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Zehntes Kapitel.

Während die Unterredung zwischen den beiden Freundinnen stattfand, schimmerte auch noch das Licht aus den Fenstern einer Reihe von Parterrezimmern in dem entgegengesetzten Flügel des Schlosses. Es waren die von Doktor Müller und seinen Zöglingen bewohnten. Man hatte sich bereits für die Nacht getrennt. Der Doktor lag in Schlafrock und Pantoffeln auf dem Sofa, um vor dem Zubettgehen noch eine Cigarre zu rauchen, ob die ihm vielleicht Klarheit brächte über das, was er nach Mademoiselle Adelaides Ansicht in dem gegenwärtigen Stande der Dinge eigentlich zu thun, oder auch zu lassen habe. Mit dem ersten Teile des Programms: den Burschen fort! war er soweit einverstanden; mit dem zweiten: und sie hinterher! ganz und gar nicht. Wenn er es recht bedachte, war ihm aus Justus' Anwesenheit nur ein Zuwachs von Mühe und Arbeit erwachsen, die er ohne Murren auf sich genommen, so lange er geglaubt hatte, damit dem Herrn Grafen und Armand einen wesentlichen Gefallen zu erweisen; nun ganz offenbar das Gegenteil stattfand, waren doch Mühe und Arbeit zum Fenster hinausgeworfen. Welcher verständige Mensch thut so etwas gern! Und die Mittel, ihn los zu werden, würden sich schon finden. Aber, aber: sie hinterher! O, diese schändliche Eifersucht der Weiber! Was hatte dem alten Drachen – es war eine Versündigung, so von seiner Verlobten zu sprechen, aber sie hatte heute wirklich unverantwortlich alt und häßlich und boshaft ausgesehen – was hatte ihr das süße, unschuldige Geschöpf gethan? Daß sie schön war wie der Tag! Schönheit kann zur Sünde verlocken – ganz gewiß; indes an und für sich ist sie doch keine Sünde, ist eine Gottesgabe, wie andere auch, und eine hocherfreuliche, wenn man keine sträflichen Wünsche daran knüpft, von denen er seine Seele rein wußte, oder doch in Gebet, Reue und Buße mit Gottes Hilfe zu reinigen hoffen durfte. Und dann: die Sache hatte auch ihren sehr spitzigen Haken. Isabel hatte ihn ins Schloß gebracht; Isabel hielt ihn, und wie stark ihre kleine Hand war, das hatte Adelaide offen eingeräumt: Armand, der Herr Graf selbst! Es war allerdings sträflich, höchst sträflich in seinen Jahren; aber Alter schützt ja bekanntlich vor Thorheit nicht. Wenn die Kleine nun einen Trumpf darauf setzte, daß der Bursche blieb, und man selbst in die Grube fiel, die man dem anderen gegraben? Also Vorsicht, Lebrecht! Vorsicht! Und was das alberne Märchen heute abend anbetrifft – nun, albern war es gerade nicht – der junge Mensch hat ein entschiedenes Talent – und daraus beweisen wollen, daß – mein Gott, sie haben von früh auf miteinander gespielt – da wird ihm die Idee gekommen sein – und Dichter nehmen eben ihre Motive und Stoffe, wo sie sie finden. Auf alle Fälle darf ich nicht offen gegen ihn Partei nehmen. Das wird Adelaide selbst einsehen.

Der Doktor war mit seiner Cigarre zu Ende und hatte sich bereits erhoben, um in sein Schlafzimmer zu gehen, als von der anderen Seite leise an die Thür gepocht wurde. Bevor er noch herein! sagen konnte, trat Armand in das Gemach.

Mein Gott, Armand, ich denke, Sie sind längst zu Bett! sagte der Doktor.

Ich kann nicht schlafen, erwiderte Armand finster.

Was ist es? Ist Ihnen nicht wohl?

Armand sah blaß und verstört aus; sein Haar, auf das er sonst die größte Sorgfalt verwandte und immer in der Mitte gescheitelt trug, starrte ihm um den Kopf, als ob er mit beiden Händen darin gewühlt hätte.

Was es ist? rief er, die letzte Frage überhörend. Das ist es: ich will den – den Försterjungen nicht länger um mich dulden.

Still, Armand! sagte der Pädagog. Wenn Sie so schreien, kann er es ja durch Ihr Zimmer in seinem hören.

