Friedrich Spielhagen
Uhlenhans
Friedrich Spielhagen

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67 Neuntes Kapitel.

Sie hatte sich, da die wankenden Kniee sie nicht mehr tragen wollten, auf den Divan fallen lassen, der die ganze Längsseite des Gemaches einnahm; auch Hans mußte das Stehen schwer werden, er hatte ebenfalls Platz genommen, aber einen breiten Raum zwischen sich und ihr gelassen. Und saß nun so da, vor sich nieder starrend, das immer schwermütige Antlitz bleich und verstört, während die mächtige Brust sich in tiefen, hörbaren Atemzügen hob und senkte. Er sprach nicht, weil er das Wort nicht fand, nach dem er suchte. Hertha, die ihre ganze Willensenergie zusammen nahm, um ihn anzusehen, wußte es wohl und hätte es gern laut gesagt, und zugleich das schreckliche Wort – es konnte ja nur eines sein: Er liebt mich nicht mehr. Aber sie vermochte nicht, es ihrem Stolze, der immer zorniger in ihr aufwallte, je länger dieses fürchterliche Schweigen währte, abzuringen. Und plötzlich kam ihr ein Gedanke, auf den sie seltsamerweise trotz alles schmerzlichen Grübelns dieser letzten Stunde nicht verfallen war, und der jetzt wie ein sonniger Rettungsstrahl in ihre umnachtete Seele leuchtete. Sie hob sich halb von ihrem Sitze und sagte mit einer Stimme, durch deren Zittern es wie Freude klang:

Er hat so lange geschwiegen, weil er sich schämte; es ist ihm schlecht ergangen, jammervoll – der Großpapa hat es immer gesagt – nun will er uns so nicht vor die Augen treten – um Gotteswillen, sag' es doch – ich kann's ja hören –

Der Hoffnungsstrahl war so jäh erloschen wie er aufgeflammt war; das bleiche kummervolle Antlitz, an dem ihr starrer 68 Blick hing, hatte sich nicht erhellt, hatte sich ihr nicht mit verständnisvollem Nicken zugewendet. Und jetzt schüttelte er den Kopf und sagte so dumpf vor sich hin:

Wäre er als der letzte Vagabund gekommen – ich habe auch wohl oft daran gedacht, aber es ist ihm nicht eigentlich schlecht ergangen – im Gegenteil! Das heißt, er hat auch wohl schlimme Tage erlebt, aber – nein, das ist nicht der Grund. Er hat nur so lange nicht geschrieben – sieh', Hertha, dies mein eines Auge gäbe ich freudig, könnte ich Dir's ersparen; aber wer soll's Dir sagen, wenn nicht ich? Vergiß den Treulosen! Du mußt es und wirst die Kraft dazu haben. Du hast keine Schuld – nur er, er, der Dich nie geliebt hat.

Sagt er das?

Mit flammenden Wangen und blitzenden Augen hatte es Hertha gerufen; er schüttelte wieder den Kopf und murmelte:

Wenn er Dich je geliebt hätte, wie hätte er Dich vergessen können!

Ein kurzes, lautes Lachen kam aus Herthas Munde.

Das ist lustig, sagte sie, der eine Bruder verrät mich und schickt den andern, der es mir beibringen soll mit einer schönen Phrase. Wie hätte er Dich vergessen können – ist sehr schön. Ich mache Dir mein Kompliment.

Sie war aufgesprungen und schritt hin und her; Hans, der nicht emporzublicken wagte, hörte nur das Knistern ihres Kleides und das stoßweise, mit emporschwellendem Weinen kämpfende Atmen. Wie unglücklich sie war, so jammervoll wie ihm konnte ihr nicht zu Mute sein, der diese Qual mit ansehen, ihr diese Qual bereiten mußte, während sein Herz in ihm schrie: Ich liebe dich, ich liebe dich grenzenlos und würde mein Leben geben, dürfte ich dich nur einmal an meine Brust drücken, nur den Saum deines Kleides küssen, wie du jetzt an mir vorüber streifst! – Und hatte ihr ja noch gar nicht einmal gesagt, wie ausgesucht die Kränkung war, die sie erwartete: nichts von der jungen, schönen Frau, die nun an ihre Stelle getreten war, von dem lieblichen, dunkeläugigen Kinde – nein, er konnte es ihr nicht sagen, er hatte eine zu schwere Last auf sich geladen. Es 69 war übergenug für heute. Morgen würde er mehr Mut haben, oder es würde ihm doch nicht so dumpf im Kopfe sein – morgen –

In dem Augenblicke, wo Hans sich erheben wollte, hatte sich Hertha, die eben wieder an ihm vorübergestreift war, plötzlich umgekehrt und stand dicht vor ihm.

