Friedrich Spielhagen
Uhlenhans
Friedrich Spielhagen

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108 Vierzehntes Kapitel.

Die Ungeduld, zu erfahren, wie Hertha die Nachricht von seiner Verheiratung aufgenommen, hatte Gustav vom Lager getrieben, während sich Isäa in tiefem Morgenschlafe für die durch das Unwohlsein des Kindes verlorene Nachtstunde entschädigte. Es war zwischen Hans und ihm verabredet worden, daß er sich, bis jener Botschaft sende, still im Gasthofe halten solle; er selbst hatte gesagt, Hans möge sich nicht übereilen; wer, wie er, ein schlechtes Gewissen habe, sei nicht neugierig; unangenehme Dinge erfahre man noch immer früh genug; überdies pflege Isäa vor zehn Uhr nicht aufzustehen.

Nun war es erst acht Uhr; was sollte er mit der öden Zeit beginnen? Er meinte, Hans hätte sich an sein Reden, mit dem es ihm nicht einmal ernst gewesen, nicht kehren sollen; Hans war eben der alte Pedant geblieben, der jedes Wort buchstäblich nahm, bei dem man jedes Wort auf die Goldwage legen mußte.

Er suchte sich die Zeit zu vertreiben, indem er sich vom Clas das Neueste aus der Umgegend erzählen ließ, sich nach diesem, nach jenem alten Bekannten erkundigte, besonders nach Axel, der, von gleichem Alter mit ihm, von Jugend auf sein vertrautester Freund gewesen: sein Kamerad im Pädagogium – da drüben das Eckzimmer im dritten Stock linker Hand hatten sie gemeinsam bewohnt – hernach bei den Jägern in Grünwald, er als Avantageur, Axel als Freiwilliger – ein verteufelter Kerl, nur ein bißchen sehr liederlich und dem jede Schürze recht war. Auch nach der einen und der andern jungen Dame fragte er: ob Komtesse Ulrike Uselin noch immer nicht geheiratet habe, ob Mathilde von Salchow so hübsch geblieben; 109 was aus der roten Hanne geworden? und ob sich der alte Prebrow seitdem nicht die Kehle abgetrunken oder abgeschnitten habe?

Aber er stellte seine Fragen aufs Geradewohl, hörte zerstreut auf Clas' redselige Antworten; und als dieser bei der Ankunft der Post von Garz in die Expedition und nach den Umspannpferden sehen mußte, ging er nur noch ein paar Minuten in dem Heckengange hinten im Garten, wo Clas ihn allein gelassen hatte, hin und her, spähte nach dem Hause hinüber, zog die Uhr hervor, die auf halb neun wies, zögerte noch ein paar Momente, klinkte dann entschlossen die Gitterthür auf und huschte entschlossen in das Tannenwäldchen, das hier unmittelbar an den Garten stieß. Eilig durch dasselbe auf ihm wohlbekanntem Pfade vorwärts schreitend, gelangte er nach wenigen Minuten an die Stelle, wo zwei Wege sich gabelten, von denen der eine links durch den Wüsteneier Wald und über Neuen-Prohnitz, der andere, rechts den Wald umkreisend, erst durch die Felder, dann auf den Strandwiesen, zuletzt über die Dünen an den Park von Alten-Prohnitz führte.

Er stand still, sich von dem eiligen Gange zu verschnaufen; schaute für einen Moment düsteren Blickes in die Richtung links, wo er den Weg zu dem Walde übersehen konnte. Der Weg war völlig leer. Er schüttelte den Kopf, sah nach dem Stande der Sonne, die mitleidslos aus dem wolkenlosen Himmel brannte, und vor deren Strahlen ihm zwischen den Feldern und gar hernach auf den Wiesen höchstens der dünne Schatten einer Weide dürftigen Schutz gewähren würde.

Gleichviel! murmelte er.

Er bog in den Weg rechts, wo auf beiden Seiten der fast reife, mannshohe Roggen wie eine Mauer ragte, in die der Sturm der Nacht hier und da eine breitere oder schmälere Bresche gelegt hatte; langsam zuerst, um sich nicht zu überlaufen, dann, ohne es zu wissen, schnell und schneller gehend, in seiner Seele vieles wälzend, was doch alles wieder in den einen Gedanken mündete, mit dem er am Morgen erwacht war: Wie hat sie es aufgenommen? und der sich in diesen peinlichen 110 Wartestunden zu dem Wunsche, dem unwiderstehlichen Verlangen verdichtet hatte, sie wiederzusehen.