Ist mir ganz gleich. Ins Gesicht will ich es ihm sagen, zischte Armand durch die Zähne, worauf er wie ein Wahnsinniger in dem Zimmer auf- und abzulaufen begann.

Der Doktor sah ihm eine Weile zu, nachdenkend. Also so stand die Sache: Armand wollte ihn nicht länger um sich dulden. Das ließ sich hören, denn, wenn es nun zu einer Katastrophe kam, so traf Armand allein die Schuld, trug er allein die Verantwortung dafür. Wie er sie tragen würde, würde seine Sache sein. Er selbst blieb aus dem Spiel, ganz so, wie er es sich noch eben vorgenommen hatte. Für den Augenblick mußte er natürlich zum Guten reden – zuzureden scheinen – natürlich!

Kommen Sie, Armand, sagte er, setzen Sie sich!

Ich will mich nicht setzen, sagte Armand.

So lassen Sie uns wenigstens vernünftig und ruhig sprechen! Alles auf der Welt muß doch seinen Grund haben. Welchen Grund haben Sie, Justus nicht länger um sich dulden zu wollen?

Ich will ihn nicht; ich mag ihn nicht; ich hasse ihn. Ist das nicht Grund genug?

Für Sie jedenfalls, ob auch für andere: für Ihren Herrn Vater, für Ihre Frau Gräfin Mutter, für die Komtesse Schwester, für –

Für wen noch? rief Armand, als sein Erzieher hier eine Pause machte. Aber ich will es Ihnen sagen, wen Sie meinen: für Isabel. Ihr fürchtet Euch ja alle vor ihr, Papa an der Spitze. Mir ist es gleich. Ich weiß doch, daß sie bloß schön mit mir thut, damit sie den Menschen hier bei sich haben kann. Und deshalb soll ich mich von dem Menschen beleidigen, mich Ogreprinzen schimpfen lassen? Ich will ihm den Ogreprinzen eintränken!

Daran habe ich gar nicht gedacht, murmelte der Pädagog.

Er hatte wirklich nicht daran gedacht, daß der Ogreprinz des Märchens eine Beziehung auf Armand haben könne. Aber es leuchtete ihm ein, und dann –

Um Himmelswillen, sagte er, dann sollte wohl gar der alte Ogre –

Papa sein. Wer sonst? rief Armand höhnisch. Na, Papa wird sich freuen, wenn er hört, daß er Tannenwipfel frißt!

Es ist entsetzlich! murmelte der Doktor.

Die Unwahrscheinlichkeit, daß Justus die Frechheit so weit getrieben haben sollte, die Grafen Vater und Sohn in dieser Weise zu verhöhnen, lag für ihn auf der Hand. Aber daß man die Sache so deuten konnte, war nicht minder klar. Armand that es bereits; für den Herrn Grafen mochte es immerhin zu einem willkommenen Vorwand ausreichen. Zum Glück für sein Gewissen, das denn doch gegen eine so grobe Ungerechtigkeit protestierte, brannte das Feuer bereits so hell, daß er es nicht mehr zu schüren brauchte, ja, daß es nicht ausgehen würde, wenn er ein paar Tropfen billiger Humanitätsrücksichten hineinspritzte.

Mein lieber Armand, hub er nach einer Weile an, während sein Zögling wieder in dem Zimmer auf und ab gerannt war, und er mit gefalteten Händen, gesenkten Hauptes dagestanden hatte: ich will von der sogenannten Dichtung des jungen Menschen nicht sprechen. Es war ein trauriges Machwerk, ein kläglich mißlungener Versuch, das Gemüt des Hörers mit den süßen Schauern der Romantik eines Tieck oder Eichendorff zu erfüllen, für mich speciell ein völlig erbrachter Beweis der gänzlichen Talentlosigkeit des Autors. Aber das nebenbei. Die Frage ist, hat der junge Mensch neben seinen mißverstandenen poetischen Absichten auch noch zielbewußte satirische verfolgt, speciell Ihren Herrn Vater und Sie in den Gestalten des Ogrefürsten und des Ogreprinzen zeichnen wollen? Das ist eine Hypothese, für die vorläufig jeder Beweis fehlt. Aber angenommen, der Beweis wäre erbracht, so würde vor allem erst einmal das Wort in Kraft treten: bittet für die, so euch beleidigen! Ich werde es an dieser Bitte in meinem heutabendlichen Gebet nicht fehlen lassen, und ich hoffe zu Gott, daß Sie mir morgen sagen können: ich bin Ihrem Beispiele gefolgt. Dann wollen wir weiter über die Sache sprechen. Für heute lassen Sie es genug sein! Gute Nacht, lieber Armand! und: Gott behüte Sie!