Er kommt nicht allein?

Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es Hans. Wie hatte sie das so schnell herausgebracht?

Nein! sagte er.

Es war ihm aber, als ob es jemand am andern Ende des Zimmers gesagt habe, während ihm die Ohren klangen und die Wangen brannten, und er nur den einen Wunsch hatte, daß ihn ein Abgrund verschlingen möchte.

Ist sie schön?

Jetzt sagte die Stimme am Ende des Zimmers: Ja. Vor seinem halb geschlossenen Auge aber sah er ganz deutlich die schöne Fremde, wie sie das weinende Kind, das die Alte aus der Kammer nebenan hergebracht hatte, an die zarte Brust legte und es trinken ließ, ganz als ob sie allein wäre. Er hatte nicht gewußt, wohin er die Augen wenden sollte; und dann hatte er sich nur noch geschämt, daß ihn solche Regung überkommen, und was er da sah – die junge Mutter mit dem Kinde – als etwas Heiliges empfunden und als etwas, an das niemand rühren dürfe, und er am wenigsten; ja, das er schützen müsse – schutzlos, wie sie da waren, die junge Mutter und ihr Kind – so weit von der Heimat, von den Verwandten, an der Seite des wilden, unbedachten Menschen, der es von jeher mit allen seinen Pflichten so leicht genommen.

Wie das alles nun wieder durch seine Seele ging, war es, als wenn frische, kräftige Luft von draußen einen in dumpfer Stube fast Erstickenden anweht. Er konnte wieder aufblicken. Und als er jetzt zu sprechen anfing, war es nicht mehr die fremde, bleierne Stimme am anderen Ende des Zimmers, sondern seine eigene, die wohl recht traurig klang und auch manchmal stockte, aber doch nicht ganz versagte, während er nun 70 erzählte, was ihm der Bruder erzählt vor zwei Stunden in dem Dunkel seiner Stube drüben in Neuen-Prohnitz. Eine wundersame Geschichte: wie Gustav nach so langem, ziellosem Umherschweifen, endlich von Reue über seine Thatenlosigkeit erfaßt, einen alten Traum zu verwirklichen beschlossen und sich nach Griechenland eingeschifft habe, an dem Freiheitskampfe teilzunehmen. Wie er dort zwar bereits den jungen Bayernprinzen Otto als minderjährigen König vorgefunden, sonst aber das unglückselige Land zerrissen von wütenden Parteikämpfen. Und habe sich nun in diesen Kampf geworfen, an der Seite des größten Griechenhelden, des Fürsten Theodor Kolokotronis, dessen Sache, die er für die gerechte gehalten, er mit Leidenschaft zu der seinigen gemacht. Bis in einer grausigen Nacht das Bergschloß des greisen Helden von den Regierungstruppen unter entsetzlichem Blutvergießen gestürmt, der Held selbst mit den meisten seiner Verwandten zu Gefangenen gemacht worden sei, während es ihm gelungen, durch brennende Trümmer, über Leichenhaufen zu entfliehen. Nicht allein. Im letzten Augenblicke habe ihm der Greis, der ihn wie einen Sohn geliebt, seine jugendliche, einzige Tochter anvertraut, die er – Gustav – jetzt zum erstenmale gesehen. Unter tausend Gefahren sei es ihm gelungen, seine Schutzbefohlene und die alte Amme derselben, welche sie auf der Flucht begleitet, aus Griechenland, wo man ihnen auf allen Wegen und Stegen aufgelauert, zu retten hinüber nach Italien. Und als auch dort das entflohene Fürstenkind vor den Nachstellungen der wütenden Feinde nicht sicher gewesen – da habe er, um diesen Feinden die Spitze bieten zu können und sein dem Vater gegebenes Wort einzulösen – gerührt von der Unschuld, der Verlassenheit der jungen Prinzessin, hingerissen auch von der Liebe, die er, wider seinen Willen, in ihr erweckt – sich mit ihr vermählt. Nach vielfachem Umherirren in beständigem harten Kampfe mit den mißlichsten Verhältnissen sei er endlich nach München gelangt, wo er, noch immer bedroht von der Rache der in Griechenland siegreichen Partei – zu welcher auch ein Verwandter der Kolokotronis gehört, der sich auf die Hand der Tochter Hoffnung 71 gemacht – zuerst in tiefer Verborgenheit, dann im rauschenden Leben des Hofes, zu dem er sich Zutritt zu verschaffen gewußt, fast ein Jahr verbracht habe, beständig für die Befreiung des eingekerkerten Vaters seiner jungen Gattin wirkend, bis er, einem Wunsche des bayerischen Königs zu genügen, der ein persönliches Gefallen an ihm gefunden und ihm, zum Trotze der ihm feindlichen Hofleute, eine geheime Mission an den Oldenburger Hof anvertraut, mit der Gattin und dem ein paar Monate alten Kinde das ihm lieb gewordene Asyl vor acht Tagen verließ und sich hierher in die Heimat wendete.

