Friedrich Spielhagen
Uhlenhans
Friedrich Spielhagen

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350 Sechsunddreißigstes Kapitel.

Gustav war abgestiegen und hatte das Pferd angebunden, als aus der offenen Hausthür eilig Frau Riekmann kam und, ihn erblickend, ein enttäuschtes Gesicht machte.

Ich dachte, es wäre der Herr, sagte sie tiefatmend und den vergessenen Knix nachholend.

Ich bin eben zum zweitenmal auf dem Felde gewesen, erwiderte Gustav; ich glaubte bestimmt, er würde jetzt hier sein. Haben Sie denn keine Ahnung, wo er ist?

Keine Ahnung, Herr Baron. Ich ängstige mich ja beinahe tot.

Die Frau führte den Schürzenzipfel nach den Augen; eine sonderbare Ahnung durchzuckte Gustav.

Wieso? sagte er.

Ja, Herr Baron, wo soll er man sein?

Vielleicht nach Bergen; er war ja auch am Freitag drüben.

Die Frau schüttelte den Kopf.

Dann wäre er doch geritten, oder hätte anspannen lassen. Die Pferde haben ja heute nichts zu thun.

Vielleicht ist er nach Prora gegangen und hat von dort einen Wagen genommen?

Habe ich auch schon gedacht. Aber vorhin ist der alte Nimmo hier gewesen, der Briefträger, Herr Baron – Sie müssen ihn ja auch noch kennen – der hat einen Brief gebracht von einem Herrn; mit dem ist der Herr gestern Abend nach Prora gekommen mit Extrapost; die haben sie in Neuenfähr genommen; das Fährboot hat nämlich Havarie gehabt, und so ist die Post längst weg gewesen. Und, was der andere Herr ist, 351 der ist noch aufs Schloß gegangen; und Nimmo, der dabei gestanden, hat gehört, wie der andere Herr unserm Herrn zugeredet hat, er solle mitkommen; aber unser Herr hat nicht gewollt. Und der andere Herr ist die Nacht im Gasthof geblieben, aber heute Morgen in aller Frühe wieder nach Sundin gefahren. Ja, und was ich sagen wollte: also in Prora ist unser Herr heute Morgen auch nicht gewesen. Ach du lieber Gott, Herr Baron, wenn man doch nicht ein Unglück passiert ist!

Sie sind nicht recht klug! sagte Gustav zu der Frau, die jetzt zu weinen angefangen hatte. Mein Bruder ist doch wahrhaftig kein Kind, daß man sich um ihn zu ängstigen brauchte, wenn er mal ein paar Stunden fort bleibt.

Seit heute Nacht um zwei, Herr Baron! um halb drei bin ich schon wieder auf den Beinen gewesen.

Und die Frau berichtete ausführlich, was sie von Hans' kurzer Anwesenheit heute Nacht im Hause zu sagen wußte, wobei sie noch besonders die Heimlichkeit betonte, mit der er gekommen und gegangen sein müsse, als ob er von niemand hätte gesehen sein wollen, so daß, wäre nicht das zurechtgemachte Bett eingedrückt gewesen und hätte nicht die vorher verschlossene Thür vom Gewehrschrank offen gestanden, sie gar nicht sagen könnte: er war da. Sie habe genau nachgesehen: es fehle keines von den Gewehren, und so dürfe sie nicht zu ihrem Trost annehmen, er sei vielleicht im Walde, um ein Reh für das Fest heute aus dem Schlosse zu schießen. Aber nun müsse sie der Herr Baron entschuldigen. Sie habe in der Küche das Mittagessen für die Leute auf dem Feuer. Ob sie dem Herrn Baron vorher noch eine Erfrischung holen solle?

Gustav dankte; Frau Riekmann solle ruhig ihren Geschäften nachgehen; er wolle sich nur ein wenig ausruhen; vielleicht, daß Hans inzwischen käme.

Gott geb's! sagte Frau Riekmann; ich glaub' es nicht.