Er hatte Armand die Hand gereicht, die dieser mechanisch nahm, ohne den salbungsvollen Druck irgend zu erwidern, die Lampe vom Tisch genommen und war in seinem Schlafzimmer verschwunden. Armand stand noch eine Weile, an der Unterlippe nagend, mit bösen, unsteten Blicken hin und her stierend, einen Entschluß in seiner Seele wälzend. Was der langweilige Kerl da eben gesagt, er hatte kaum ein Wort davon gehört. Wozu auch? Unsinn war es jedenfalls gewesen. Überhaupt, was hatte er eigentlich hier gewollt? um die Erlaubnis fragen, ob er den elenden Menschen reitpeitschen dürfe? Den Bauerlümmel, der sich hier eingedrängt? es wagte, Isabel seine Fee zu nennen? ihn einen Ogreprinzen, den er, der Bauerlümmel, besiegen, totschlagen konnte – mit einem Schlüssel –

Da war der Entschluß in der Form, die ihm zusagte. Er wollte sich nicht mit dem Bauerlümmel prügeln; er wollte ihn züchtigen, wie er es verdiente.

Er nahm das Licht, das er mit hereingebracht hatte, öffnete die Thür zu seinem Zimmer und zog, sie leise hinter sich zudrückend, ebenso leise den Schlüssel ab. Das Licht setzte er auf den Tisch. Wenn Justus noch Licht hatte, brauchte er selbst es nicht. Den Schlüssel behielt er in der Hand, so sein Zimmer durchschreitend und die Thür zu Justus' Zimmer, ohne anzuklopfen, öffnend.

Justus stand an seinem Bett, neben dem auf einem Tischchen ein Licht brannte. Er war in Begriff sich zu entkleiden und hatte den Rock bereits abgelegt. Jetzt wandte er sich nach dem Eingetretenen um, einigermaßen verwundert: Armand hatte die abendlichen Besuche, die im Anfang Regel gewesen waren, seit mehreren Tagen eingestellt.

Dein lateinisches Exercitium? fragte er, das hätte ja bis morgen Zeit. Du weißt, ich stehe früh auf.

Armand stierte ihn an.

Was hast Du? fragte Justus.

Der Blick in Justus' große, ahnungslose Augen hatte Armand aus der Stimmung gebracht. Sein Vorhaben erschien ihm auf einmal in dem Licht einer unritterlichen Feigheit. Unwillkürlich legte er den Schlüssel auf den runden Tisch neben sich.

Was hast Du mit dem Schlüssel? fragte Justus. Aber so sag' doch, was Du willst!

Ich wollte Dir erstens sagen, daß ich mir von Dir das Du verbitte, erwiderte Armand. Wenn ich Dich Du nenne, so ist das mein gutes Recht. Du aber darfst mich nicht Du nennen, ohne daß ich es Dir erlaube, und ich werde es Dir von heute an nicht mehr erlauben.

Justus war bei diesen Worten, die in atemlosem Tone, kaum verständlich gesprochen waren, erst glühend rot und dann sehr blaß geworden. Die Blässe schwand auch nicht wieder aus seinem Gesicht. Wie plötzlich, ihm gänzlich unerwartet dies auch gekommen war – es war da, wie das Gewitter heute abend mit seinem jähen Blitze, der die Dunkelheit in der Kapelle so schauerlich erhellt hatte. Hier hatte ihm der Blitz, der herabgefahren war, nur das eine klar gemacht: daß er zu Unrecht Isabels Wort: Du gehörst nicht hierher, jemals hatte vergessen können; daß das Wort jetzt zur Wahrheit wurde, und seines Bleibens auf dem Schlosse nicht mehr war. Er machte nur den Schluß dieser Gedankenreihe, als er jetzt mit leiser und doch fester Stimme sagte:

Ich werde morgen früh gehen, nachdem ich dem Herrn Doktor gesagt habe, warum ich gehen muß.

Er wird Dich nicht aufhalten, sagte Armand höhnisch.

Dann hätten wir uns ja wohl nichts weiter zu sagen.

