Friedrich Spielhagen
Uhlenhans
Friedrich Spielhagen

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430 Sechsundvierzigstes Kapitel.

Komtesse Ulrike erwartete Hertha, bei der sie sich hatte melden lassen, unten im Gartensaale; Hertha kam nach wenigen Minuten, die der Ungeduldigen lang genug erschienen waren. Sie eilte mit großen Schritten der Eintretenden entgegen, sie herzlich umarmend und küssend.

Armes Kind, wie blaß Du wieder bist! wie geht es dem Großpapa?

Immer dasselbe; er kennt niemand mehr; Doktor Bertram, der gestern Abend, eben als Du fort warst, kam, sagte: er gebe ihm nur noch wenige Tage.

Der gräßliche Mensch! er hätte Dich damit verschonen können.

Ich weiß nicht: ich glaube, er beurteilt mich ganz richtig. Ich bin auf alles gefaßt.

Das denkt man so. Und die Kleine?

Heute nicht so gut. Wir haben ihr doch wieder andere Milch geben müssen. Hanne ist in zu großer Sorge um ihren Vater. Sie ist eben wieder drüben; ich wollte hernach auch noch hin fahren.

Ich dachte mir gleich, daß das Experiment mit dem Mädchen gewagt sei.

Es ist bis dahin sehr gut gegangen; im schlimmsten Falle werde ich immer an ihr eine Stütze haben. Sie thut, was sie mir an den Augen absehen kann.

Habe ich wohl gemerkt: sie hat aber auch alle Ursache dazu, Dir dankbar zu sein.

Ich handle doch nur in seinem Sinne.

431 Freilich; und was sagt der Doktor über ihn?

Die kleine Hand, welche Ulrike in der ihren hielt, zuckte.

Heute soll die erste Vernehmung stattfinden.

Also wirklich!

Der Doktor hat mir offen gesagt, daß er eine schleunige Beendigung der Untersuchung wünscht. Er möchte Hans nach Grünwald haben.

Darüber wollen wir hernach sprechen. Vorläufig habe ich hier ein paar Briefe, die ich, nachdem Du sie gehört hast, sofort selbst zu Herrn von Bohlen nach Bergen bringen werde, da mein Adjutant wie gewöhnlich nicht da ist, wenn man ihn braucht, und ich sie keinem anderen anvertrauen mag.

Ulrike hatte die beiden Briefe bereits aus dem Pompadour genommen und den einen aufgeschlagen, während sie den anderen auf den Schoß legte, indem sie lächelnd fortfuhr:

So! und da das tapfere Kind, trotz ihrer angstvollen Augen, auf alles gefaßt ist, lese ich ihr zuerst ohne weitere Einleitung diesen hier von Tante Cleveland vor – englisch natürlich. Wenn Du etwas nicht verstehen solltest, bitte, es zu sagen:

