Friedrich Spielhagen
Uhlenhans
Friedrich Spielhagen

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271 Neunundzwanzigstes Kapitel.

In der That hatte sich mittlerweile alle Welt in der Ueberzeugung geeinigt, daß dies ein Fest zu Ehren der schönen jungen Griechin sei, der dann also auch der Platz zur Rechten des Fürsten zukam, während sich die Gräfin Krossow, die vornehmste Dame der Gesellschaft nach der fürstlichen Wirtin, mit dem zu seiner Linken begnügen mußte. Auch daß der Kammerherr von Lindblad zu der fürstlichen Tafel gezogen wurde, ja auch die Gräfin Krossow hatte führen dürfen, während Frau von Lindblad dem Grafen Krossow an die Tafel der Fürstin folgte, war eine allerdings sehr große Auszeichnung, die man, da sie nicht den Personen als solchen, sondern nur den Großschwiegereltern der griechischen Fürstentochter zu teil wurde, ausnahmsweise gelten ließ. Und weiter hatte sich dann auch die Rücksicht, welche man auf die Familie nahm, nicht erstreckt. Der junge Gatte selbst und Fräulein Hertha von Prohn hatten, wie alle übrigen, die nicht zu den Auserwählten gehörten, sich ihre Plätze an einer der kleinen Tafeln suchen müssen, von denen nur noch zwei in dem Hauptsaale, die übrigen in den Nebenräumen gedeckt waren, und es war gewiß kein Zufall, daß Baron Gustav seine Kousine geführt hatte. War doch ihr Bräutigam, wie einige vorausgesagt hatten, wirklich nicht gekommen! da mußte denn, wohl oder übel, der jüngere Bruder für den älteren eintreten, obgleich er es gewiß lieber nicht gethan hätte in anbetracht des Verhältnisses, in welchem er notorisch jahrelang mit seiner Kousine gestanden. Oder wollte er gar geflissentlich zeigen, daß zwischen ihnen alles ausgeglichen und die Harmonie in der Familie vollkommen hergestellt sei? Möglich war es schon; nur konnte man leider mit 272 derselben oder noch größeren Wahrscheinlichkeit auf einen anderen Schluß kommen, der freilich die behauptete entente cordiale zwischen Gustav und Hertha nicht alterierte – im Gegenteil!

