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Siebentes Kapitel.

Er hatte keinen Blick hinter sich geworfen. Es mochte sein, daß die Komtesse Sibylle und Isabel bei der Scene zugegen gewesen waren: es hatten so viel Menschen umhergestanden, und er hatte nur immer den Herrn Grafen und den Vater angestarrt. Das war ja jetzt ganz gleich; jetzt dachte er nur an den Vater, der nun gewiß seine Stelle verlieren würde, und was dann aus der Mutter werden solle? Dabei sagte eine Stimme in ihm: der Vater hat nicht anders handeln können: er durfte das Geld nicht nehmen; ich habe es nicht für Geld gethan, sondern für Isabel. Wenn sie auch jetzt zu den vornehmen Herrschaften gehört und nichts mehr von mir wissen will – der Vater hat recht: Bettler sind wir darum nicht.

Es war gut für Justus, daß er den Wald und die Richtsteige vom Fütterungsplatze nach Hause so gut kannte: er hätte sonst den Vater, der sofort vom breiteren Wege abgebogen war, nicht finden und einholen können. Jetzt war er dicht hinter ihm. Arnold hatte das Geräusch gehört und wandte sich:

Du bist's! sagte er rauh, ohne seinen eiligen Schritt zu mäßigen.

Ja, Vater.

Was willst Du?

Dir danken.

Wofür?

Das Du das – das Geld nicht genommen hast.

Ah!

Arnold war stehen geblieben und warf beim Licht des Mondes, das durch die Baumwipfel hell auf die Stelle fiel, wo sie standen, einen verwundert prüfenden Blick in das blasse Gesicht, aus dem die großen blauen Augen seltsam leuchteten. Dann setzte er schweigend seinen Weg fort, langsam und darauf acht gebend, daß auf dem schmalen Pfade Justus an seiner Seite bleiben konnte. Es hatte sein rauhes stolzes Gemüt wunderlich berührt. Der Junge, der Duckmäuser, das Muttersöhnchen, das ihm immer so scheu aus dem Wege ging, hatte keine Furcht vor ihm; war nicht im Begriff, zur Mutter zu gehen, ihr zu klagen, daß der Vater das schöne Geld nicht genommen: nein! war ihm nachgelaufen, um ihm dafür zu danken! Dann aber hatte er sich ja in dem Jungen all diese Jahre geirrt! dann hatte er dem Jungen doch schweres Unrecht gethan! Und ein Junge, der das konnte, das war ja eigentlich gar kein Junge mehr, das war schon ein halber Mann, mit dem man ganz anders sprechen mußte; dem man vertrauen durfte besser als den Kumpanen im Wirtshaus, die durch die Bank schlechte Kerle waren.

In dem Gemüt des Sohnes war inzwischen eine nicht minder starke Wandlung vorgegangen. Trotzdem er den Vater nie geliebt, hatte er ihn doch stets bewundert, weil er so stattlich und schön war und alles konnte, was er wollte: Hirsche schießen und Klavier spielen – alles, als ob er eigens zu jedem, was er unternahm, geboren sei, und zu nichts anderem. Nun auf einmal, da er – zum erstenmale im Leben – so für ihn eingetreten war, ohne sich einen Moment zu bedenken, ob es ihn nicht seine Stelle kosten könne, hatte er in dem Tyrannen den Vater entdeckt, der ihn liebte, und den er von Herzen wieder lieben wollte. Aber da er für seine Empfindungen noch weniger Worte zu finden wußte, als der Vater für die seinen, gingen sie so, schweigend, weiter nebeneinander hin. Plötzlich sagte der Vater:

Wir wollen heute abend die Mutter damit ungeschoren lassen, Justus. Verstehst Du?

Ja, Vater.

Sie wird es morgen mittag noch zeitig genug erfahren, wenn der Oberförster mir gekündigt hat.

Justus zweifelte nicht, daß dies geschehen werde. Er wußte, wie schlecht der Vater bei seinen Vorgesetzten angeschrieben war, und hatte den zornigen Blick wohl bemerkt, mit dem der Graf unter den buschigen Augenbrauen den Vater angeblitzt hatte, als er das Goldstück wieder in die Tasche gleiten ließ. Der Graf war ein harter Mann; er würde sich nicht erbitten lassen. Und wer sollte bei ihm für den Vater ein gutes Wort einlegen? Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Isabel! Wer konnte ihr widerstehen, den sie mit ihren großen Augen bittend ansah? Aber nach heute abend! Sie hatte ihm ja nur zu deutlich gezeigt, daß sie nichts mehr mit ihm zu thun haben wollte. Nein, von der Seite konnte die Hilfe nicht kommen.