Liebes Kind! ich beantworte Dir Deine beiden letzten Briefe auf einmal in einer Aufregung, die Du begreiflich finden wirst aus dem, was folgt. Du kannst Dir denken, wie sehr mich die seltsame Geschichte interessiert hat, welche sich in Deinem nächsten Freundeskreis zugetragen, und deren ausführliche Relation Dein erster Brief enthielt. Wir sind doch hier, Gott weiß, an seltsame Geschichten aus dem vornehmen Leben sattsam gewöhnt; aber dies durfte sich getrost dem Seltsamsten anreihen, ja, überbot es noch. Ein Bruder gerät in den dringendsten Verdacht, einen sehr geliebten Bruder getötet zu haben, während in derselben Stunde die Frau des Getöteten mit demjenigen davon geht, welchen jener für seinen besten Freund gehalten. Wiederum stellt sich heraus, daß die Entflohene die ganze Gesellschaft und dann jedenfalls auch ihren Entführer in unglaublicher Weise düpiert hat. Wahrhaftig, da ist Stoff genug, eine gewisse Rubrik unserer Times auf zwei volle Wochen zu füllen; die interessanten und rührenden Details, welche Dein zweiter Brief brachte, 432 noch nicht einmal eingerechnet. Genug – Du kennst ja Deine alte enthusiastische Tante – ich lebte ganz und gar in der romantischen Geschichte, bevor ich noch eine Ahnung davon hatte, daß ich mit zwei Hauptpersonen Deines großen Dramas so bald in nahe Beziehung treten sollte. Denn nun höre und staune! Ich komme zu einem verspäteten Rout bei Lady Castlewood und finde die ganze Gesellschaft in Aufruhr über die neueste Acquisition: die junge Gattin eines deutschen Grafen Lankwitz (eingeführt durch den jungen Herzog von B., der die Bekanntschaft des Paares auf der Fahrt von Havre aus gemacht hatte), – eine geborene Französin, Tochter eines verarmten, aber vornehmen Hauses irgendwo im südlichen Frankreich. Ich werde der Dame vorgestellt und bin von ihrer Schönheit und Grazie nicht minder entzückt, wie die übrige Gesellschaft. Auch ich alte Person scheine ihr zu gefallen; oder sie glaubt in mir eine passende dame d'honneur entdeckt zu haben – genug sie attachiert sich an mich, die ich deshalb von jung und alt beneidet werde, denn ganz London reißt sich um sie und nimmt den Gatten – übrigens einen gentlemanliken Burschen, der ein Französisch von fragwürdiger Güte mit großer Geläufigkeit spricht – mit in den Kauf. Ich sehe die junge Dame fast täglich bei mir; wir sind binnen acht Tagen Hand und Handschuh. Natürlich erzähle ich ihr auch die Geschichte, die mir fortwährend durch den Kopf geht, nicht ohne die löbliche Nebenabsicht, die junge Frau auf die Gefahren hinzuweisen, welche eine allzu freie Auffassung gewisser Verhältnisse heraufbeschwört; ja, ich nehme mir die Freiheit, sie direkt vor dem Herzog zu warnen, der mir allzu beflissen um sie scheint, und der sich seinen Spitznamen Lovelace durch tausend Skandalgeschichten redlich verdient hat. Ich erkläre ihr die Bedeutung des Wortes. Sie küßt mir dankbar die Hände und – ist am folgenden Tage mit ihm nach Schottland, von wo sie mir gestern in dem reizendsten Briefe von der Welt schreibt, sie werde mir ewig dankbar sein für die bewußten Mitteilungen, aus denen sie erfahre, daß sie Witwe sei eines ungeliebten Mannes, dessen frühzeitigen Tod sie beklage, wenn sie durch denselben auch die Freiheit 433 gewonnen habe, zum erstenmale in ihrem Leben der Neigung ihres Herzens zu folgen und die Gattin des Herzogs von B. zu werden, was sie hiermit ihrer mütterlichen Freundin anzuzeigen sich erlaube. Da sie nicht daran zweifle, daß in London allerhand Gerüchte über ihre Person cirkulieren würden, so dürfe sie mir gegenüber mit der Wahrheit um so weniger zurückhalten, als ich dieselbe vermutlich bereits ahne. Sie sei die Heldin der Geschichte, die ich ihr mit so großer Wärme erzählt. Natürlich habe sie die Vorsicht gehabt, ihrem Gatten dieselbe wenigstens in den Umrissen mitzuteilen, und dabei abermals die Erfahrung gemacht, daß man von einem Manne, solange er liebe, jedes Opfer fordern könne. Eine besondere Befriedigung gewähre es ihr noch, nun durch mich in den Stand gesetzt zu sein, in das unverdient harte Geschick, das den bravsten Mann der Welt getroffen, hoffentlich günstig eingreifen zu können und dadurch einen Teil der Schuld abzutragen, durch die sie der immer Gütige und Großmütige für das Leben verpflichtet habe. – Dies der Inhalt des Billets, das über den Mann, den sie so ungeniert verlassen, auch nicht eine Silbe enthält! Was sagst Du? London ist seit gestern – auch der Herzog hat an ein paar seiner Freunde das große Ereignis mitgeteilt – buchstäblich aus dem Häuschen, wie Ihr, glaube ich, in Deutschland sagt. Einer fährt zum andern; man begegnet sich auf der Straße; man steigt aus, um zu hören, zu berichten, zu medisieren, zu lamentieren, – besonders das letztere. Diese Ehe ist der ungeheuerste Skandal; aber nach allem, was ich höre, unanfechtbar; und so werden wir denn in der nächsten Saison – bis dahin wird das Pärchen auf den Besitzungen des Herzogs in Schottland leben – das Vergnügen haben, eine Abenteurerin als legitime Gattin eines der reichsten und mächtigsten Pairs der vereinigten Königreiche zu begrüßen. Ich verbürge mich für den kolossalsten Erfolg: eine so pikante Sache ist bei uns, die wir Aufregung um jeden Preis wollen, von vornherein gewonnen; übrigens wird es dem Herzog bei seinem ungeheuren Einfluß auf die Regierung ein Leichtes sein, die Angelegenheiten seines würdigen griechischen Schwiegervaters in schicklicher Weise 434 zu regeln. Nun, ein Trost ist, wie gesagt, dabei: bei uns sind schon eben so tolle oder noch tollere Dinge vorgekommen, ohne daß England darüber zu Grunde gegangen ist; wir haben es eben dazu. Ich muß noch hinzufügen, daß die merkwürdige Person mich bittet, Dir über alles, was ihre hiesigen Erlebnisse betrifft, ausführlichen Bericht zu erstatten, da sie keine Zeit dazu habe, und Du doch au courant sein müßtest, um die Mitteilungen, die sie Dir in betreff des unglücklichen Bruders ihres ersten Gatten ihrerseits zu machen gedenke, besser zu verstehen.« –

