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Uto

Obschon ein eifriger Besucher des Uetli, habe ich doch seit zwei Jahren wie ein zweiter Moses das Herz dagegen verstockt, meine Stimme zum Preise desselben zu erheben. Warum? Einfach, weil ich trotz meiner Journalistenqualität noch immer eine gewisse unerklärliche Scheu davor habe, über Dinge öffentlich zu reden, von welchen ich befürchten muß, daß viele meiner Leser sie gründlicher kennen. Nun, ich hoffe, das wird sich mit der Zeit korrigieren. Einstweilen, wie gesagt, ging mir der Gedanke, als Eingewanderter in einer Zürcher Zeitung vom Uetliberg zu singen, gänzlich wider den Strich, nicht anders, als ob man mir zumutete, den Bernern einen Bären aufzubinden. Und da aus keinem Busch des Uetliberg ein heiliges Feuer mich mahnte, bliebs dabei.

Indessen, ehe man sichs versieht, ist man, sachte von Monat zu Monat schleichend, fröhlich von Freunden zu Freunden fortschreitend und munter von Bierhalle zu Bierhalle hüpfend, nachgerade selber ein Dreiviertelszürcher geworden, und da ich außerdem nie bemerkt habe, daß man hiezustadt Unfehlbarkeit beanspruche oder zumute, so sehe ich nicht ein, weshalb Moses nicht stottern dürfte, wenns ihm damit Ernst ist, das Volk von den Fleischtöpfen der Limmat weg auf den Berg zu führen.

Vorab ein Bekenntnis. Ich bin nicht bloß kein Naturschwärmer, sondern sogar ein abgesagter Feind aller Naturschwärmerei. Mit dem Herzen in neblichten Gefühlssphären herumzugabeln, vor Entzücken über einen Anblick sich einer blindbegeisterten ästhetischen Besessenheit hinzugeben – dagegen hege ich eine wahre Idiosynkrasie. Man nenne mich nüchtern, meinetwegen, aber ich kann nun einmal nicht umhin, selbst die Naturgenüsse mit dem Gedanken zu kontrollieren, zu bemessen und zu charakterisieren, die Vorzüge jeder Landschaft gegen ihre Mängel abzuwägen. So habe ich mich auch nicht gegen die Wahrnehmung verschließen können, daß der Uetliberg dieses und jenes zu wünschen übrig läßt. Er hat zum Beispiel einen zwar häufigen, aber dürftigen, kümmerlichen Waldwuchs, einen zwar reich gegliederten, doch nicht eben sonderlich abwechslungsreichen Bau, viel Wind und viel Sonnenblendung auf dem Gipfel, zu Füßen aber ein allzu unendliches ebenes Festungsglacis – aber nicht von Eis! –, das schon manchem zu einer Seufzerstätte geworden ist.

Dem gegenüber indessen, was für köstliche Vorzüge, um welche uns andere Städte beneiden dürfen und auch in Wirklichkeit sehnsüchtig genug beneiden! Ich bemerke hauptsächlich deren drei: erstens die bedeutende absolute Höhe, mithin die Gebirgsluft; zweitens den Anschluß an den Albiskamm, also die Möglichkeit eines kräftigen, ausgedehnten Marsches auf der Höhe selbst; endlich die Uetlibergbahn und die Verschönerungsgesellschaft, mit andern Worten die Zugänglichkeit für jedermann, die Bequemlichkeit, die Ausschaltung der nutzlosen, erschöpfenden Ermüdung aus der Kräftigung.