So behauptete wenigstens Axel, der mit seiner Dame, der Komtesse Ulrike Uselin, und seinen speziellen Freunden und deren Damen an einem Tisch zu sitzen gekommen war, von dem aus man gerade die Ecke des Tisches im Nebenkabinett, an welcher Gustav und Hertha saßen, sehen konnte. Freilich war er in einer sehr gereizten Stimmung, deren Veranlassung sein Busenfreund, Hinrich Malchow, nur zu gut kannte. Axel hatte – wie ein Schneekönig, nach seiner eigenen Phrase – sich auf die Gesellschaft gefreut, welche ihm die herrlichste Gelegenheit geben würde, der Angebeteten seines Herzens, der göttlichen, unvergleichlichen Isäa, seine Huldigung zum anderen Male darzubringen in den entzückendsten Tête-à-têtes, die herbeiführen zu helfen, nötigenfalls zu überwachen, sein Pylades eingeschworen war. Aber mit dieser Freude war es – wiederum nach Axels eigenem Ausdruck – reiner Essig. Nicht drei Worte hatte er – und das auch nur im ersten Anlauf – mit ihr sprechen können, während sie ihm hernach unnahbar gewesen war. Wahrhaftig ohne Hinrichs Schuld! Was konnte er thun, wenn sich alle Welt zu Isäa drängte? der Fürst noch immer wieder einen und den anderen herbeiführte, ihm die Bekanntschaft mit der Göttlichen zu vermitteln, die er zuletzt kaum noch von seinem Arm ließ? Es war doch die schnödeste Ungerechtigkeit von seiten Axels, ihm aus Dingen einen Vorwurf zu machen, für die oder gegen die er doch so wenig konnte wie Axel selbst. Sollte er der Gräfin Haselow, die mit ihrem ungeheuerlichen Französisch eine Viertelstunde lang auf Isäa einredete, den zahnlosen Mund verbieten? oder den Fürsten beim Arm nehmen und sagen: nun machen Durchlaucht gefälligst einmal meinem Freunde Axel Platz? oder endlich, hätte er den Blitz abwenden können, der plötzlich aus dem umwölkten Himmel auf das Haupt des so schon verzweifelten Freundes herabzuckte, als vor einer halben Stunde ihn sein Vater heranwinkte und ihm mit einer Stimme, die man 273 über den halben Saal hörte, befahl, Komtesse Ulrike Uselin zu Tisch zu führen? Weiß Gott, das war denn doch nicht das Schlimmste, was einem Menschen passieren konnte! und wenn Axel sofort einwandte: er wisse, was der Befehl zu bedeuten habe, seitdem er vorhin seinen Alten in eifrigem Zwiegespräch mit der Baronin Nadelitz, der Erzkupplerin und Busenfreundin der Uselins, gesehen – nun, mein Gott, erstens war noch nicht aller Tage Abend, und, sollten die beiderseitigen Alten sich über ein längst geplantes Projekt durch Vermittlung der Baronin wirklich geeinigt haben – heiraten mußte Axel jetzt, nachdem er sich von Hertha Prohn einen Korb unter den erschwerendsten Umständen geholt – das konnte jedes Kind begreifen, und begriff und wußte Axel selbst recht gut, trotz seiner großen neuesten Leidenschaft. Dann aber war die schöne Ulrike, die eine halbe Million zur Mitgift bekam, doch wahrhaftig die geeignetste Partie. Ihre fünfundzwanzig Jahre bürgten dafür, daß sie endlich mit ihren dutzendweis ausgeteilten Körben aufgeräumt haben würde; und, wenn sie geschworen hatte, keinen Mann unter sechs Fuß zu heiraten – nun, Axel maß sechs Fuß zwei Zoll in den Schuhen und also noch immer zwei Zoll mehr als seine Zukünftige. Das alles hatte er dem Freunde vorgestellt und zu beherzigen gebeten; und nun saß der Unglücksmensch, seiner schönen Nachbarin den langen Rücken zuwendend, ein Glas Champagner über das andere hinunterstürzend und Reden führend, die er wahrhaftig am allerwenigsten hätte führen dürfen! Vergebens, daß er ihm über den Tisch herüber Zeichen auf Zeichen machte, ihm sogar bereits unter dem Tisch ein derbes Memento gegeben, das eine Reaktion auf demselben verdeckten Wege zur Folge hatte, für die er von jedem anderen blutige Genugthuung gefordert haben würde – Axel wollte keine Vernunft annehmen; er mußte einen letzten Versuch machen.

Ich weiß gar nicht, was Du willst, Axel; rief er. Die beiden Prohns stehen so gut miteinander, wie sie nur je gestanden haben, und Hans hat mir selbst vorgestern gesagt, wie leid es ihm thue, daß er gerade heute nach Sundin müsse. Aber er 274 habe es Livonius fest versprochen; und Du weißt, wenn Hans einmal etwas versprochen hat, so hält er es.

Oder auch nicht, rief Axel; ich habe zufällig ganz kürzlich – gestern erst – das Gegenteil davon erfahren. Aber das nebenbei: Im übrigen behaupte ich noch einmal: sie stehen mit einander wie Hund und Katze. Das muß ich doch wissen!

Weil Du täglich dort verkehrst? aber, ich meine, das sollte gerade für Dich ein Grund sein, über Deine Freunde milder zu urteilen.

Danke für die Belehrung! Uebrigens ist das doch nicht so schlimm, was ich gesagt habe. Ich kenne ein halbes Schock Brüder, die wie Hund und Katze miteinander stehen, und nicht so viel Ursache dazu haben, wie die Prohns.

