Friedrich Spielhagen
Uhlenhans
Friedrich Spielhagen

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368 Achtunddreißigstes Kapitel.

Die Familientafel war heute Mittag auf Alten-Prohnitz nicht zustandegekommen zu großem Verdruß des französischen Kochs, der einen Ehrgeiz darein gesetzt hatte, außer dem großen Souper für den Abend noch ein exquisites kleines Diner für die Herrschaften zu bereiten. Aber der kranke Kammerherr hatte mit seiner Gattin auf dem Zimmer speisen müssen; Isäa war, nachdem sie sich von Axel getrennt, nicht wieder zum Vorschein gekommen; Gustav um die Stunde noch nicht aus dem Norderholz zurück, wohin er auf einem Leiterwagen mit einem Jungen gefahren war, ein paar frische Tannen zur Ausschmückung des Hofthores zu holen; Hertha hatte in der Wirtschaft zu thun gehabt und war dann verschwunden und von der Pahnk vergeblich auf ihrer Stube, im ganzen Hause gesucht worden. Ein Mädchen behauptete, sie habe das gnädige Fräulein über die Wiesen nach dem Süderholz gehen sehen.

So war vier Uhr heran gekommen, als Frau von Lindblad an ihre Thür pochen hörte. Sie legte den Brief, welchen man ihr vorhin gebracht und den sie eben zum zweitenmale gelesen hatte, beiseite und blickte auf. Es war Hertha, die, den Hut auf dem Kopfe, eilig herein trat.

Gott sei Dank! sagte die alte Dame. Ich dachte, es wäre der Großpapa, den ich erst vor einer Stunde zu Bett gebracht habe: er hält es ja sonst nicht aus, der arme Mann, und ich fürchte, er hält es auch so nicht aus. Ach, diese unselige Gesellschaft! Und wenn er wüßte, daß die Herrschaften aus Prora nicht kommen! denke Dir, liebes Kind, da schreibt mir eben die Fürstin –

369 Die alte Dame nahm den Brief aus dem Arbeitskorb und suchte nach ihrer Brille:

Oder lies doch selbst!

Hertha ergriff das Blatt, das nur wenige Zeilen von der Hand der Fürstin enthielt:

Der Fürst habe sich von seinem Anfall noch so wenig erholt, daß er auf Anraten des Arztes sich für einige Tage nach dem Jagdschloß zurückziehen müsse. Er habe selbst ihre Begleitung anfänglich abgelehnt, schließlich aber doch in dieselbe gewilligt. Eben seien sie im Begriff, in den Wagen zu steigen. – Und so, verehrte und liebe Freundin, kommen wir um das Vergnügen –

Hertha hatte das Blatt wieder in den Korb gelegt.

Der Großpapa wird außer sich sein, sagte die alte Dame klagend; ich weiß gar nicht, wie ich es ihm beibringen soll. Ach, und ich habe noch eine andere schwere Sorge: ich bitte Dich, liebes Kind, wo bleibt nur Hans? Es ist ja ganz unmöglich, daß er uns heute in seinem eigenen Hause wieder allein läßt – der Großpapa würde ihm das nie verzeihen, und Du selbst mußt doch gestehen, nicht ohne einige Berechtigung: es würde ein heilloses Gerede geben. Was soll man als Grund anführen? Kind, liebes Kind, wenn er nicht kommt – warum kommt er nicht? Ich fasse es nicht. Er war am Freitag Abend noch so heiter in seiner stillen Weise – küßte mir so dankbar die Hände, daß ich ihm zugeredet hatte, Dir den Ring von seiner seligen Mutter endlich zu geben – er hatte ihn schon seit Montag in der Tasche getragen; – es schien mir doch auch, als ob er Dir damit eine wirkliche Freude gemacht habe, und –

Die alte Dame hatte, immerfort mechanisch nach ihrer Brille in dem Arbeitskorbe kramend, Hertha nicht angesehen und that es jetzt, erschrocken über ein leises Schluchzen, das plötzlich an ihr Ohr schlug. In dem nächsten Moment lag Hertha zu ihren Füßen, ihr Gesicht in ihrem Schoße bergend.

Um Gotteswillen, Kind! was hast Du? ist ein Unglück geschehen? ist Hans –

Ich weiß nicht; ich weiß nichts, ich –

370 Sie hatte ihr Gesicht emporgerichtet und blickte zu der alten Frau mit wirren angstvollen Augen auf, wie diese nie an der sonst so Starkmutigen gesehen hatte.