Es war nur eine dürftige Skizze, die Hans von dem allen geben konnte. Er hatte in Gustavs Erzählung, die sich fortwährend in Verhältnissen bewegte, welche ihm bis dahin völlig fremd gewesen waren, vieles nicht verstanden, vieles in der Dumpfheit seines Geistes nur halb gehört oder überhört. Auch waren ihm wichtige Punkte, die ihm vorhin eingeleuchtet hatten, inzwischen wieder unklar geworden; bei anderen, die ihm selbst erst jetzt bei der Wiedererzählung wichtig wurden, mußte er sich sagen, daß es wohl an Gustavs Darstellung liege, wenn ihm selbst dieselben jetzt rätselhaft erschienen. Und was er auch sagen mochte, und wie er es sagen mochte – das eine, das Furchtbare blieb: der Verrat an ihr, die den Abenteurer geliebt, die drei Jahre lang auf seine Rückkehr geharrt; und der nun er, der sie von Anfang an tausendmal besser geliebt, als der Treulose, das alles zu erzählen, mit jedem Worte, das er so sprach, einen Stich ins Herz zu thun verdammt war!

Immer schwerer senkte sich der Druck dieser schauderhaften Empfindung auf seine Seele; seine Worte begannen sich zu verwirren, er machte noch einen verzweifelten Versuch, fortzufahren, und brach dann mitten in dem angefangenen Satze ab.

Aber noch schauderhafter deuchte ihm die Stille, die nun folgte. Hertha saß etwas entfernt von ihm auf dem Divan in derselben Stellung, die sie während seiner Erzählung nicht einmal gewechselt, vornüber gebeugt, den Kopf in die Hand gestützt. Plötzlich zuckte sie empor und blickte nach der Thür, die auf den Korridor führte. Und jetzt vernahm auch er durch das 72 Rauschen des Windes in den Parkbäumen und das leise Trommeln des Regens gegen die Scheiben das dumpfe Rollen des Wagens, der die Großeltern aus der Gesellschaft brachte. Die Hufe der Pferde klapperten auf der Rampe. Der Wagen hielt, die Hausthür wurde geöffnet; ein Geräusch von Stimmen, aus denen die ärgerliche des Großvaters vernehmlicher hervortönte; dann ging es die Treppe hinauf. Noch das Klappen von ein paar Thüren, das Rollen des abfahrenden Wagens und wieder die Stille von vorhin.

Hans hatte den Blick nicht von dem bleichen, nach der Thür starrenden Gesicht verwandt. Er wußte nur zu gut in den geliebten Zügen zu lesen, als hätte sie alles, was durch ihre Seele ging, laut gesprochen: wie soll ich morgen vor sie treten, die mir in ihrer Weise zu meinem Glücke verhelfen wollten? Für mich sich seit Monden gemüht haben? Alles vorbereitet hatten, daß ich ihnen nur zu folgen, nur die Hand zu reichen brauchte, die – ich gereicht haben würde, wäre der da nicht dazwischen getreten, der Bruder des Verräters, um mir ein paar Stunden später zu sagen: du bist betrogen, und ich bin es, der dich hat betrügen helfen!