Ich bestreite eben, daß sie irgend eine Ursache haben.

Bestreiten kann man alles.

Behaupten auch.

Ich behaupte aber nichts, was ich nicht beweisen kann.

Wenn Behauptungen und Beweise ein und dasselbe sind.

Verlange ich gar nicht; ich verlange bloß, daß ich mich auf meine Augen und Ohren verlassen darf. Na, und die haben gestern Morgen auf unserer Fahrt im Wüsteneier Holz genug zu sehen und zu hören bekommen.

Davon wissen wir ja noch gar nichts! rief Ernst Krewe.

Was gab es denn da? fragte Karl Dumsewitz eifrig.

Einen Hauptspaß, sagte Axel; und gab eine Erzählung der Abenteuer im Walde zum besten, wonach er und Isäa sich verirrt hätten, um nach einer Stunde Gustav und Hertha im traulichsten tête-à-tête zu finden, im dichtesten Walde – tausend Schritte von dem Rendezvousplatz, den Gustav, wäre er bei dem Wagen geblieben, gar nicht hätte verlassen dürfen, und auf dem Hertha, die jeden Schritt im Walde kenne, bereits seit einer halben Stunde hätte angelangt sein müssen. Er frage die Herrschaften, ob das ein Beweis sei oder nicht?

In meinen Augen nicht, sagte Ulrike Uselin.

Nicht, gnädigste Komtesse? rief Axel, der Dame zum erstenmale seit langer Zeit wieder das Gesicht zuwendend. Warum nicht, wenn ich fragen darf.

Darum nicht; erwiderte Ulrike, dem Frager gerade in die Augen sehend, weil, was dem einen recht, dem anderen billig ist. Wenn es kein Zufall sein soll, – wie mir doch nach allem der Fall zu sein scheint – daß Baron Gustav und Hertha sich fanden, weshalb ist es denn einer, daß Sie und die Baronin sich verirrten – und gleich auf eine Stunde!

Bravo! rief Ernst Krewe.

Da hast Du's! sagte Albert Salchow.

Auf eine Stunde! ist sehr gut! rief Karl Dumsewitz.

Sie hat doch noch einen Korb auszuteilen, und den kriegt Freund Axel, wenn er um sie anzuhalten gezwungen ist; dachte Hinrich, während alle lachten, Axel wütende Blicke um sich warf, und mit denselben sogar die schöne Ulrike nicht verschonte, die völlig ernsthaft geblieben war und so fortfuhr:

Dann schlage ich noch vor, daß der schwarze Mann, vor dem der Graf sich so tapfer zurückgezogen hat, nichts anderes als sein schlechtes Gewissen in Person gewesen ist.

Axel wurde blaß vor Zorn: selbst Hinrich hatte in das allgemeine Gelächter mit eingestimmt. Als ob der arme Hinrich nicht hätte lachen sollen, wenn Emilie Krewe, die er zu Tische geführt, und deren Verhältnis zu ihm Axel doch am besten kannte, zur Illustration des kapitalen Witzes ihrer Freundin, einen aus ihrer Serviette in der Eile geknoteten Hampelmann auf ihren zarten Fingern balancieren ließ!

Du siehst, Axel, wie man in den Wald ruft, schallt die Antwort. Du hast Deine Freunde in die Nesseln gesetzt, und darfst Dich nicht wundern, wenn Deine Freunde Dich nicht auf Rosen betten. Indessen, meine Damen und Herren, mit dem schwarzen Mann hat es doch wohl noch eine andere Bewandtnis. So meinte wenigstens Baron von Kieritz, unser neuer Steuerrat aus Sundin – der dürre Herr, gnädige Komtesse, nach dem Sie mich gleich im Anfang fragten – ich war ihm noch nicht vorgestellt – er ist mit dem Präsidenten zusammen gekommen – also er meinte, als ich zufällig vorhin der fraglichen Erscheinung 276 gegen ihn Erwähnung that, der Kerl könne leicht ein Schmuggler gewesen sein; er habe zu dieser Vermutung seine besonderen Gründe, die er mir nicht wohl mitteilen könne; machte dann aber doch noch ein paar Andeutungen, aus denen mir hervorzugehen schien, daß man gerade hier auf unsern Winkel ein scharfes Augenmerk hat und etwas Besonderes im Werke ist.