Frau Riekmann ging über den Hof nach der nahen Leuteküche. Gustav sah ihr nach, bis ihre große weiße Haube in der Thür derselben verschwunden war, und ließ dann seine düsteren Blicke über den kleinen Hof schweifen. Der war wie 352 ausgestorben; selbst die Hühner hielten sich still unter den nebeneinander aufgefahrenen Leiterwagen; die Enten lagen zusammengedrängt im Schatten des großen Reisighaufens; die Störche saßen auf den Nestern oder schliefen mit unter die Flügel gesteckten Köpfen auf den Dachfirsten; aus dem Hause, dessen Thür und Fenster offen standen, kam kein Laut außer dem Ticktack der Wanduhr auf dem Flur.

Wenn ihm ein Unglück passiert wäre! – Dummes Zeug! Leuten, wie ihm, passiert kein Unglück.

Er starrte in die dämmerige Stube, wo er am ersten Abend im Dunkeln ihm das Märchen erzählt hatte von seinen Abenteuern in Griechenland. Auf dem runden Tischchen vor dem alten Ledersofa lag der Brief, von dem die Riekmann gesprochen hatte.

Der Kummer bliebe ihm wenigstens erspart, murmelte er. Ich muß wissen, was in dem Briefe steht.

Er war in die Stube an den Tisch getreten und hielt den Brief in der Hand: ein zusammengefaltetes Blatt Postpapier, verschlossen mit einem großen Siegel, von schlechtem braunen Lack, in dessen Mitte ein kleines adliges Wappen, offenbar mit einem Ring, deutlich eingedrückt: eine Freiherrn-Krone, auf dem Schilde darunter in dem linken Felde drei Mohrenköpfe, in dem rechten drei Lilien.

Ich dachte es! Und ich Dummkopf war so froh, daß der Mensch nicht kam! Nun müssen sich die beiden unterwegs treffen! Fehlt nur noch, daß der Mensch seine Weisheit vor dem Fürsten ausgekramt hat, und der Fürst – oder gar schon vor Hans, und daß Hans – es muß etwas derart sein! was hätte er ihm heute Morgen so Eiliges zu schreiben: per expreß!

Er starrte auf die in flüchtigen, aber schönen Zügen geschriebene Adresse, drehte den Brief um und starrte wieder auf das Siegel.

Was ist denn Großes dabei? Seit zwei Uhr ist er fort; die Leute meinen, es sei ihm ein Unglück passiert. In dem Briefe von jemand, der bis zum letzten Augenblicke mit ihm zusammen gewesen ist, könnte doch eine Aufklärung – jeder Bruder an meiner Stelle –

353 Er fuhr zusammen und hatte den Brief wieder auf den Tisch geworfen – es war nichts gewesen – nur ein eben angekommener Storch hatte geklappert und ein paar Hähne hatten gewarnt. In der Hinterstube war es doch sicherer.

Auch da stand das einzige Fenster nach dem kleinen verwilderten Garten offen. Er stellte sich an dasselbe, um sofort sehen zu können, wenn jemand in den Garten kam, und erbrach das Siegel. Bei den ersten Worten, die er las, schoß ihm das Blut in Stirn und Wangen und seine Hände begannen zu zittern; er biß die Zähne übereinander und las noch einmal:

Hochwohlgeborner Herr! Welche traurigen Stunden habe ich erlebt nach den traurigen, die uns vom seltsamsten Schicksal miteinander zu verleben beschieden war! O, daß ich nicht geschwiegen habe! sage ich seitdem immerfort; und wäre trostlos, dürfte ich nicht jedesmal hinzufügen: o, daß ich nicht schweigen konnte! dem liebevollsten Bruder die Augen öffnen mußte über einen Bruder, der seiner so wenig würdig ist! Mußte! das ist mein Trost. Hat doch auch der sittliche Zorn seine tiefe Berechtigung. Und wie hätte ich mich dessen erwehren können, als ich Sie mit dieser rührenden Wärme von ihm und seinen glänzenden Gaben sprechen hörte; und daß Sie ihn nun für immer an Ihrer Seite festzuhalten wünschten und hofften! und jedes Ihrer einfachen Worte die Empörung in mir schürte: diesen Mann, der die Gradheit und Ehrlichkeit selbst ist, hat er zu täuschen gewagt! – Ich fürchte, ich habe dieser Empfindung, trotzdem sie die herrschende in mir war und mir im Grunde allein meine Handlungsweise diktierte, gestern kaum den rechten Ausdruck gegeben. Einer so zartfühlenden Seele gegenüber, wie die Ihrige ist, bedarf es dessen auch wohl nicht. Dennoch hat es mir keine Ruhe gelassen, bis ich wenigstens den Versuch gemacht habe, diesen Ausdruck zu finden.