Er hatte erwartet, daß Armand jetzt gehen würde, aber Armand hatte seinen Zweck erst halb erreicht: daß der Bursche das Schloß verlassen wollte, war ihm schon recht; nur wo blieb die Züchtigung, die er ihm zugeschworen?

Doch!° sagte er, ich habe Dir noch etwas zu sagen: das dumme Zeug, das Du uns da heute abend erzählt hast, das war eine Unverschämtheit.

Ah! sagte Justus.

Ein zweiter blendender Blitz war herabgefahren; er wußte jetzt, um was es sich handelte: um Isabel, oder doch darum, ob er die Freiheit haben solle, sie poetisch zu verherrlichen so gut er konnte. Dieses Recht durfte ihm keiner rauben. Eine innere Stimme hatte ihm gesagt, daß es besser sei, wenn er sein Märchen nicht in diesem Kreise erzähle. Aber er hatte es nun einmal gethan und mußte dafür einstehen.

Du kannst mein Märchen nach Belieben gut oder schlecht finden, sagte er; es ist mir einerlei, ob Du es so oder so nennst. Sagst Du aber: es ist eine Unverschämtheit, so kann ich nur erwidern, daß dies Deinerseits eine ist, und eine bodenlose.

Das nimmst Du auf der Stelle zurück!

Sobald Du Deine Beleidigung zurücknimmst.

Das werde ich nie.

So bleibt es bei dem, was ich gesagt.

Dann werde ich Dich morgen mit Hunden vom Hofe hetzen lassen.

Ich wüßte auch nicht, was Dir besser stünde als eine Hundepeitsche.

Vorläufig nimm einmal das!

Armand war auf Justus zugestürzt und hatte ihn in das Gesicht geschlagen. Dann rangen sie miteinander. Armand war der Ältere und glaubte der Stärkere zu sein. Er erschrak, als er spürte, daß Justus ihm mehr als gewachsen sei, und dessen Kraft, während er die seine bereits schwinden fühlte, nur zuzunehmen schien. Dann lag er auf dem Rücken und Justus kniete über ihm.

Ich könnte Dir jetzt Deinen Schlag wiedergeben so oft ich wollte; aber ich will Dir zeigen, daß ein Försterjunge ritterlicher ist als ein Ogreprinz.

Justus hatte Grafensohn sagen wollen; das andere Wort war ihm nur so herausgefahren. Es war ja auch jetzt gleichviel.

Er hatte Armand losgelassen. Armand war aufgesprungen, und stand da, an allen Gliedern bebend vor Wut über die ihm widerfahrene Schmach. Dicht neben ihm auf dem runden Tisch lag der Schlüssel, den er vorhin aus der Hand gethan. Das für den Ogreprinzen!

Er hatte Justus mit dem Schlüssel aus aller Kraft auf den Kopf geschlagen, und sah nur noch, wie der Verhaßte zusammenbrach. Dann war er aus dem Zimmer in das seine zurückgestürzt, atemlos an der geschlossenen Thür lauschend. Hatte er ihn tot geschlagen?

Er brauchte nicht lange zu lauschen. Schon nach einer halben Minute hörte er, daß Justus wieder aufgestanden war. Dann klapperte es an den Waschgeräten. Dann hörte er einen Stuhl rücken; dann bald darauf ein Fenster klirren. Dann blieb alles still.

War er fort?

Vorsichtig öffnete Armand die Thür; das Zimmer war leer; das Fenster stand auf. Auf dem runden Tisch neben dem im Zuge flackernden Licht und mit einem kleinen Tintenfasse beschwert, lag ein beschriebenes Blatt. Es waren nur wenige Worte:

Herrn Doktor Müller. Ich gehe zu meinen Eltern, um nicht wiederzukommen. Warum? wird Ihnen Armand morgen sagen. Justus Arnold.

Armand legte das Papier wieder unter das Tintenfaß. Sein Blick haftete an den dunklen Flecken auf dem Fußboden, die von dem Tisch nach dem Waschtisch führten, auf welchem das Becken mit blutigem Wasser angefüllt stand; blutige Handtücher lagen daneben. Ein Schauer überlief ihn; er schüttelte ihn ab.

Ach was! sagte er laut; er hat's reichlich verdient; und sterben wird er nicht daran.

Er war an das Fenster getreten und spähte mit scharfen Augen über die breite, weite Parkwiese, auf welche durch schwarze jagende Wolken der gelbe Mond für den Augenblick hell genug schien. Er konnte keinen erhöhten dunklen Punkt entdecken, der ein zu Boden gestürzter Mensch gewesen wäre.