Ich habe – ich bin –

Sie strich mit beiden Händen über die Stirn. Als sie jetzt abermals aufschaute, hatten ihre Augen etwas von der gewohnten Klarheit und ihre Stimme klang fester:

Es ist sehr unrecht, daß ich Dich so erschrecke. Ich weiß nichts von Hans; außer, daß er noch immer nicht zurück ist, oder doch noch nicht hier gewesen ist. Ich glaube, daß er heute Abend kommt; ich wäre unglücklich, wenn er nicht käme. Ich muß ihn sprechen, ich habe ihm so viel zu sagen – nein, Großmama! laß mich so! Du hast ihn ja lieb – ich kann es Dir auch sagen – nicht alles – ach, ich weiß selbst nicht, wie es in mir ist. Ich will es versuchen – höre mich geduldig an – vielleicht, daß ich dann selbst in mir klarer werde.

Sie hielt die weißen, welken Hände fest in den ihren und fuhr fort:

Ich habe Hans nicht geliebt, als ich mich mit ihm verlobte; ich glaubte nur, ich würde ihn wohl noch lieben lernen; und das ist schon zu viel: ich nahm mir nur vor, ich sagte zu mir: du willst ihn lieben und deshalb wirst du ihn lieben. Ach, Großmama, es war mein alter Hochmut, daß ich alles kann, was ich will! Und dann der Gedanke, daß es doch nicht mein freier Wille sei; daß ich ihn lieben müsse, heiraten müsse, wenn ich ihn auch nicht liebte – das empörte mich; und wäre er nicht immer so gut, so rührend gut und demütig gewesen, ich weiß nicht, ob ich es auch nur zwei Tage lang ertragen hätte. Und dann, Großmama – was soll ich Dir sagen, was Du weißt: ich hab' es Dir ja aus den kummervollen Augen abgesehen. Aber ich schwöre Dir – ich darf es jetzt, wo ich mir wenigstens darüber ganz klar bin: – es war doch nicht die alte Liebe mehr: es war halb Mitleid, weil er sich für so unglücklich erklärte, und – er mag es auch wohl sein; und wenn er gethan hat, was ich jetzt glauben muß, daß er es gethan hat – werde nicht ungeduldig, Großmama! es ist sehr schwer, es alles 371 zusammenzubringen, wie es diese Tage in meinem Kopf und in meinem Herzen durcheinander gewirrt ist, daß ich manchmal meinte, ich müßte darüber wahnsinnig werden. Ich weiß nicht, Großmama, vielleicht bin ich es schon gewesen, daß ich so etwas von ihm glauben konnte. Es ist etwas sehr Schlechtes – es wird mir furchtbar schwer, es Dir zu sagen, gerade Dir; aber ich muß es sagen.

Und nun erzählte sie mit gesenkten Augen und flammenden Wangen, was sie von der Pahnk gehört, und wie ihre erste Empfindung dabei gewesen, daß sie nun einen Grund habe, sich von Hans los zu sagen; und sie doch bald gefühlt, daß sie sich nicht recht darüber freuen könne, und daran erkannt habe, daß sie ihn lieber gehabt, als sie geglaubt, und ihn ungern verlöre. Dies Gefühl sei von Stunde zu Stunde stärker in ihr geworden, in demselben Maße habe das, was sie für Liebe zu Gustav gehalten, abgenommen; und zuletzt – bereits gestern den ganzen Tag – habe sie nur noch der eine Wunsch beherrscht: es möge nicht wahr sein. Und da habe ihr Gustav heute Nacht auf der Herfahrt geschworen, es sei wahr; er habe es von Hans selbst.

Denke Dir meine Verzweiflung; fuhr sie mit zitternden Lippen fort. Ich habe eine furchtbare Nacht gehabt. Aber heute Morgen, als ich dann doch eingeschlafen war und aufwachte, stand es klar vor meiner Seele: es ist nicht wahr.

Es ist sicher nicht wahr, rief die alte Frau; es kann nicht wahr sein. Gustav –

Sie brach jäh ab, und ihr scheuer Blick streifte Herthas Augen, in denen sie zu ihrem Entsetzen las, was sie nicht auszusprechen wagte.