Ich maße mir beileibe kein Urteil in klimatischen oder medizinischen Dingen an; aber jeder hat doch seine Augen, seine Nase, seine Lungen und seine Nerven, und was man wiederholt deutlich an sich selbst erfahren hat, darf man melden. Nun, wer an einem heißen, drückenden Tag, an welchem er sich kaum entschließt, die Augustinergasse, geschweige denn das Polytechnikum zu erklimmen, auf Station Uetli oder auch nur in Waldegg aussteigt, verspürt sofort die größte Unternehmungslust, und er kraxelt munter bergauf. Ferner: ob man auch unmittelbar nach dem Mittagessen auf den Uetli fahre, sofort wird sich bei den meisten (gesunden) Erwachsenen und bei allen Kindern ohne Ausnahme, selbst bei denen, die man sonst zum Essen zwingen muß, ein ganz energischer Appetit ankündigen. Ferner: bei geistiger Überanstrengung findet man dort in einer Stunde mehr Erholung als unten in dreien. Für diese Erscheinungen, die ich oft genug mit allem geziemenden Mißtrauen konstatiert habe, gibt es nur die eine Erklärung, welche übrigens nahe genug liegt, nämlich: Bergklima. Bergklima aber bedeutet einen Gesundbrunnen, Wiedergeburt, Frohsinn. Und das alles in einer halben Stunde zu erreichen! Zwischen dem Nachmittagskaffee und dem Abendbrot! Wahrlich, wir sind hier in Zürich zu beneiden, und es ist nur verwunderlich, daß das unschätzbare Naturgeschenk nicht mehr benützt wird.

Selbstverständlich lohnen einige Monate mehr, andere weniger den Besuch des Uetli; der Winter, das Frühjahr und der Hochsommer nach meinem Urteil am wenigsten. Das Frühjahr hat nassen Boden, zeigt noch traurige Öde, wenn schon die Gärten der Stadt im prächtigsten Flor stehen; im Hochsommer ruft die sengende Hitze die Sehnsucht nach größerer absoluter Höhe schmerzlich wach. Dagegen im Herbst, wenn der Wald alle Farbenfackeln angezündet hat, wenn die Nebel als Duft oder als Meer in den Tälern lagern oder vorüberschweben, wenn die Alpen silberklar sich abheben, dann kann man dort oben bis spät in den November Naturgenüsse einheimsen, oft bis nach den ersten Schneefällen, so lange das Laub auf den Bäumen hält. Freilich, der bunte Wald ist mausetot; anderseits gibt es um jene Jahreszeit atmosphärische Farbenkunststücke: märchenhafte Violettfarben des Abends, die rotglühende Kugel der untergehenden Sonne und die geheimnisvolle, gespenstische Nacht bei der Talfahrt. Die schönsten Wochen für den Uetli sind indessen unstreitig der Frühsommer, Mai, wenn er schön und früh ist, und Juni, wenn er einem nicht verregnet wird. Hier summieren sich die klimatischen Vorzüge, während die Mängel weniger fühlbar werden. Jene Dünste, welche unsern Winter vergiften, aber des Sommers unsere Seegelände mit unvergleichlicher Lasur umhauchen, schweifen den halben Tag in den Schluchten und Wäldern des Uetli herum, Nähe und Ferne durchsichtig umschleiernd und Morgenfrische spendend. Der Uetli ist geradezu ein Maigebirge; ein Frühsommertag auf dem Albis bedeutet einen zwölfstündigen Morgen mit all seiner erquickenden Poesie. Nicht zu unterschätzen ist auch in dieser Hinsicht der Sonnenstand. Wer im Herbst die Albistour macht, wird die Sonne als einen tückischen Feind empfinden, der einem in allen Richtungen und an allen Orten blendet. Das ist im Frühsommer anders. Die Ursache hievon respektiere ich als eleusisches Mysterium; ich habe, der weisen Dichterworte eingedenk, nie versucht, den Schleier der astronomischen Isis zu lüften. Item, der Unterschied ist ungemein fühlbar. Freilich, zum Frühling der Jahreszeit muß sich auch der Frühling des Tages gesellen. Die schöne Anfangspartie, zum Beispiel die Allee links vom Denkmal Uto-Staffel, da wo der Uetlipfad und der Albisweg sich scheiden, will spätestens um sieben Uhr morgens unternommen sein, wo die Schatten noch wie Gitterfenster auf dem Wege lagern. Leider kommt hiefür die Uetlibahn zu spät. Wie man mir sagt und wie ich gerne glaube, liegt die Schuld ganz allein an der mangelhaften Beteiligung des Publikums, wodurch die Verwaltung gezwungen wurde, die frühere mildtätige Institution von Morgendämmerungszügen wieder aufzuheben. Ich kann mir aber nicht denken, daß das auf die Länge bleiben könne. Berg und Morgen gehören zusammen; und einen tüchtigen Marsch morgens um sechs Uhr unternimmt mancher mit Leichtigkeit, der um neun Uhr einen Spaziergang meidet. Und welch eine Verlängerung des Tages, mithin des Naturgenusses und der Gesundheitskur, wenn man das Ziel, den Albis, schon um zehn Uhr erreichen könnte!