So, sagte Ulrike, die Blätter zusammen legend; und das ist auch der Grund, weshalb ich Dir diesen Brief – der Rest interessiert uns heute nicht – zuerst vorgelesen habe. Der zweite ist nämlich wirklich von ihr, und betrifft unsern lieben Hans. Ich lese wieder ohne weitere Einleitung, diesmal natürlich französisch:

»Liebe Komtesse! Wenn ich mich in einer Angelegenheit, die mir so nahe geht, daß ich sie fast meine eigene nennen möchte, gerade an Sie wende, so schreiben Sie das, bitte, auf Rechnung der großen Sympathie, welche mir die sichere Klarheit und Energie Ihres Wesens vom ersten Augenblick eingeflößt hat. Und dann stehen Sie ja der armen Hertha so nahe! So verschafft mir Ihre Güte, diese Zeilen von mir entgegen zu nehmen, alle Vorteile eines Briefes an die Genannte, ohne mir die Gêne aufzuerlegen, welche ich empfinden würde, wäre ich gezwungen, mich direkt an dieselbe zu wenden.

Ihre vortreffliche Tante, die eigentliche Schöpferin meines gegenwärtigen Glückes, wird Ihnen auf meine Bitte alles meine momentane Lage Betreffende mitgeteilt haben. Ich kann also ohne Umschweife zu der eigentlichen Veranlassung dieses Briefes kommen. Diese aber ist keine andere, als, was ich vermag, aufzubieten, um das Dunkel zu lichten, welches über der unglücklichen Begebenheit liegt, deren beklagenswertes Opfer der treffliche Bruder meines ersten Gatten geworden ist. Man sagt mir, daß man ihn des Mordes beschuldigt. Die begleitenden Umstände, wie ich dieselben aus dem Briefe an Ihre Tante kennen gelernt habe, sprechen ja in einem hohen Grade gegen 435 ihn; auch ist nicht in Abrede zu stellen, daß er Grund zum Zorn gegen den Toten hatte, der ihn in so unverantwortlicher Weise hintergangen. Indessen ich und jeder, der den hohen Edelmut des einzigen Mannes kennt, wird es für eine Unmöglichkeit erklären, daß er, sei es aus diesem, sei es aus irgend einem andern Grunde, die Hand gegen ihn erheben sollte, den er von jeher mit unverdienter Liebe überschüttet hat. Viel eher hätte er sich selbst töten können. Aber mit solchen Argumenten kämpft man vergebens gegen die Borniertheit der Behörden, welche um jeden Preis einen Thäter haben wollen. Dieser aber ist in unserm Falle nach meiner Ueberzeugung kein anderer, als Johannes Valianos Pannuris, ein junger leidenschaftlicher Mann von meiner Heimatinsel Tino, mir in frühester Jugend von den beiderseitigen Vätern zum Gatten bestimmt, und durch meine Flucht aus Tino zur Rache an dem Verführer aus gekränkter Liebe ebenso gereizt, wie nach der Sitte seines Landes dazu verbunden. Valianos nun, von der richtigen Annahme ausgehend, daß er, den er suchte, sich schließlich der Heimat zuwenden würde, hat eigens zum Zweck der Rache die kühne Expedition nach der fernen Küste unternommen (wenn er auch, als ein praktischer Mann, um auf die Kosten der weiten Reise zu kommen, kaufmännische Zwecke mit seinem Hauptzweck verband). Mit der unermüdlichen Geduld und raffinierten Schlauheit des Tinoten, der auf Rache ausgeht, hat er das erkorene Opfer bis in die scheinbar sichere Zuflucht des Vaterhauses aufzuspüren verstanden, dabei unterstützt von einem Manne in der Nachbarschaft, Namens Prebrow, der wiederum Gründe zur Rache an der Familie zu haben glaubte. Ich übergehe die Einzelheiten des Planes, der nun mit Beihilfe dieses Prebrow und meiner Amme Zoë ins Werk gesetzt wurde, und darin gipfelte, daß ich mich in eben jener Schreckensnacht auf eben jener Stelle des Parkes, wo nach Ihrer Schilderung die That geschehen ist, zu der identischen Stunde einfinden sollte, um dem Valianos in unsere Heimat zu folgen, der dafür auf die Rache an Goustabos – wenngleich nach langem Sträuben – zu verzichten versprochen hatte. Natürlich war er an sein Versprechen nicht mehr gebunden von 436 dem Augenblicke, wo er sich überzeugen mußte, daß er vergeblich auf mich wartete. Diese Ueberzeugung ist ihm sehr wahrscheinlich durch meine Amme geworden, die ihrerseits inzwischen meine Flucht nach einer anderen Seite entdeckt haben mußte. Was dann weiter geschehen, weiß ich freilich nicht; aber man wird unzweifelhaft das Richtige finden, wenn man die von mir gegebenen Fingerzeige weiter verfolgt. Nach Lage des mir Mitgeteilten muß in dem Streit, welcher sich zwischen den Brüdern entsponnen zu haben scheint, ein Moment gewesen sein, wo jemand, der demselben als heimlicher Zeuge beigewohnt, eingreifen konnte; und Valianos ist nicht der Mann dazu, einen solchen Moment unbenutzt vorüber gehen zu lassen.

Ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, liebe Komtesse, daß ich jederzeit bereit bin, obige Aussagen vor den Gerichten dieses Landes zu wiederholen und zu beschwören. Eine teilweise Erhärtung derselben möchte auch wohl eine Vernehmung des Herrn Grafen Grieben bringen, der, wie ich höre, das hiesige Klima nicht wohl verträgt und sich nach Paris gewandt haben soll, wo er unschwer zu ermitteln sein dürfte.

Ich schließe, liebe Komtesse, diesen Brief, der nun doch länger geworden ist, als meine ursprüngliche Absicht war, –«

Und so weiter, sagte Ulrike, die Blätter wieder faltend und zu den anderen in den Pompadour legend, dessen Stahlschloß sie kräftig zudrückte. – Das sind meine Neuigkeiten, und nun wollen wir doch einmal sehen, ob der superkluge Herr von Bohlen noch den Mut haben wird, seine sogenannte Untersuchung für beendet zu erklären.

Hertha hatte, während Ulrike die Briefe vorlas, zu der Freundin geheimer Verwunderung, kein Zeichen der Freude, des Erstaunens, der Ueberraschung, ja nicht einmal eines lebhafteren Interesses gezeigt. Jetzt hob sie den gesenkten Kopf ein wenig und sagte, immer noch in derselben dumpfen Starrheit vor sich nieder blickend:

Die Untersuchung ist beendet in dem Moment, wo man Hans selbst fragt. Er kann nicht anders, als die Wahrheit sagen.

Hertha! rief Ulrike erschrocken: ist es möglich? Du? Du?

437 Ich! sagte Hertha, schmerzlich lächelnd; gerade ich. Du kennst Hans nicht; Ihr alle kennt ihn nicht. Nur die Großmama, weil er seinem Großvater so ähnlich ist, und ich, der er seine Liebe gestanden hat – da, auf jener Stelle war's! – seine Liebe, die er so lange Jahre in seiner treuen Brust verschlossen – und dann brach's heraus, wie ein Blutstrom – furchtbar und doch so süß bestrickend – es kam mir aus der tiefsten Seele, daß ich sein Weib sein wolle. Dann habe ich doch meinen Schwur so schmählich gebrochen, habe ihm so Schlechtes, Elendes zugetraut, und – er hat es gewußt!

Woher? von wem? rief Ulrike.

Er hat es gewußt! wiederholte Hertha; gleichviel woher oder von wem: mir sagt es eine Stimme, die nicht lügt. Und hat gewußt, daß Gustav mich darin bestärkt hat und zum schändlichsten Verräter an ihm geworden ist. Verlassen, verraten von den beiden, die er zumeist geliebt! Keiner ertrüge das! und er, der so unendlich lieben kann, er muß auch rasend hassen können, furchtbar sich rächen – nicht rächen: sein Recht nur nehmen. Sein gutes Recht! Das er doch nur halb genommen! Wie er den Bruder erschlagen, der ihm das gethan, so hätte er mich töten dürfen, darf er mich töten. Nicht mit der Wimper würde ich zucken, und mein letzter Gedanke würde sein: es ist sein Recht.