Er ist schon über alle Berge, sagte er.

Er schloß das Fenster, blies das Licht aus und ging abermals in sein Zimmer; diesmal die Thür hinter sich verschließend, auch die nach dem Korridor; es würde während der Nacht keiner kommen und fragen, wo ist Justus? aber es war doch besser so.

Wie war es doch gewesen? Er hatte ihn auf den Kopf schlagen wollen; und Justus hatte eine Wendung gemacht, und der Schlag war von der Stirn an der Backe herabgeglitten bis auf die Schulter. Auch das war besser so.

Sollte er zu dem Doktor hineingehen und es ihm sagen? Der dumme Kerl war im stande, Lärm zu machen, hinter Justus herzuschicken. Und so erfuhr sie es am Ende noch heute Nacht! Um keinen Preis! Sie durfte es auch morgen früh nicht erfahren. Die Wagen fuhren um acht Uhr von dem Schlosse weg – es würde sich schon machen lassen. Und war sie erst in Berlin – sie würde darum nicht zurückkommen. Und von Berlin aus konnte Papa dem Menschen ja ein paar hundert Mark schicken.

Unterdessen hatte Justus die Wiese unmittelbar am Schlosse bereits passiert, die großen Treibhäuser, die dann kamen, umschritten und war nun auf den Weg gelangt, der durch die weiteren Rasenflächen und Bosketts unmittelbar in den Wald führte. Jetzt, am Rande des Waldes, blieb er stehen; er konnte für den Moment nicht weiter. Nachdem er sich von dem Schlage so weit erholt und das Blut gestillt, hatte er kaum noch einen Schmerz gefühlt und gemeint, er könne in einem Lauf bis zu dem elterlichen Hause kommen. Nun merkte er zu seinem Schrecken, daß er seine Kraft überschätzt hatte. Es war ihm, als wären ihm plötzlich die Sehnen durchschnitten, das Mark aus den Knochen gewichen. Dann durchrieselte ihn ein Frost, der alle seine Glieder beben machte, und rasende Schmerzen zuckten durch seinen Kopf. Es wurde ihm schwarz vor den Augen, in den Ohren ein Summen und Sausen; er hatte nur noch die Empfindung, daß er sich hinlegen müsse; dann schwand ihm das Bewußtsein.

Als er wieder erwachte, mußte er sich besinnen, wo er war, wie er hierher gekommen. Es währte eine geraume Weile, in seinem Kopfe war es so wüst. Endlich kam er doch damit zu stande und erschrak, als er inne wurde, daß er noch immer so nahe an dem Schloß sei, aus dem er geflohen war, aus dem man ihn vertrieben hatte wie einen Hund. Er wollte aufspringen, aber konnte sich nur langsam, mit großer Mühe erheben. Als er endlich auf den Füßen stand, zitterte er am ganzen Leibe, und als er nun zu gehen versuchte, taumelte er wie ein Betrunkener. Jetzt kam ihm zum erstenmale die Furcht, es werde ihm überhaupt unmöglich sein, den weiten Weg bis nach Hause zurückzulegen, er mitten aus dem Wege im Forst liegen bleiben, wo keiner ihn suchen, keiner ihn finden würde. Nach dem Schlosse zurück, das war eine verhältnismäßig kleine Strecke, zu der er wohl noch die Kraft gehabt hätte. – Nein, Nein! nicht nach dem Schlosse zurück! tausendmal lieber im Walde umkommen und von den Füchsen gefressen werden!

So taumelte er weiter, mit zusammengebissenen Zähnen sich gegen die Schmerzen wehrend, die jetzt, kaum für Momente ein wenig nachlassend, sein Gehirn zermarterten, gegen das Ohnmachtsgefühl kämpfend, das von Zeit zu Zeit zurückkehrte und ihn zwingen wollte, sich niederzulegen. Aber er wußte, daß, wenn er zum zweitenmale zum Liegen kam, er nicht die Kraft haben würde, sich wieder aufzurichten. Weshalb auch? War's nicht besser, wenn er liegen blieb, und alles war zu Ende? Wer würde sich um ihn grämen? Seine liebe Mutter, ja! und auch der Vater, der zuletzt so gut zu ihm gewesen war! Aber dann waren sie doch von der Sorge um ihn erlöst, die jetzt doppelt schwer auf ihnen lasten würde. Der Pfarrer? Freilich! es würde ihm nahe gehen; er würde noch mehr trinken. – Wasser! Wasser! einen Tropfen Wasser!

