand, und wenn einer weiß, wofür er lebt, so wird er einst auch wissen, warum er gelebt hat.

Summa, es war ein schönes, reines und vornehmes Fest, das mitgenossen zu haben mir eine nachhaltige wertvolle Erinnerung bleiben wird.

Damit hat indessen meine Bekehrung ein Ende, und wenn man mich noch weiter drehen will, werde ich störrisch wie ein Rekrutengaul. Ich kann nämlich nicht zugeben, daß das Sechseläuten mehr sei als ein Fest, ein edles Fest, immerhin ein Fest. Wenn man, was eine Leistung bleibt, eine Tat nennen möchte, wenn man mir zumutet, den theatralischen Schein der Wahrheit gleich zu schätzen, wenn man das Symbol des Patriotismus mit dem Patriotismus selbst verwechselt, dann werde ich plötzlich durch den Gegensatz eine ganz andere, stillere, aber ungleich größere und ernstere Welt gewahr, die Welt der Wirklichkeit, vor welcher die kostümierte verpufft wie der Bögg auf der Stange.

Ich will mich hier nicht zu Betrachtungen über den Unterschied von Vaterland und Vaterlandsfest, über die Unzuverlässigkeit der Begeisterung für die Zeiten der Not, über den unvergleichlichen und unersetzlichen Wert geräuschloser, einsamer Pflichterfüllung, über die Bedeutung des individuellen Mutes und der vereinzelten Charaktere in den Tagen der Verzweiflung hinreißen lassen; das sind Gedanken, welche nicht nur so beiläufig gesagt werden dürfen und welche vor allem nicht in ein Feuilleton gehören. Aber zwei Sechseläutenvisionen, die selber über das Sechseläuten hoch hinausweisen, möchte ich mir erlauben vor Augen zu stellen, um durch das Bild wenigstens die Art meiner diesbezüglichen Gefühle und Ideen anzudeuten.

Es war gegen Ende des Nachtfestes, da tauchte plötzlich unter den schimmernden Sarazenen und funkelnden Rittern ein wahrhafter Offizier in moderner staatlicher Uniform auf. Die Erscheinung wirkte nicht etwa ernüchternd, sondern unsäglich wohltuend, gleich einem ernsten Gedanken gegenüber glänzenden Phrasen, und ich sah im Geiste unsere Soldaten auf die Allmend marschieren, nicht in glitzernden Harnischen, sondern im dunklen Rock, nicht im Zürcher Festwetter, sondern in Schmutz und Regen und Kälte, nicht mit dem pompösen Tannhäusermarsch, sondern mit elenden Kapellmeisterstückchen und herzlich falsch blasend, nicht aus historischen Bechern pokulierend, sondern froh, wenn sie Wasser aus der flachen Hand schöpfen dürfen. Und während ich das sah, sagte ich mir: dort liegt das Pathos des Vaterlandes, nicht hier. Ich weiß wohl, daß das eine das andere nicht ausschließt, und ich vergesse keineswegs, daß unsere Panzerritter auf der Allmend so gut ihren Mann stellen als die übrigen, allein mir wird unbehaglich, wenn auf beide so ungleichen Werte der nämliche patriotische Akzent geworfen wird. Das eine ist Cantus firmus, das andere eine bloße Verzierung. Eine gute Musik aber legt nicht den Hauptton auf die Verzierung.

Das ist die eine Vision. Die andere bezieht sich auf eine Szene zurück, die ich bereits angedeutet habe. Gewiß nicht einzig und allein, aber doch hauptsächlich verdanken wir, so wurde wiederholt geurteilt, die Hebung des Sechseläutens der zähen Energie eines einzelnen Gefeierten. Diese Energie aber wurde in Stille und Einsamkeit gezeugt und gezeitigt, ich sehe in der Erinnerung, wann, wie und wo. Es ist nun Sache des individuellen Naturells, daß in diesem Falle die Energie sich auf Kostüme, Prozession und Theater bezog und beschränkte. Sache anderer Naturelle ist es, andere Ziele ins Auge zu fassen; in jedem Falle sehe ich die Keime nachhaltigen öffentlichen Wirkens in den stillen Gründen des Charakters entstehen. Damit man einen dereinst könne hochleben lassen, muß man ihn zuerst tief leben lassen. Ich möchte daher ergänzungsweise eine wichtige, vergessene Provinz des Vaterlandes für die beginnende, geräuschvolle Festzeit der Erinnerung empfehlen, die unsichtbare Gemeinde der stillen Gerolde. Es schadet ihnen freilich wenig, wenn wir sie vergessen, sie tun auch so, was sie tun sollen. Aber möglicherweise schadet es uns, wenn wir uns auf die Dauer angewöhnen, die Fähigkeit zu schäumen als eine obligatorische Eigenschaft jeder patriotischen Essenz zu betrachten.

So muß ich mich denn einstweilen damit begnügen, im Zürcher Sechseläuten eine achtunggebietende Festlichkeit von ästhetischem und archäologischem Charakter zu erblicken, während ich mich zu Grütligefühlen mit dem besten Willen nicht aufschwingen kann. Ich vermag nun einmal die rhetorische Erinnerung an Taten und die pantomimische Darstellung von Personen nicht unter dieselbe Empfindungsrubrik unterzubringen wie den Eindruck wirklicher Taten und Personen. Ein solcher Mangel an Illusionskraft oder IIlusionswillen mag vielleicht bei einem ‹Dichter› befremden. Wie aber, wenn es gerade zu den Geschäften eines ‹Dichters› gehörte, sich keinen Illusionen hinzugeben?

Immerhin, wenn ich meine jetzige Stellung gegenüber dem Sechseläuten mit derjenigen von vorhin vergleiche, wo sie bedenklich einem Pferde glich, das die Ohren zurücklegt, um durchzubrennen, so kann ich eine erkleckliche Besserung notieren, und falls die Notabeln der Sahara nicht mehr bereuen, mich mit einer roten Mütze garniert zu haben, als ich es bereue, so sehe ich mich im Geiste schon mit dem grünen Turban des Propheten geschmückt.


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