Freilich ist dies nur der eine Grund, weshalb ich jetzt in tiefer Nacht an Sie schreibe. Ein zweiter ist, Ihnen zu sagen, daß meine Voraussage hinsichtlich der Stellung, welche der Fürst zu der unglücklichen Angelegenheit nehmen würde, buchstäblich eingetroffen ist. Kannte ich seinen edlen Charakter doch 354 zu gut, um nach dieser Seite mich zu irren. Den Schmerz, mit welchem ihn meine Mitteilungen erfüllten, darf ich nicht zu schildern wagen. Ich habe Thränen in seinen Augen gesehen. Seltsamerweise habe ich die größte Mühe gehabt, ihn von der strikten Wahrheit meiner Angaben zu überzeugen. Ein Mal über das andere rief er: es kann nicht sein, es ist unmöglich! trotzdem ich, mich im Vestibül unter die Dienerschar mischend, die Identität der Personen konstatiert hatte. Auch dann noch quälte er sich und mich durch hundert Kreuzfragen, auf welche ich glücklicher- oder, ach! unglücklicherweise die Antworten bereit hatte und haben konnte, nachdem ich auf seine dringende Einladung und die Nennung der Personen hin, denen er durch meine Anwesenheit eine besondere Freude zu machen wünschte, meine Reisetagebücher durchgesehen und nun jedes der traurigen Fakta durch Angabe des Tages und der Stunde erhärten konnte. So mußte er mir denn wohl endlich glauben; und wir konnten zu der Frage übergehen, was von seiner Seite zu geschehen habe. Hier nun aber brauchte ich, wie ich vorher wußte, die Bitte um möglichste Schonung der Beteiligten nicht erst auszusprechen: der gütige Herr erklärte dieselbe unaufgefordert für absolute Notwendigkeit; auch daß Ihnen, als dem Chef der Familie, zukomme, die gestörte Ordnung in derjenigen Weise herzustellen, welche Ihnen nach Ihrer Einsicht in die einschlägigen Verhältnisse und die Charaktere der Betreffenden als die zweckmäßigste erscheinen dürfte. – Schreiben Sie ihm, sagte er, daß ich ihn bitte, daß ich ihn anflehe, von jeder allzuraschen Entscheidung, wie sie ihm sein loyales Gemüt diktieren möchte, abzusehen. Ein stilles Verschwinden der Schuldigen aus unsrer Gesellschaft auf einen möglichst plausiblen Vorwand hin – das wäre, was meinen Wünschen am meisten zusagen würde. – Dies die eigenen Worte unseres durchlauchtigen Gönners. – Ich, mein verehrungswürdiger Freund, mache diese Bitte, diese Wunsche ganz zu den meinigen. Das Geheimnis ist wohl bewahrt: der Fürst schreckt vor dem bloßen Gedanken einer persönlichen Einmischung zurück; meiner absoluten Diskretion sind Sie sicher; eine vorzeitige Entdeckung von andrer Seite ist so gut wie ausgeschlossen: 355 ich wiederhole meine bereits gestern geäußerte Ueberzeugung, daß, wenn mir nicht ein fast wunderbares Zusammentreffen sich einander ergänzender Zufälligkeiten das so geschickt gewobene Gespinst bloßgelegt hätte, die Wahrheit noch lange Zeit, vielleicht auf Jahre verhüllt geblieben sein könnte. Hat sich doch in München, wie ich ebenfalls bestimmt weiß, selbst der allerdings etwas phantastische König täuschen lassen, und dem »liebenswürdigen Rugier«, mit einer delikatesten Mission betraut, zu der man an solcher Stelle nur allerprobte Personen erwählt! Mit einem Worte: der verhängnisvolle Knoten ist sehr fest geschürzt; wie Sie ihn lösen wollen – es steht bei Ihnen. Und hier wollen Sie mir verstatten, zu Ihnen zu sprechen wie ein Freund zum Freunde, der ich mich auch wahrlich Ihnen gegenüber aus tiefstem Herzensgrunde fühle, trotzdem wir uns gestern zum erstenmale von Angesicht zu Angesicht gesehen haben – heißt doch, Sie sehen, Sie lieben! Lassen Sie, ich beschwöre Sie, den ungeheuren Schmerz, der Sie über die Unwürdigkeit eines doch geliebten Bruders erfaßt haben muß, und der sich nur allzudeutlich auf Ihren ernsten Zügen ausprägte – lassen Sie ihn nicht Herr werden in Ihrer empfindsamen Seele! Seien Sie demütig, das heißt: seien Sie stark in dem unerschütterlichen Glauben an die Allgüte dessen, der in seiner Weisheit auch diese Prüfung über Sie verhängte! Ich beschwöre Sie – ich fordre es von Ihnen, – ich, der ich Ihnen diesen Schmerz bereiten mußte, daß Sie die Kraft haben, diesen Schmerz zu tragen! Ich werde keinen Augenblick ruhig sein, bis Sie mir diese Versicherung geben. Lassen Sie mich also nicht darauf warten! Der Wagen, der mich nach Sundin an das Bett meiner schwer erkrankten Tante, von der ich mich so schmerzlich ungern getrennt habe, zurück führen soll, steht vor der Thür. Schreiben Sie mir dorthin; schreiben Sie mir bald! Und so, mein Freund, Gott befohlen! ihm, dem Allmächtigen und Allgütigen! ihm, dessen Wege dunkel sind, und der doch die, so an ihn glauben, zu dem rechten Ziele führen will.