Den Albis nämlich sehe ich als das natürliche Ziel jeder Uetliexkursion an. Die Leichtigkeit, Zuträglichkeit und Erfrischung eines tüchtigen Marsches auf einer Höhe von siebenhundert bis achthundert Metern, der Wechsel der Gegend, das stetige und rasche Anwachsen der Alpen, welche fast Schritt für Schritt an Größe zunehmen, und endlich nach mancher Müdigkeit und Enttäuschung die wunderbaren Überraschungen des Türlersees, des Zugersees, der Rapperswilerbucht und die unvergeßliche Erfrischung eines Lagers auf dem saubern grünen Samtteppich der Hochwacht, unter den stattlichen dunklen Tannen!

Und da gibt es Leute, welche die Uetlibahn des Idyllverrates zeihen! Ich frage einfach: Wie viele konnten sich, ehe die Uetlibahn existierte, die Albistour erlauben? und wieviel Male im Sommer? Jetzt ist das ein Leichtes für jedermann, der seine gesunden Füße hat, wofern er sich die gehörige Zeit dazu nimmt; bald wird es eine der gewöhnlichsten Touren für Damen sein. Dann nämlich, wenn abends die Sihltalbahn uns den verwünschten Überstieg über Gattikon nach Thalwil erspart und anderseits die Uetlibergbahn durch größere Beteiligung zu früherer Beförderung ermutigt wird.

Die Uetlibergbahn! Wäre ich Bischof, so würde ich sie segnen. Ich tue es zwar ohnehin, aber ich befürchte, es wird bei meiner sehr weltlichen Beschaffenheit wenig helfen. Wer nicht an die Uetlibergbahn glaubt, der versuche doch einmal den altväterischen Aufstieg beim Albisgütli; wohlverstanden, nicht in der Phantasie, sondern in Wirklichkeit. Ehe der Hahn dreimal kräht, muß er die endlose Ebene und die Hälfte des steilen, jetzt fast unbeschatteten Bergpfades zurückgelegt haben; denn wenn ihn einmal die Sonne eingeholt hat, dann kann er sich bekreuzen! Nun ist es ja ganz schön, einmal des Nachts aufzustehen und mit nüchternem Magen als Dämmerungsfalter aufzubrechen; aber wer sich nicht selbst anlügt, wird sich gestehen müssen, daß dieses Vergnügen ein Schalttags-Vergnügen ist. So was macht man einmal im Jahre, höchstens zweimal. Und selbst dann, was für einen peinlichen Zoll entrichten dabei unsere Nase und unsere Lungen der Göttin Pomona von Wiedikon, Vertumna von Wollishofen oder wie die landwirtschaftlichen Gönnerinnen alle heißen mögen. Es sind nicht vierzehn Tage her, an einem wunderbaren Maimorgen, da ließ ich mich, durch die Phantasie verlockt, neuerdings zu dem Versuch verführen. Was ich da für furchtbare Emanationen des Erdgeistes erlitt!

Ich erreichte nicht einmal den Fuß des Berges Horeb; ich wurde im eigentlichsten Sinne des Wortes von den vereinigten Kräften der Industrie, Land- und Viehwirtschaft, von Pallas Athene, Merkur und den Harpyien des Guano in die Flucht parfümiert. Die Heimkehr in den Kaminruß der Stadt erschien mir darauf hinab wie eine Luftkur. Da lobe ich mir die Uetlibahn. Mit dem ersten Augenblick, da sich der Zug in Bewegung setzt, eine blumige frische Chlorophyll-Brise, kein Atom von Landstraßenstaub oder Lokomotivrauch (da die Lokomotive hinten schiebt), Erfrischung und Erquickung, noch ehe man den Fuß auf die Erde setzt. Bei Zeitmangel bin ich schon bergauf und bergab gereist, ohne auszusteigen, einzig wegen der klimatischen Annehmlichkeiten der Fahrt, und ich habe den erhofften Gewinn dabei gefunden.