Und während er nun so rastlos dahin eilte, war es ihm, als hätte er einen langen Traum geträumt und sei erwacht, und es sei ein recht toller und häßlicher Traum gewesen.

Das war sein vaterländisch Korn, durch dessen goldene Wogen er tausendmal mit ihr Hand in Hand geschritten, auf leichtem Wagen dahingerollt, auf den beiden Ponies dahingaloppiert; das waren die Grillen, von denen sie hartnäckig behauptet, sie höre ihr Zirpen nur immer als ein einförmiges Geräusch, während er deutlich die einzelnen feinen Stimmchen unterschied; das waren die Lerchen, deren Aufsteigen sie als Kinder so oft beobachtet und sich dabei gestritten hatten, wer den im Himmelsblau verschwindenden Punkt am längsten sehen könne; das waren die Kornblumen, die er so oft an ihre Stirn gehalten, um einmal zu behaupten, ihre Augen seien blauer als die Blumen, und das andere Mal, wenn er sie necken wollte: wer ihre blassen Augen mit den dunklen Blumen vergleichen könne, der habe selber keine Augen im Kopfe.

Aber sie waren noch viel blauer und schöner gewesen, ihre glänzenden Augen. Und nun sah er diese Augen und sah die biegsam schlanke, knospende Gestalt und hörte die helle, klangvolle Stimme und ihr silbernes Lachen, als ob es da von oben her, von ringsher aus der blauen Luft auf ihn hernieder, zu ihm heranschallte und ihn riefe: Komm', komm'! wie mochtest du so lange fern von mir sein? Gab es denn etwas auf der Welt, das dich halten konnte, während du mich deiner harrend wußtest? Was ist es, was kann es gewesen sein, das dich hielt?

Weg, weg, ihr Spukgestalten der Nacht!

Wie hatte sie es aufgenommen? Hatte sie geweint? Waren ihre Augen thränenlos geblieben und nur starr und dunkel geworden, wie sie es pflegten, wenn sie erzürnt und beleidigt war, und sie die Lippen aufeinander preßte, während die Farbe von ihren Wangen wich? Gestern Abend schon, heute Nacht noch hätte er es wissen können – nun ja, er hatte Hans gesagt, es habe damit auch bis heute Morgen Zeit; es sah dem Träumer 111 ähnlich, ihn so auf die Folter zu spannen! Was wußte der nüchterne Mensch von einem Herzen, das liebt! Alles, was schön ist, liebt! Dich vor allem, die du schöner, tausendmal schöner bist, als die bunte, wollüstige Schlange, –

Fort, fort! Was willst du hier in dieser reinen Luft?

Wie hatte er es ihr gesagt? Plump gewiß und ungeschickt, mit der Thür ins Haus! Es war ja seine Weise, die er ehrlich nannte, und die doch nichts weiter als Beschränktheit war: die Unfähigkeit eines bornierten Menschen, sich in die Seele eines andern zu versetzen, der einen hellen Kopf, eine glühende Phantasie und ein bewegliches Herz hat. Phantasie, Herz, Verstand, Geist – das waren ja eben so viele schreckliche Gebrechen und Verbrechen in seinem Auge. Das unbequeme Auge mit seinem stillen, stupiden Glanze, um so unbequemer, als es stets an den blinden Genossen mahnte und an die schlimme Stunde! Wie vieles hatte er nicht schon im Leben vor diesem Auge verbergen müssen! Es war doch sehr gut, daß er gestern Abend nicht hinein zu sehen brauchte, als er ihm im Dunkeln die Geschichte erzählte!

Die famose Geschichte! Hopsa.

Ein Fuchs, der sich einen jungen Hasen gefangen hatte, war plötzlich dicht vor seinen Füßen über den Weg und mit einem kühnen Satze in das Korn an der Seite gesprungen.