Du bist toll, Mädchen! sagte Ulrike mit erschreckten Blicken Hertha verfolgend, die aufgesprungen war und hastigen, ungleichen Schrittes im Zimmer hin und wieder ging.

Ich bin es nicht, rief Hertha. Du siehst ja, daß ich ruhig meine Pflicht thue, wo und wie ich kann; es hat sich keiner über mich zu beklagen. In mir freilich – da sieht es schlimm aus; und ich habe auch wohl schon gedacht, es könnte mich wahnsinnig machen. Und ob ich's ertrage, wenn sie ihn verurteilen, wenn – o, mein Gott! mein Gott!

Sie hatte sich laut aufweinend an den Busen der Freundin geworfen, die sie mit beiden Armen umfing und die Schluchzende mit liebevollen Worten zu beruhigen versuchte. Hertha richtete sich wieder auf und schüttelte den Kopf:

438 Du bist sehr gut, sagte sie: ihr seid alle so gut: Du, die Großmama, Herr von Lilien, aber es hilft ja nicht. Und was sie Dir da geschrieben hat – wenn es nicht Lügen sind, wenn es soweit alles wahr ist – es ändert an der Thatsache nichts; es bringt ihn nur und seine reine Sache in die schmähliche Berührung mit diesen Menschen und ihrem ehrlosen Treiben.

Sie wollte sich vollends losmachen, aber Ulrike hielt sie mit starken Armen fest und sagte in einem Tone, durch dessen Lustigkeit die tiefe Rührung hindurch klang:

Wenn Du nicht gleich all den Unsinn zurück nimmst und sofort erklärst, daß Hans das nicht gethan hat und thun kann, so sage ich Dir, Du liebst ihn noch immer nicht, und dann sollst Du Ulrike Uselin kennen lernen! dann schwöre ich Dir, daß ich Carlo, trotzdem ich fest entschlossen war, ihn zu heiraten, laufen lasse, und Deinen Hans heirate: er wird mir nicht zum zweitenmale einen Korb geben. Ja, mach' Du nur große Augen! Ich, Ulrike Uselin, die ich zwanzig Körbe ausgeteilt, habe von ihm einen Korb bekommen vor noch nicht vier Jahren – von Uhlenhans! Er war zu Pferde und ich auch, und wir trafen plötzlich aufeinander an der Ecke des Norderholzes auf dem Wege nach Griebenitz. Und als wir eine Weile stumm nebeneinander geritten waren, sagte ich zu ihm: Hans, willst Du mich heiraten – ich liebe Dich schon so und so lange. Was er mir da geantwortet, der herrliche Mensch, und wie's mich gepackt – nun, Du erinnerst Dich wohl an mein Nervenfieber von vor vier Jahren, und daß ich Dich von da an mit meiner Freundschaft quäle. Ich mußte – um doch etwas zu haben – die lieben, die er so grenzenlos liebte. So, nun ist es heraus, was Du niemals erfahren solltest.

Sie wollte Hertha, die in dem Schrecken über das seltsame Geständnis von dem Sitze an ihrer Seite aufgesprungen war, wieder zu sich nieder ziehen, aber Hertha riß sich los und rief:

Nein, ich hätte es niemals erfahren sollen; und es ist nicht gut von Dir, daß Du es mir gesagt hast! Mein Herz war auch ohne das schon schwer genug. Nun erst weiß ich es ganz, daß seine Liebe zu mir Unglückseligen sein Lebensglück 439 völlig zerstört hat. Du wärst das rechte Weib für ihn gewesen: edelherzig, wie er; einfach und wahr, wie er. Du hättest ihn durch Deinen Reichtum aus dem Druck der Armut erlöst, unter welchem er seine schöne Kraft für Unwürdige verbraucht hat; ja, Du hättest ihm den großen Wirkungskreis geschaffen, der ihm gebührte. O, daß Du mir das gesagt hast!

Ach was! sagte Ulrike, er liebt Dich, und Du bist endlich zur Einsicht gekommen, welch ein Mann das ist. Ihr werdet Euch heiraten, und damit basta!