In diesem unerschütterlichen Glauben Ihr für immer treuer

Carlo von Lilien.

356 Pfaffengewäsch! Heuchlerpack!

Er hatte den großen Bogen an beiden Enden gefaßt, ihn zu zerreißen und blieb so stehen: wenn er kam und den Brief haben wollte!

Wenn er kam – nun, dann war alles so wie so aus; dann war es gleichgültig, ob der Brief geöffnet war, oder nicht; zerrissen war oder nicht – das ging dann alles in einem hin.

Wenn er nicht kam – gar nicht wieder kam!

Er hatte noch einen Blick auf die letzten Zeilen des Briefes geworfen, den wieder zusammengefalteten in seine Brieftasche gesteckt und war mit zwei Schritten an dem Sekretär. Hatte er das Geld, das er vorgestern in Sundin erhalten, mitgenommen, war zehn gegen eins, daß er in Geschäften nach Bergen war; hatte er es zurückgelassen –

Da lag es in zwei großen Packeten, und ein paar einzelne Scheine und loses Geld – ein paar hundert Thaler – der Restbestand der Kasse, als er vorgestern abreiste!

Er hatte den Kasten wieder zugeschoben, die Klappe des Sekretärs niedergelassen, den Schlüssel abgezogen, und den Gewehrschrank, in dem der Schlüssel stak, geöffnet: die alte Büchse, die Büchsflinte, die beiden Doppelflinten, die lange einläufige Vogelflinte – die Riekmann hatte recht: es fehlte keines – die verschabte Jagdtasche, die beiden Pulverhörner, der Hirschfänger – es war alles da – alles – der Pistolenkasten –

Er hatte den kleinen braunen Kasten heraus genommen, geöffnet; ein Zittern durchfuhr ihn – von den beiden Pistolen fehlte die eine! Er führte den Ladestock in das Rohr; sie war geladen – die andere war es jedenfalls auch gewesen; er hatte nur eines von den Zündhütchen, die dabei lagen, aufzusetzen gebraucht, und noch ein paar in die Tasche gesteckt, im Falle das erste versagen sollte. Es war nicht sehr wahrscheinlich: die Pistolen, trotz des kleinen Kalibers, waren ganz vorzügliche Waffen: sie hatten hunderte von Malen allein oder in Gemeinschaft mit den anderen auf vierzig Schritt nach der Scheibe geschossen, und zum Schluß mußte Hans sein Kunststück machen, 357 das ihm nie mißglückte: die durchlöcherten Asse waren sprichwörtlich und eine gesuchte Merkwürdigkeit gewesen – einer zeigte sie dem andern, – Hinrich Salchow hatte einmal ein Dutzend zusammen gehabt –