Er war lachend stehen geblieben: Sauve qui peut! Ganz mein Fall! Nur sich nicht lange besinnen! Ich habe in meiner Geschichte noch kühnere Sätze gemacht. Ich glaube wahrhaftig, so gut brächte ich sie selbst nicht wieder zustande – ich war wundervoll im Zuge – noch ein paar Stunden hätte ich so erzählen können. Wenn ich nur nicht des Guten ein bißchen zu viel gethan habe! Er hat ein unverwüstliches Gedächtnis, und ich werde die Geschichte noch oft erzählen müssen. Nun, ich bringe mich schon durch und helfe mir mit einem Salto mortale, wie eben der rote Kerl; aber Isäa – es wäre doch am Ende gescheiter gewesen, ich hätte sie heute Morgen noch einmal überhört. Sie versteht es allerdings noch besser als ich, aber wir dürfen uns einander nicht widersprechen. Das ist der große 112 Punkt. Es kann elf Uhr werden, bis ich zurück bin, und wenn Hans inzwischen kommt – einmal muß er doch kommen – und sie verplappert sich, während ich mich hier außer Atem laufe, wie ein verliebter Schuljunge – bei Gott! ein richtiger Dummejungenstreich – sentimentaler Unsinn – Tollheit – ich weiß ja nicht einmal, ob ich sie vorher sehen werde –

Er blieb abermals stehen.

Das wäre das erste Mal, daß mir eine Tollheit zu toll gewesen wäre! Je toller, je besser! desto schneller muß sie begreifen, daß ich sie liebe –

Er eilte weiter, froh seiner elastischen Kraft, und daß ihm selbst die glühende Sonne auf dem schattenlosen Wege zwischen dem hohen Korne nichts anhaben konnte. Freilich, er hatte seitdem manche Sonne, die noch anders glühte und brannte, ertragen gelernt; und wenn er damals seinen Mann gestanden in jeglicher ritterlichen Kunst, wer wollte es jetzt mit ihm aufnehmen? Wer von den stupiden Landjunkern durfte sich auch nur mit ihm vergleichen: diese Salchows und Malchows und die anderen, die, wenn sie es weit gebracht, inzwischen einmal bis nach Berlin und sehr wahrscheinlich nicht über Sundin und Grünwald hinaus gekommen waren, um nun von ihren Heldenthaten auf dem Sundiner Rennen und dem Grünwalder Exerzierplatze zu erzählen. Und er sollte sie so ohne weiteres dem Axel lassen, der sein lebenlang nichts gethan, als Pferde einreiten, französisch plappern, Pharao spielen, Mädchen nachstellen, und bei dem die unverwüstliche Frechheit den Witz vertreten mußte? Nun ja, Isäa würde Geschmack an seinen Späßen finden – es machte ihr ja alles um so größeren Spaß, je platter es war – aber Hertha mit ihrem schlagfertigen Geiste, ihrem feinen Witze, ihrem köstlichen Sinn für Humor – sie und den langen, schalen Gesellen sich als ein Paar zu denken – pfui Teufel! Er mußte gestern krank gewesen sein, daß er sich das hatte vorstellen, hatte wünschen können, um aus einer Lage zu kommen, die er für höchst bedenklich, ja für verzweifelt hielt, und die es doch bei hellem Tageslichte gar nicht war – im Gegenteil: nur pikant, sehr pikant, und gefährlich höchstens 113 für einen Dummen und Feigen. Aber die ewige Geldklemme hatte ihn dumm und feig gemacht. Warum hatte er Isäa und das Kind nicht in München gelassen und war allein hergekommen? Sie wußten ja hier von nichts, hatten keine entfernteste Ahnung, daß er sich so das Netz über den Kopf gezogen – ein Netz, aus dem man auch am Ende den Kopf wieder herausgezogen hätte. So eine Ehe in einem italienischen Räuberneste, die ein katholischer Pfaffe in heimlicher Nacht eingesegnet – als einzige Zeugen des Pfaffen Küster und die alte griechische Hexe, des Teufels leibhaftige Großmutter – das galt hierzulande vielleicht gar nicht für eine richtige Ehe – würde hier noch einmal geschlossen werden müssen – oder könnte ohne Schwierigkeit gelöst werden – und dann Freiheit! Freiheit und Hertha!