Ach was, sagte Karl Dumsewitz: er soll uns nur ungeschoren lassen! Daß wir lieber unverzollten guten Rotspon trinken, anstatt verzollten schlechten, kann er uns doch nicht übelnehmen.

Es scheint doch; erwiderte Hinrich.

Neue Besen! brummte Albert Salchow.

Die sich bald genug stumpf gefegt haben werden; rief Hinrich, froh, die Unterhaltung endlich auf ein unverfängliches Thema gebracht zu haben, zu dem noch dazu jeder der Herren aus seiner speziellen Erfahrung etwas beitragen konnte, und an dem selbst die Damen ein Interesse nahmen, eingedenk jener Handelsleute, die gelegentlich oder auch regelmäßig mit schönen Samt- und Seidenstoffen und allerlei Toilettenartikeln auf den einsamen Gütern erschienen; und von denen keiner wußte oder wissen wollte, woher sie kamen und wohin sie gingen. Aber auch dieser ausgiebige Stoff wurde allmählich erschöpft, ohne daß sich ein passender neuer bieten wollte. Man wußte, daß aus Rücksicht auf die schöne Griechin, die in Schwarz und Perlen um das ungewisse Schicksal ihres gefangenen Vaters trauerte, heute nicht getanzt werden sollte. Dennoch zog sich das Souper in eine, selbst in anbetracht dieses Umstandes, ganz ungewöhnliche Länge, die allgemein auffiel.

Auch von Gustav wurde die seltsam lange Dauer der Tafel empfunden, für ihn ein zweifelhaftes Glück, welches er bis auf den letzten schmerzlich süßen Tropfen auskosten wollte. Wußte er doch nur zu gut, daß ihm nur der Augenblick gehörte, und schon im nächsten die Karte umschlagen konnte, auf die er jetzt, einem wahnsinnigen Spieler gleich, Einsatz auf Einsatz häufte, um alles zu gewinnen oder alles zu verlieren.