Er stand am Fenster und starrte in den sonnendurchschienenen Garten, wo in den dünnlaubigen, verwahrlosten Obstbäumen die Spatzen zwitscherten, und über dem langen Grase auf den ausgedörrten Beeten und den Feuerlilien und den Sonnenblumen sich die weißen Schmetterlinge wiegten. Und dann war es eine totenstille grüne Dämmerung unter hochstämmigen Tannen; und am Fuße der einen in dem braunen Moose lag Hans langgestreckt, neben ihm die Pistole; und an seiner Schläfe über dem rechten Auge hingen ein paar halbgeronnene Blutstropfen; und das Auge starrte glanzlos in die totenstille grüne Dämmerung da oben –

Er fuhr sich über Stirn und Augen.

Das ist so, wenn man Phantasie hat. Da sieht man auch am Tage Gespenster. Was wissen diese Menschen, die keine Phantasie haben, von unsereinem! Sie haben gut ehrlich sein und zartfühlend und sittlich – Berechtigung des sittlichen Zorns! – albernes Gewäsch! sie sollten einmal in meiner Haut gesteckt haben, mit dem Hunger nach allem, was schön und reizend ist, und keinen Groschen in der Tasche – in fremdem Lande – mit nicht mehr Aussicht, davon zu kommen, wie ein verzappelnder Fisch im Netz. Gespinst der Lüge! Wenn ich den Schuft hier hätte, zwischen diesen meinen Händen, er sollte seine Worte fressen oder daran ersticken. Es kann kein anderer sein als der seekranke Schmachtlappen mit den blaßblauen Augen auf dem Schiff nach Neapel und hernach im Hafen von Tino. Und wer weiß, wo er noch sonst hinter uns her geschlichen ist – mir deucht, ich habe ihn auch in München wieder gesehen. Ein naiver Herr, der das Ding, das man Rache nennt, nicht zu kennen scheint; ich will es ihm lehren, dem salbadernden Hund, der so gemütvoll einen Bruder hinter den andern hetzt!

Und wenn seine fromme Epistel nun doch zu spät gekommen wäre; wenn Hans das Ding sich wirklich zu Herzen 358 genommen hätte – warum nicht? er hat Zeit seines Lebens alles so verzweifelt ernst genommen, hat sein lebenlang keinen Spaß verstanden. Und der Gedanke, mit mir ins Gericht gehen, mir die Thür weisen zu sollen, für immer sich von mir lossagen zu müssen – nein, das erträgt er nicht! Was hätte er denn auch sonst mit der Pistole gewollt? Es wird ein furchtbares Aufsehen machen; sie werden natürlich sagen, ich habe ihn in den Tod gejagt. Mögen sie dann sagen, was sie wollen! Ich kann doch nur froh sein, wenn ich mit der Bagage nichts mehr zu thun zu haben brauche. Ich verkaufe den Plunder hier und fange ein neues Leben irgendwo an, wo es schön ist, und die Herren Carlos noch nicht hin gekommen sind. Er hätte ja ebensogut inzwischen auf der Jagd verunglücken können, oder dergleichen; und ich war sein legitimer Rechtsnachfolger und Herr von Alten. und Neuen-Prohnitz. So eine empfindsame Seele ist nur ein Unglück anderer Art; was kann ich dafür? meinetwegen hätte er überhaupt nicht geboren zu werden brauchen; das wäre das einfachste gewesen.

Wie wird Hertha es nehmen?

Seine in wilden Wirbeln durcheinander zuckenden Gedanken versuchten, sich auf den einen Punkt zu richten, um den sich doch bisher alles für ihn gedreht hatte – es war vergebens.

Was sollte er thun?