Die einzelnen Landschaften und Spaziergänge? Die schönsten Punkte? Albis und Albishochwacht, ich kann es nicht genug wiederholen, spotten des Vergleichs. Ein malerischer Glanzpunkt ist die Faletsche mit der jähen, tiefen, dämmernden Sandschlucht und den kreisenden Raubvögeln. Baldern und Felsenegg als Oasen für den Gaumen kennt jedermann. Uto-Staffel hat die schöne, ruhige Halde, aber auch die gefährlichen Abgründe, wie denn überhaupt davor gewarnt werden muß, mit dem Uetli gar zu vertraulich umzuspringen; er hat seine bösen Tücken. Uto-Kulm bleibt natürlich der Kulminationspunkt, der Thron für die Rundsicht, der natürliche Sammelplatz der Fremden, welche vor allem von einem unstillbaren Orientierungsdurst heimgesucht sind und nicht wenig erstaunen, wenn ihnen der leibhaftige Rigi und Pilatus vor Augen gezeigt wird. Schmerzlich vermissen sie den Montblanc, und die Jungfrau suchen sie ängstlich wie eine verlorene Busennadel. Es hilft wenig, daß der majestätische Glärnisch ihnen seine ganze Breitseite zuwendet; was nützt alle Schönheit, wenn sie nicht gebührend betitelt ist? Übrigens sollte man, beiläufig gesagt, nicht ewig und unvernünftig eine Alpenaussicht nach ihrer Vollständigkeit abschätzen. Nicht das Panorama, sondern das Diorama stempelt eine Alpenlandschaft zum großartigen Bilde. Wenn neben einer Waldecke oder über einem Hochplateau plötzlich und ungeahnt, gigantisch und rein, silberweiß duftig ein Zipfelchen Glärnisch oder Tödi aus dem farbigen Vordergrunde emportaucht, wie eben frisch aus der Schöpfung hervorschnellend, das ist das Wahre, das ist ein Bild. So zum Beispiel beim Aufstieg von Waldegg, oben auf der Terrasse unter der letzten Kuppe, oder beim Spaziergang von der Station Uto-Kulm nach Staffel, hinter dem Rehpark, wo die Alpen unversehens zwischen den Haselbüschen aus dem Weg herauswachsen.

Warum der Spaziergang von Waldegg nach Uetli so selten ausgeführt wird, ist unbegreiflich, geht es doch beständig durch den Wald. Die erste Hälfte ist das schönere Stück; weiter oben artet der Wald in kleinen, dürftigen Tannenbestand aus. Durch Anlage eines Fußpfades auf der rechten Seite des Bahndammes hinter Station Waldegg könnte ein zweiter Parallelweg eröffnet werden, der zur Abwechslung diente, als Abstieg, weil sonniger.

Dort um Waldegg herum gibt es allerlei schöne, einsame Waldstückchen: Blumenwiesen, Schmetterlingswege, finstere Weihnachtstannenwäldchen, in welchen die Kinder ein Gruseln vor Füchsen und Wölfen anwandelt, Pulverhäuschen mit gespenstischen Totenköpfen in einem Paradies von Brombeeren und kleine, feine Enzianennestchen. Nestchen für die kleinen frühzeitigen, hellblauen und für die dunklen, großstieligen im Spätsommer. Ich weiß genau, wo sie sind, werde mich aber wohl hüten, sie zu verraten, sonst sind sie im Handumdrehen verwüstet. Ich meinerseits gebe mein Ehrenwort, daß ich jeweilen nur einen kleinen Prozentsatz als Finderlohn beanspruche. Es ist aber jedem erlaubt, seine eigenen Geheimnisse in der Natur zu finden und zu hüten; und das gerade ist das Beseligende davon.


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