Einsatz auf Einsatz, mit denen er gar nicht mehr rechnete, die er blindlings machte, seitdem er gestern den größten gewagt: 277 die ungeheure Lüge von der Unwürdigkeit des Bruders – die tollkühne Lüge, welche zusammenfallen mußte, wie ein Kartenhaus vor einem Hauch: bei dem ersten Worte, das zwischen Hans und Hertha gewechselt wurde. Und – das Kartenhaus stand noch! – nachdem darüber der Tag vergangen und die Nacht und abermals ein Tag, und nun auch sicher die nächste Nacht vergehen würde! Was war unmöglich, wenn solche Wunder geschahen! dann mochte auch geschehen und Wahrheit werden, was seiner Phantasie als das Einzige vorschwebte, um dessen willen es sich zu leben verlohnte: des Lebens Inhalt und Quintessenz, im Vergleich wozu alles sonst schal und leer und nicht wesenhafter war wie Schattenspiel an der Wand! Schatten, nichts als Schatten diese geputzten Damen und Herren, die sich da seit ein paar Stunden um ihn herum bewegten, grimassierend, sich verbeugend, knixend, die parfümierte Luft mit dem Schall nichtiger Worte erschütternd! durch die er selbst sich bewegt hatte, scherzend, er wußte nicht worüber, lachend, er wußte nicht warum; nur immer sie mit heißen Blicken suchend, die ihm jetzt in einem Knäuel der geputzten Schatten verschwand, und dort wieder auftauchte, wie ein Stern, um abermals zu verschwinden, bis es ihm endlich gelang, an ihr vorüber zu streifen, mit der Bewegung nur der Lippen, mit den Augen ihr zu sagen, daß sie viel tausendmal schöner sei, als die gefeierte Königin der Schattenkomödie! Sollte er dem Herrn Steuerrat, der seine Ansicht über die voraussichtliche Handelspolitik des jungen Königreiches zu vernehmen wünschte; dem Grafen Krossow, der ihn die in der Gesellschaft aufgeworfene Streitfrage, ob Fürst Kolokotronis in Nauplia oder in Palamidi gefangen säße, zu entscheiden bat; der Baronin Nadelitz, die ihn über die sonstigen Familienverhältnisse seiner Frau Gemahlin auszuforschen suchte – sollte er ihnen allen ins Gesicht lachen? sollte er mitten in den Saal treten und sagen: meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, Ihnen mitzuteilen, daß ich Sie, wie Sie da sind, an Ihren durchlauchtigen, gräflichen und freiherrlichen Nasen führe, sintemalen an der ganzen Geschichte, die Sie nun bereits seit zwei Stunden mit einem solchen Aufwand von Unwissenheit und 278 Wichtigthuerei unermüdlich ventilieren, kein wahres Wort ist, mit alleiniger Ausnahme der zufälligen Identität des Namens der Titelheldin der Komödie mit dem des griechischen Nationalhelden, von dessen Existenz, Thaten und Schicksalen vier Fünftel von euch vor heute Abend keine Ahnung gehabt haben, obgleich ihr jetzt alle euch gebärdet, als stehe und falle eure durchlauchtige, gräfliche und freiherrliche Existenz mit ihm?

Und während er sich in toller Laune den panischen Schrecken ausmalte, der alle dabei erfassen würde, hefteten sich seine starren Blicke wieder auf die große Eingangsthür des Saales, und es rieselte ihm kalt durch die Adern bei dem Gedanken, sie könne sich öffnen, und Hans herein treten, und die Erklärung zwischen ihm und Hertha noch heute Abend stattfinden. Was waren alle Schrecken der Entdeckung der gesellschaftlichen Lüge, in die er sich verstrickt, und die freilich Dimensionen angenommen, an welche er nie zuvor gedacht, gegen die Angst, es werde die Bruder-Lüge an den Tag kommen, bevor – ja, bevor was denn geschehen? irgend etwas, ein Wunder, das ihm die Geliebte zu eigen gab, und mochte dann die Welt zu Grunde gehen! Wenn er ihr nun jene andere Lüge bekannte? und daß er sich nur ihrethalben zum Gatten einer Fürstentochter geschwindelt, weil er es nicht habe ertragen können, als ein glückloser Abenteurer vor ihr zu erscheinen? ihr sagen zu müssen, um diese hier, die Tochter eines Piraten, der am Galgen enden wird, habe ich dich verraten! Wirst du mir verzeihen, was ich so aus Scham, die doch wieder nur die unzerstörbare Liebe zu dir in anderer Gestalt ist, gethan? Du mußt es, wenn du mich liebst; und mir die Beschämung ersparen, die mir jede Stunde bringen kann; und dein Los mit dem meinen vereinen, du, die du auch jetzt nichts mehr hier zu verlieren hast und hinaus willst in die weite Welt, die uns beiden vom Glück Verstoßenen, Heimatlosen eine Stätte bieten wird, wo wir uns lieben dürfen mit einer Liebe, von der dies vornehm thuende, engherzige Gesindel keine Ahnung hat, und um die uns die Engel im Himmel, wenn es welche gäbe, beneiden würden.