Den Brief durfte er, eröffnet, nicht liegen lassen – das verstand sich von selbst. Die neugierige Riekmann würde ihn sofort lesen, und wer weiß noch. Er wollte ihn behalten. Kam Hans, ihm denselben abzufordern, so würde dies Konto mit den andern beglichen werden. Doch darüber war er schon vorhin mit sich einig gewesen.

Unter derselben Bedingung durfte er auch das Geld mitnehmen. Reklamierte es Hans – gut; im anderen Falle, wem gehörte es denn, wenn nicht ihm?

Er hatte den Sekretär wieder aufgeschlossen und die beiden Packete aus dem Kasten genommen; es mochten nach seiner flüchtigen Schätzung drei- bis viertausend Thaler sein – das stimmte mit der Summe, welche ihm Hans als wahrscheinlichen Erlös 359 für den Weizen genannt hatte. Das übrige Geld – es verlohnte sich nicht. Er steckte die Packete zu sich und schloß den Sekretär wieder zu.

Der Gewehrschrank stand noch offen. Es konnte ja auch anders kommen; es konnten Fälle eintreten, wo eine gute Waffe wünschenswert war – er hatte drüben nichts außer einem türkischen Dolchmesser – und die Pistole ließ sich bequem in der Tasche verbergen. – Und ein paar Zündhütchen!

So!

Er atmete tief auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn – kein Wunder: es war erdrückend heiß in dem kleinen Zimmer, in welches die grelle Mittagssonne hinein brannte.

Oder was war die Uhr? Erst elf? Sonderbar, ihm war, als hätte er ein Jahr in dem Zimmer verbracht!

Er ging in das Vorderzimmer und blickte auf den Hof, wo noch alles war wie vorhin; nur die Enten, denen der Schatten hinter dem Reisighaufen zu kurz geworden sein mochte, hatten es zur Abwechselung mit einem Bade auf dem kleinen Pfuhl mitten auf dem Hofe versucht und plätscherten und quakten in dem lauen schmutzigen Wasser.

Er trat vor das Haus, band sein Pferd los und war bereits aufgestiegen, als Frau Riekmann, die ihn von der Leuteküche aus bemerkt hatte, eilig herbei kam.

Sie wollen fort, Herr Baron? sagte sie. Ich wußte ja, daß Sie vergebens auf ihn warten würden.

Es ist in der That unbegreiflich, wo er so lange bleibt; erwiderte Gustav. Ich gestehe, es fängt nun auch an mich zu ängstigen. Ich habe im Geldschrank nachgesehen – er hat mir, wie Sie wissen, den zweiten Schlüssel gegeben – und das Weizen-Geld zu mir gesteckt. Es ist heute kein Mensch auf dem Hof, wenn Sie hernach das Mittagessen für die Leute hinaus fahren; und es läuft jetzt soviel Gesindel, das Arbeit sucht, im Lande herum.

Ja, ja, sagte Frau Riekmann; das ist mir auch ganz lieb, obgleich hier seit Jahren nichts passiert ist.

Sagen Sie es ihm, wenn er kommt; und auch, daß ich den 360 Brief mitgenommen habe. Oder er ist jetzt doch drüben; da kann er ihn gleich lesen.

Ach, du lieber Gott, wenn er doch man bloß da wäre! sagte Frau Riekmann, der bereits wieder die Thränen über die vom Küchenfeuer glühenden Backen liefen.

Wir wollen hoffen; ich komme sonst noch einmal im Laufe des Tages heran und sehe nach. Adieu unterdessen!

Er reichte der Frau vom Pferde herab die Hand, die sie mit einem Knix ergriff, nachdem sie vorher ihre eigene an der Schürze abgewischt hatte; und ritt langsam davon.

Frau Riekmann blickte ihm nach, bis er hinter der Scheune verschwunden war; machte sich dann wieder auf den Weg in ihre Küche, leise vor sich hin weinend und bei sich sprechend: Stut ist nicht recht klug: so gut wie uns' Herr – nein; aber schlecht ist er nicht und hat ihn rechtschaffen lieb. Er sah ja ganz verstört aus. Ach, du lieber Gott, nun glaub' ich aber sicher, daß da ein Unglück geschehen ist!


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