Hans drückte das Gesicht in die Hände und fuhr dann jäh empor vor dem Heulen eines Windstoßes, der vom Park her gegen das Haus stieß, daß es in seinen Grundfesten erzitterte, während ein klatschender Regenguß auf die klappernden Fenster schlug. Sein erster Blick war nach Hertha gewesen, aber der Platz, wo sie gesessen, war leer. Sie stand an der Fensterthür und schien in das nächtliche Graus zu blicken. Plötzlich hatte sie die Thür aufgerissen und war hinaus. Im Nu hatte Hans die Länge des Gemaches durchmessen und stand draußen an der breiten Plattform der Freitreppe, verzweiflungsvoll in die rabenschwarze Finsternis starrend und dann mit einem Satze die Treppe hinabspringend, als er am Fuße derselben ein etwas Helleres sah, das parkwärts glitt und bereits im Dunkel verschwinden wollte. Und jetzt hatte er die Fliehende ergriffen, umfaßt, emporgehoben, die Treppe hinauf in den Saal zurückgetragen, auf den Divan niedergelegt, die Thür geschlossen, 73 bevor auch noch das letzte Licht auf dem Armleuchter erlosch. Dann war er wieder bei ihr, die halb ohnmächtig in die Kissen zurückgelehnt lag, an ihrer Seite knieend, nicht wagend, auch nur die schlanken Fingerspitzen der geliebten Gestalt zu berühren, nur immer in das bleiche Antlitz starrend, meinend, es sei ja besser für sie und für ihn, wenn die langen, schmerzhaft zuckenden Wimpern über den festgeschlossenen Augen sich nie wieder heben möchten, und doch voll wonnigen Dankgefühls, als nun in den vielgeliebten Augen ein unsicheres Licht aufflackerte, um alsbald wieder hinter einem feuchten Schleier zu verlöschen.

Warum willst Du mich nicht sterben lassen, Hans?

Weil ich nicht leben kann ohne Dich.

Ein tödlicher Schrecken fuhr ihm durch Mark und Bein, als er sich bewußt wurde, daß er es laut gesagt, daß sie es gehört, verstanden hatte. Denn von ihren Augen war plötzlich der feuchte Schleier fortgezogen, und die großen, seltsam glänzenden schauten auf ihn mit einem Blicke, vor dem er hätte in die Erde sinken mögen.

Ein dumpfes Stöhnen rang sich aus der Brust des Gefolterten. Mit Aufbieten seiner ganzen Kraft hob er sich von den Knieen und taumelte rückwärts gegen den Tisch, an dem er sich festhielt, um nicht zusammenzubrechen.

Sind so Sekunden oder Minuten vergangen – er weiß es nicht. Er fühlt nur, daß die seltsame Schwäche, die er in seinem Leben nicht empfunden, vorüber geht. Es wird ihn schon noch aus dem Zimmer tragen. Gesenkten Hauptes, ohne die Augen vom Boden zu erheben, schreitet er langsam nach der Thür.

Fast schon hat er sie erreicht, als er ein Geräusch hinter sich vernimmt, und es alsbald an ihm vorbeigleitet und vor ihm ist. Es stockt sein Fuß, er hebt die Augen nur so weit, daß er mit einem flehenden Blick ihr in die Augen sehen kann: laß mich fort um Gottes Barmherzigkeit! Und, barmherziger Gott, was ist das! Ihre Augen flammen nicht in Zorn und Hohn, sie schimmern von einem milden, gütigen Licht –

74 Hans.

Das Herz steht ihm still in der Brust, als er jetzt ihre beiden Hände auf seinen Schultern fühlt.

Hans, Du kannst nicht leben ohne mich, so laß mich denn von jetzt an für Dich leben, nur für Dich – als Deine verlobte Braut – Dein Weib – morgen – wann Du willst – so wahr mir Gott helfe, Dir helfe – uns beiden – Du guter Hans!

Haben ihre Hände, hinauf gleitend, sich um seinen Nacken geschlungen – hat er die süße Gestalt in den Armen gehalten – die schwebende, ätherische Wonne ihres Kusses auf seinen Lippen gefühlt – ist alles nur ein Traum des Paradieses gewesen – Hans weiß es nicht, als er jetzt dasteht, allein, während auf der Thür, durch die sie entschwunden, im Flackerlicht der letzten Kerze sein Schatten auf und nieder schwankt.

Die Kerze ist erloschen, dichtes Dunkel umgibt ihn. Er tappt zum Zimmer, zum Hause hinaus, auf dem einsamen Wege heimwärts durch die sternenlose, sausende Nacht, nichts fühlend vom Regen und Sturm, umgeistet von dem seligen Augenblicke, aus tiefster Seele betend, daß, war es ein Traum, kein neuer Tag ihm schauderhaftes Erwachen bringe; war es Wirklichkeit, der neue Tag ihm die Kraft geben möge, unter einer Seligkeit nicht zu erliegen, die ihm viel zu groß deucht für ein armes, treues Menschenherz.


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