Seit gestern wälzte er diese wahnsinnigen Gedanken in 279 seiner Seele, die, so oft sie sich ihm auf die Zunge drängten und Ausdruck gewinnen wollten, immer wieder zum klopfenden Herzen zurück krochen. Auch jetzt, während er an ihrer Seite saß und in ihren Augen zu lesen suchte, ob er es wagen dürfe. Aber ihre Augen waren und blieben düster, wie verschleiert, auch wenn sie einmal ein gelegentliches Wort in die lässig geführte allgemeine Unterhaltung warf, oder mit etwas zur Seite geneigtem Haupte schweigend auf seine leise Rede hörte. Hörte sie ihn wirklich? Gustav fragte es sich mehr als einmal. Und was barg der Schleier über den starren, geliebten Augen? Wär's Liebe gewesen – ein Etwas nur von der Glut, die in seinem Herzen brannte – er hätte sich doch einmal heben müssen, ihn doch ein Strahl treffen müssen, an dem sich sein sinkender Mut entzünden konnte. Und die Tafel ging zu Ende, mußte zu Ende gehen. Er wünschte es jetzt fast selbst, während er Glas auf Glas hinunter stürzte, sich den Druck von dem Herzen weg zu trinken, und sich ein Mal über das andre einen erbärmlichen Feigling schalt, daß er diese Qual dulde, um dann wieder den Zorn gegen sich selbst in eifersüchtiger Wut gegen sie zu wenden, die ihn diese Qual nicht würde erdulden lassen, wenn sie sich wirklich ganz von dem anderen frei gemacht hätte, und nicht vielmehr das Band, das sie an jenen gefesselt und das sie zerrissen glaubte, ihr teurer gewesen wäre, als sie selber geahnt und gewußt.

Und nun, als er mit einer letzten machtvollen Anstrengung den Sturm und Wirbel in seinem Kopf und Herzen niedergekämpft und ihr sagen wollte – in Worten, die ihm der Augenblick eingeben sollte – daß sie den Mut haben müsse, sich zu ihrer Liebe zu bekennen, wenn sie ihn denn doch einmal liebe; und weiter den Mut, zu thun, was dann gethan werden müsse, damit sie fortan dieser ihrer Liebe leben könnten – verstummte plötzlich das gerade eben lebhaft geführte Gespräch der übrigen Gäste an ihrem Tisch, verstummten die Gespräche an den Nachbartischen in demselben Zimmer, in den anderen Zimmern, vor einer Stimme, die im Tone eines Redners sich von dem Salon, in welchem die Durchlauchtigsten Herrschaften mit den 280 Ehrengästen saßen, und der die Reihe der Speisezimmer schloß, vernehmen ließ:

Meine verehrten Damen und Herren –

Es ist Durchlaucht selbst! – Still doch! – Bitte, sitzen bleiben! – Still!

Er mußte, um sich vernehmlich zu machen, in die Thür getreten sein, mit welcher die der übrigen Räume in derselben Flucht lagen, denn seine immer klare Stimme schickte bei der inzwischen eingetretenen lautlosen Stille die einzelnen Worte vollkommen deutlich selbst bis in das letzte der Gemächer, in welchem Gustav und Hertha sich befanden.

Meine verehrten Damen und werten Herren und Freunde! Ich bitte um die Erlaubnis, Ihnen Mitteilung von dem Inhalt eines expressen Briefes machen zu dürfen, den ich soeben von meinem verehrten Freunde, dem Herrn Minister von Ladendorf, Excellenz, empfangen, nachdem ich auf das Eintreffen desselben den ganzen Abend, ich darf wohl sagen, schmerzlich gewartet habe. Sie, meine verehrten Damen und Herren, werden nachträglich diese Empfindung begreifen, wie Sie, ich bin im voraus davon überzeugt, die Gefühle teilen werden, welche der Inhalt besagten Briefes in mir hervorgerufen hat, den ich nun mit Weglassung der die verspätete Absendung erklärenden und entschuldigenden Einleitungsworte, ohne weiteren Kommentar, Ihnen vortragen zu dürfen bitte.