Das ist abscheulich! rief Hertha.

Was!

Daß Du das sagen kannst, mir ein Glück vorspiegeln kannst, das mir niemals zu teil werden wird – nie!

Aber, Mädchen, jetzt frage ich in allem Ernst: bist Du bei Sinnen?

Du bist es nicht, wenn es wirklich Dein Ernst und nicht grausamer Hohn ist. Und wenn alles wäre, wie es nicht ist: wenn er Gustav nicht getötet hat, wenn er freigesprochen wird, und er – er mich wirklich jetzt noch wollte – ich sollte in seine blinden Augen täglich, stündlich sehen können, mir täglich, stündlich sagen müssen: du bist es, du, die durch ihren Wankelmut, dadurch, daß sie Gustavs freches Werben nicht, wie sie mußte, voller Verachtung zurückwies und so seine Tollheit bis zu diesem Grade wachsen ließ – das Gräßliche herbeigeführt hat? Du, du hast den geliebt, der zweimal die Hand gegen seinen Bruder, seinen Wohlthäter, seinen zweiten Vater erhob! Das ertrüg' ich nicht! nein! nimmermehr! Und ertrüge auch nicht den heimlichen Zweifel: er hat dich aus Mitleid genommen, aus Liebe nicht. Mitleid hat er ja mit jeder Kreatur, die leidet, und er wußte, wie sehr ich leide. Aber Liebe! Liebe zu mir? Das ist nicht mehr möglich – auch nicht ihm – das ist gegen die Natur.

So! rief Ulrike; und da willst Du lieber den Blinden, wenn er doch nun einmal blind sein soll, in seiner Not allein lassen; ihm verweigern, worauf er tausendfachen Anspruch hat: Deine Hilfe, Deinen Beistand bei Tag und Nacht?

440 Ich will tags seine Magd sein, seine Sklavin; ich will nachts vor seiner Thür liegen – sein Weib kann ich nicht mehr sein!

Sie hat recht, sprach Ulrike bei sich, mein Glück hat mich unedel und stumpfsinnig gemacht. Ich weiß nicht mehr, wie Unglücklichen zu Mute ist. Und daß sie an das Glück nicht mehr glauben, und nicht mehr glauben dürfen, wenn sie ihr Leid würdig tragen sollen.

Aber sie konnte das der Aermsten doch nicht sagen, und weil, was sie hätte sagen können, eine Phrase gewesen wäre, vor der sich ihre Ehrlichkeit schämte, saß sie schweigend da, mit traurigen Blicken Hertha verfolgend, die jetzt, langsamen Schrittes, offenbar ihrer ganz vergessend, gesenkten Hauptes in dem dämmerigen Gemach auf und nieder schritt, als die Thür nach dem Garten heftig geöffnet wurde, und Hanne herein stürzte, zerzaust vom Wind, durchnäßt vom Regen, atemlos.

Was gibt's? rief ihr Ulrike entgegen.

Der Vater! keuchte Hanne. Er möchte Sie so gern nur noch ein einziges letztes Mal sehen, gnädiges Fräulein! Der Herr Doktor sagt, es geht mit ihm zu Ende. Er ist mit dem Herrn Kreisrichter gekommen –

Mit Herrn von Bohlen? fragte Hertha erschrocken.

So heißt er ja wohl! erwiderte Hanne; der Vater hat Adolf heute Mittag zu ihm nach Bergen geschickt, und er ist seit einer halben Stunde da mit einem, der alles aufschreibt, was er sagt. Der Herr Doktor wollte mich in seinem Wagen fahren lassen; ich bin aber auf dem Richtweg durch die Wiesen gelaufen –

Mein Wagen hält vor dem Hause, sagte Ulrike; ich fahre Euch hin. Binde Dir etwas um, Hertha; es ist kalt draußen.

Ich hole Ihnen alles, gnädiges Fräulein! rief Hanne, den Damen voran eilend. Ulrike wandte sich erregt zu Hertha und sagte:

Was kann Herr von Bohlen wollen? ich bin überzeugt, es ist etwas mit Hans.

Ich dachte, er würde es mit ins Grab nehmen, murmelte Hertha.

441 Ich verstehe Dich nicht.

Hertha wurde die Antwort erspart; Hanne kam mit den Sachen; Ulrike befahl ihr ein Tuch umzuthun, bevor sie in den Wagen stiegen.

Nach Wüstenei! rief Ulrike dem Kutscher zu; und was die Pferde laufen können!


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