Er stand auf dem Gipfel des Hügels, zu seinen Füßen die Kornbreiten, die er eben durchwandert hatte. Der Aufstieg der Dünenhöhe zwischen einem Kartoffelfelde links und einem Strich Heide rechts war nicht eben steil gewesen, aber in tiefem Sande, und dem Eilenden hatte die Stirn getropft und das Herz gepocht. Nun kam durch die zuletzt glühende Luft auf breiten Schwingen ein erquicklicher Wind her von der See, die jenseits der beiden Strandwiesen herüberblaute bis zu dem niedrigen Streifen der pommerschen Küste im Süden, während nach Westen sein Blick vorüber an dem kleinen waldigen Eiland, welches der Küste vorgelagert war, in die ungemessene Ferne schweifte. Und dort, dem Eilande gegenüber, hart an der See, auf der Uferhöhe, von ihm nur durch das große Wiesendreieck geschieden, in dessen Spitze landwärts, am Saume des Wüsteneier Waldes, die Dächer von Prebrows Gehöft eben noch sichtbar wurden – dort auf der Uferhöhe ragten sie – in der glänzenden Sonne selbst wie eine hohe bronzene Mauer anzuschauen: die Buchen und Eichen des Parkes von Alten-Prohnitz, umgeben von dem weißen Saume der niedrigen Umfassungsmauer, welche, den Profilen der Hügel folgend, sich hob und senkte, bis wo auf der tiefsten Stelle, aber immer noch aus Waldesgrün, der schlanke Turm der Kapelle und neben ihm der oberste Giebel des Schlosses hervorblickten.

114 Eine seltsame Rührung, wie er sie seit Jahren nicht empfunden, wie er sie nie empfunden zu haben glaubte, und in der selbst der selbstsüchtige Gedanke an Hertha, der ihn atemlos bis hierher getrieben, wie in weichen Nebeln versank, überkam bei diesem Anblicke jäh den unstäten Mann.

Hätte ich daran gedacht! murmelte er. Hätte ich das einmal nur im Geiste gesehen, wie anders, wie ganz anders –

Und mit dem Bilde der Heimat da vor seinem körperlichen Auge trat vor seines Geistes Auge das Bild seines Lebens von den sonnebeglänzten Unschuldstagen der Kindheit bis zum gegenwärtigen Augenblicke, zusammengefaßt in dem einen Gefühle: verfehlt! Verfehlt trotz all deiner Gaben des Leibes und der Seele, deiner Gewandtheit, Kraft, Schönheit, Schlauheit, Klugheit, all der Schmeichelkünste, mit denen du die Menschen berücken, des vollen glatten Redeflusses, auf dem du sie tragen kannst, wohin du willst; trotz all der Liebe, die du nicht zu erobern brauchtest, weil man sie dir im Ueberschwange entgegen trug – verfehlt und verpfuscht: ein schönes Spielzeug, das ein übermütiger Knabe zerpflückt, bis es in nichtsnutzigen Fetzen zu seinen Füßen liegt!

Von dem tiefen Stöhnen, das sich seiner Brust entrungen, aus dem schauerlichen Traume geweckt, fuhr er zusammen und blickte verstört um sich.

Pah! du hast nicht ausgeschlafen und nicht ordentlich gefrühstückt; nun ist das Gehirn blutleer, und in dem leeren Gehirn spuken Nachtgespenster am hellen Tage.

Er hatte den Hut abgenommen; der frische Wind spielte mit seinen feuchten Locken, um seine nasse Stirn, seine heißen Augen.

Zurück kannst du nicht mehr, wer weiß, was die Zukunft bringt. Vorwärts denn!

Und er drückte den Hut in die Stirn und sprang hügelabwärts den sandigen Weg in großen Sätzen, bis er unten den Uferweg erreichte, der von dem Bade Prora durch die Wiesen, hernach an dem Parke von Alten-Prohnitz hin und weiter di Küste entlang nach dem Jagdschlosse führte.

115 Nun wieder hügelan, auf dem Richtweg über die Dünenwiesen nach der Nebenpforte des Parkes, in dessen Laubmassen er jetzt schon die einzelnen Bäume unterscheiden konnte. Von der einzelnen gewaltigen Eiche auf der höchsten Höhe stieg ein Seeadler und schwebte, Kreise in Kreise schlingend, über dem Park.

Das war ein glückverheißendes Zeichen!

Ich werde den verteufelten Weg nicht umsonst gemacht haben. Ich werde sie sehen; es wird Thränen geben – Vorwürfe, Zorn, Verzweiflung – eine schauerlich schöne Scene, in der meine Rolle zu spielen mir nicht schwer fallen kann, da ich mich selber eben erst mit den schönsten Vorwürfen regaliert habe, mit dem lächerlichsten Zorn und der kindischsten Verzweiflung. Unterdessen plagt sich Uhlenhans mit der Bagage, und wenn er dann nach einer Stunde kommt und den Adler schon auf dem Horste findet – wie wird er das Auge aufreißen! Es ist das Schicksal der Eulen, am hellen Tage blind zu sein und als Vogelscheuche zu dienen, wie es das Vorrecht der Adler ist, in die Sonne zu sehen und zu siegen!


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