»– – So komme ich denn eben erst von dem griechischen Gesandten, der mir das bereits durch unsern Gesandten in Athen offiziell Bekannte ebenso offiziell pure bestätigt. In dem am 15., also vor vierzehn Tagen abgehaltenen Ministerkonseil ist die Amnestiefrage noch einmal beraten, endgültig entschieden worden und hat die Unterschrift Sr. Majestät, des Königs Otto, erhalten. Die Amnestie erstreckt sich auf alle wegen politischer Vergehen in Untersuchung Befindliche oder Verurteilte ohne Ausnahme, also selbstverständlich auch auf den Mann, dessen Schicksal Ew. Durchlaucht so am Herzen liegt, wie freilich allen, welche seine Heldenlaufbahn verfolgt und den Prozeß, in welchem er schließlich seinen kurzsichtigen Neidern 281 unterlag, mit unserm Gesandten »einen Staatsstreich der willkürlichsten Art« genannt haben: dénoué de bons sens et de toute logique – un scandale, dont la honte sera ineffaçable. Nun, diese Schmach ist gesühnt, soweit sie gesühnt werden kann. In dem Augenblicke, in welchem Sie diese Zeilen lesen, wird der junge König in Griechenland den greisen Helden Theodor Kolokotronis, den Fürsten, man darf sagen: König des Peloponnes, bereits empfangen und unter dem Jubel aller Hellenen in seine Arme geschlossen haben, aus denen er den großen Patrioten freilich nie hätte lassen sollen.«

Der Fürst, der die letzten Worte mit bebendem Tone gesprochen, ließ den Arm, in welchem er das Blatt hielt, sinken, sichtlich eine tiefe Erregung niederkämpfend, bevor er wagen durfte, weiter zu sprechen. Nun aber richtete er sich auf, nahm einem Diener, der inzwischen herangetreten war, das gefüllte Champagnerglas von dem Präsentierteller und rief, es erhebend, mit der gewohnten hellen Stimme:

So darf ich Sie denn, liebwerte Freunde und Gäste frohen Herzens auffordern, mit mir das letzte Glas zu erheben und zu leeren auf das Wohl des Griechenhelden, der, indem er für die Freiheit und Ehre seines Vaterlandes kämpfte und litt, zugleich litt und kämpfte für die ganze zivilisierte Menschheit. Und auf das Wohl seiner erlauchten Tochter, die wir heute unter uns zu sehen das seltene, ich darf sagen, wunderbare Glück haben; und die uns erlauben möge, an der Wonne, welche in diesem Augenblicke ihr kindliches Herz erfüllen muß, bescheiden freundschaftlichen Anteil zu nehmen und diesen Gefühlen einen Ausdruck zu geben in dem Rufe: Isäa Kolokotronis! sie lebe hoch!

Die Gesellschaft entsprach der fürstlichen Aufforderung, indem sie in den Ruf einstimmte und denselben wiederholte, freilich weder so allgemein, noch so volltönig, als man hätte erwarten dürfen. Denn, da sich bereits, während der Fürst den Brief vorlas, alle erhoben und sehr viele, um besser zu hören, in die Nähe der Thüren zu kommen gesucht hatten, mußte man jetzt, um würdigen Bescheid thun zu können, zu den Plätzen und den 282 Gläsern zurück eilen, wobei es denn ohne einige Verwirrung nicht abging. Ja, nur wenige gelangten überhaupt zu ihren Plätzen. Wie auf einen Schlag sprangen die Fensterthüren der Salons auf, und mit der lauen Nachtluft zugleich strömte ein mächtiger roter Glanz herein, die Gäste unwiderstehlich auf die breite Rampe hinaus lockend, von der hier, an der Hinterseite des Schlosses, sanfte Treppen bis zu dem kleinen See führten, jenseits dessen und um den herum hinter einem Gürtel allmählich aufsteigender Wiesen die gewaltigen Massen der ehrwürdigen Bäume sich in lichter Glut von dem dunkler gefärbten Himmel abhoben.


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