Hertha hatte sich erhoben und machte ein paar Schritte, kam aber sogleich wieder zurück, setzte sich zu der alten Dame auf das Sofa, ergriff wieder eine Hand derselben und sagte:

Es ist so schrecklich, ich kann es nicht ausdenken: er hat ja nichts als Liebe von ihm gehabt. Und hätte er es aus Liebe zu mir gethan, – die Wahrheit mußte ja doch einmal an den Tag kommen; und wie konnte er denken, daß ich ihm das 372 jemals vergeben würde! Vielleicht ist es auch von ihm ein häßliches Freundschaftsstück für Axel Grieben –

Wie kommst Du darauf? fragte die alte Dame.

Ich hatte den Ring verloren, sagte Hertha; ich ahnte nicht, wo; heute morgen fiel mir ein, es könnte nur vorgestern im Walde gewesen sein, an einer ganz bestimmten Stelle. Ich hatte keine Ruhe, ich mußte den Ring wieder haben. Ich komme eben von da; ich habe ihn gefunden – im dicken Moose – und ein paar Schritte davon – auch im Moose, so tief als habe jemand darauf getreten – diesen Brief: ein Brief von Axel an Hanne!

Sie hatte einen kleinen zusammengefaltenen, aber entsiegelten Brief aus der Tasche genommen.

Du hast ihn gelesen? fragte die alte Dame erschrocken.

Hertha schüttelte den Kopf:

Ich kenne seine Hand ganz genau – sie ist so sonderbar – wie lauter Reitpeitschen – wir haben ja genug gleichgültiger Billets gewechselt – Einladungen und dergleichen. Der Poststempel ist von Bergen – nach dem Datum ist es ein neuer Brief. Ich bin soweit ganz sicher; aber ich will mehr wissen, ich will alles wissen. Ich will zu Hanne; sie muß es mir sagen; sie muß!

Wenn sie nun nicht reden will, vielleicht nicht darf?

Sie muß! wiederholte Hertha heftig; und fuhr, als sie sah, daß die Großmama zusammen schrak, etwas ruhiger fort: Sei unbesorgt: ich werde nicht unvernünftig sein; ich werde – ich weiß nicht, was ich sagen werde; aber ich bin gewiß, sie wird mich nicht belügen. So, Großmama; und nun habe tausend Dank für Deine Güte. Bös bist Du mir nicht – das weiß ich – nur traurig; ich bin es ja auch so sehr. Aber ich konnte nicht anders. Und entschuldige mich bei Großpapa und der Gesellschaft, wenn ich nicht zur rechten Zeit zurück sein sollte.

Sie hatte der alten Dame wiederholt die Hand geküßt, war dann schnell aufgestanden und hatte den Hut, den sie vorhin auf den Tisch gelegt, ergriffen.

Hoffentlich bin ich zurück, sagte sie, die Bänder knüpfend. – Ich habe Krischan gebeten, daß er mich hinein fährt. Er 373 muß mir wohl angesehen haben, daß es mir sehr wichtig war; er hat nicht einmal gebrummt; aber ich darf ihn nicht warten lassen.

Ich komme mit Dir; sagte die alte Dame.

Sie war vom Sofa aufgestanden und wehrte Hertha ab, die ihr um den Hals fallen wollte.

Laß sein, Kind! hilf mir lieber ein bißchen! Irgend einen Hut und einen Shawl – was Du findest – so, das reicht aus. Siehst Du, Kind, es ist brav von Dir, daß Du das auf Dich nehmen wolltest, damit die Wahrheit an den Tag kommt, und der arme Hans nicht unschuldig leidet. Aber das ist nichts für ein junges Mädchen, dazu gehört eine alte Frau. Du könntest eigentlich auch hier bleiben; doch Du würdest wieder ein paar schlimme Stunden auszustehen haben, bis ich zurück bin; und so komm' nur mit. Der Großpapa wird mich nicht vermissen, und wenn auch – es ist mein Fleisch und Blut. Komm'!

Sie hatte Herthas Arm genommen; aber stützte sich kaum auf denselben, während sie so durch die Zimmer und die Treppe hinab schritten.

Als sie aus dem Hause traten, kam Krischan bereits von der Remise her. Hertha winkte ihm, halten zu bleiben, damit das Geräusch auf der Rampe den Großpapa nicht wecke.

Eine Minute später rollte die Chaise aus dem Hofthore auf den Weg nach Prora.


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