Er hatte schon wiederholt heftigen Durst verspürt; jetzt war ihm, als ob in seinen Eingeweiden, in seiner Brust, seiner Kehle, seinem Munde ein Feuer brannte, vor dessen Qual alle anderen Qualen zu schwinden schienen. Wasser! Wasser! – Wo es finden? Es war fast völlige Dunkelheit um ihn her, kaum daß er hier und da einen Baumstamm an der Wegseite in den Umrissen erkennen konnte. Der Mond mußte längst untergegangen sein; kein Stern an dem Himmel, der eine einzige schwarze Decke schien, die über die Wipfel gespannt war, durch die der Sturm sauste und donnerte. Es hatte auch wieder angefangen zu regnen; er sog die Feuchtigkeit aus den nassen Kleidern; es löschte den Durst nicht: Wasser! Wasser!

Es wurde ein wenig heller um ihn her, ein großer unförmiger Gegenstand tauchte vor ihm aus dem Dunkel: die Jagdhütte der Lichtung, auf der die Wildschweine gefüttert wurden. Neben der Hütte, erinnerte er sich, war ein Brunnen, aus dem man die Pferde tränkte, wenn die Gesellschaft aus dem Schlosse hier soupierte. Er fand ihn nach einigem Suchen, hatte aber nicht die Kraft, den schweren verrosteten Schwengel in Bewegung zu setzen. Nur ein paar Tropfen mochten gekommen sein, die ein Geräusch machten, als ob sie ins Wasser fielen. Und jetzt stieß er an den steinernen Trog vor dem Brunnen. Als er die Hand hineinstreckte, tauchte sie in Wasser, Wasser! Es mochten vor ihm schon die Pferde, die Schweine davon getrunken haben – was war ihm das! Er schöpfte mit der Hand; es ging zu langsam, vermehrte nur seine Gier, die er erst stillen konnte, als er, an dem Troge niederkniend, trank und trank, bis er nicht mehr konnte. Dann richtete er sich mühsam wieder in die Höhe; im Kopf war es ihm nicht mehr ganz so wüst, er meinte jetzt so viel Kraft gewonnen zu haben, um den nicht mehr weiten Weg nach dem elterlichen Hause zurücklegen zu können. Auch hatte er hinreichend Überlegung, sich zu sagen, daß er den Weg noch bedeutend abkürzen würde, wenn er die Richtsteige quer durch den Wald einschlug, dieselben, die er an jenem Abend mit dem Vater gegangen, als sie von dem Fütterungsplatz heimkehrten und ihnen die Schmuggler begegneten unter der hohen Tanne, aus der der Schuhu brach, der den jungen Hasen in den Fängen trug. Der Schuhu, der die Hexe Uraka war, die er mit der Frau Direktor heute verbunden hatte. Wann war das gewesen? bevor Hubert Maiennacht auf der Halde zum erstenmale sah! Natürlich! hernach hatte er der Hexe ja den nackten Kopf abgehackt, der als Schlange in den Sumpf schlüpfte. Aber heute hatte sie doch wieder einen Kopf gehabt; der hatte so geblutet von dem goldenen Schlüssel, mit dem Hubert den Ogreprinzen tot geschlagen, als er Maiennacht aus dem ehernen Turm holte, wo sie in einem niedrigen Fauteuil saß, ganz blaß, mit großen dunklen Augen, die auf ihn gerichtet waren und so leuchteten, daß der dicke Stamm der hohen Tanne bis zur Mitte hinauf ganz hell davon war, und er am Fuße die Ogreknechte sah, die den toten Ogrekönig auf eine Bahre aus Tannenwipfeln geladen hatten und ihm mit den Laternen in das Gesicht leuchteten, das gerade so aussah wie seines Vaters!

Vater! Vater!

Von dem gellen Ruf erschreckt, hatten die Männer, die ihn nicht hatten kommen sehen, die Bahre wieder niedergesetzt.

Ist er tot?

Die Männer antworteten nicht. Er hätte die Antwort auch nicht vernehmen können. Über der Leiche war er zusammengebrochen zum Entsetzen der Männer, welche das Blut aus den frischen Wunden des Sohnes auf die bereits verharschten des Vaters fließen sahen.


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