Vater! sagte er.

Was?

Vater, der Herr Graf –

Was?

Es war nicht hübsch von ihm, daß er mir Geld geben wollte, und ich hätte es gewiß nicht genommen, auch wenn Du nicht dagewesen wärest. Aber er hat es wohl nicht bös gemeint. Und Du hast es ja auch nicht bös gemeint, als Du sagtest: wir seien keine Bettelleute. Wenn Du nun –

Was?

Die arme Mama! sie thut mir so schrecklich leid.

Das Weinen war ihm nahe; er schluckte die Thränen mutig hinunter und fuhr fort:

Sie grämt und quält sich schon so viel um uns – daß Du hier leben mußt, wo es Dir so wenig gefällt; und weil es ja nun doch die höchste Zeit ist, daß ich auf die Schule komme. Und wenn wir nun wieder von hier fort müssen –

Das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche, murmelte der Förster.

Der Herr Oberförster –

Er wird sich das Maul nicht verbrennen wollen – noch dazu meinethalben.

Oder der gute Herr Pastor –

Der wird ihm imponieren – freilich!

Oder wenn –

Wenn was?

Wenn Du selbst –

Ein wildes Gelächter, das häßlich im Walde wiederhallte, ließ den erschrockenen Knaben nicht weiter reden. Der Vater war stehen geblieben.

Wenn ich selbst, wenn ich selbst? schrie er in rauhen Tönen. Wenn ich selbst – was? hinginge und schlüge ihm alle Knochen im Leibe entzwei? Meinst Du das? O ja, mit dem größten Vergnügen! Aber um seine Gnade betteln? Ich um seine Gnade? Wer ist er? Es ist noch nicht hundert Jahre her, da sind seine Väter Holzhändler gewesen irgendwo da hinten in Polen – Juden, wo möglich, – Blutsauger, Leuteschinder, Waldschinder. Sie sind es ja noch heute – ganz dasselbe, bloß daß sie jetzt eine Grafenkrone im Wappen führen, die sie sich irgendwie gefuchsschwänzt haben, die elenden, feigen Schufte! Vor denen soll ich mich bücken? Denen soll ich gute Worte geben? ich? Weißt Du, Junge, daß ich ein besserer Graf, wie die, jeden Tag sein könnte, der keine schmutzigen Juden zu Vätern hat? Weißt Du das? Himmelhöllenelement!

Er hatte Justus an beiden Schultern gepackt und schüttelte ihn, daß ihm das Waldhorn aus der Hand auf den Boden fiel. Der Wütende trat es unter die Füße, hob es dann auf und schmetterte es gegen einen Baumstamm. Plötzlich, wie er gekommen, war der Anfall vorüber.

Laß das Ding liegen! sagte er mit einem Versuch zu lachen. Entzwei ist es doch, und es thut mir leid, daß ich Dich je damit gequält habe. Komm, die Mama wird sich schon wundern, wo wir so lange bleiben.

Nach ein paar Schritten begann er von neuem:

Ja, sie werden mich wegjagen; aber Ihr – Du und die Mama, Ihr sollt darunter nicht zu leiden haben. Es findet sich schon was anderes für mich, und Du sollst Deine Schule durchmachen, denn das ist wahr: bei dem Pfarrer, – na! er ist ja soweit ein guter Kerl; aber lernen kannst Du nichts mehr bei ihm, und ich hätte auch wohl früher daran denken und nicht der Mama die Sache überlassen, sondern sie selbst in die Hand nehmen sollen. Oho! ich habe auch mein Gymnasium bis Prima durchgemacht! – Und hernach sollt Du auf die Universität. Bei Gott, das sollst Du; und wenn ich das nötige Geld stehlen müßte! Das wär' noch nicht das Schlimmste. Hier zu Lande stehlen sie alle; der Herr Graf voran! Das ist der große Dieb; hinter dem marschieren die kleinen: der Herr Oberdirektor und die Direktoren von den Gruben und die Direktoren von den Fabriken; und hinter denen die Inspektoren und Obersteiger und Werkmeister und Monteure und –

Er brach jäh ab und stand still, horchend. Auch Justus vernahm jetzt: das Knacken und Knistern in dem dichten Unterholz rechts her aus dem Walde. Jetzt war's dicht bei ihnen, und ein großer Hirsch wechselte über den Weg, um im nächsten Moment unter den hohen Bäumen auf der anderen Seite zu verschwinden. Sie hörten nur noch ein paarmal das Aufstampfen der eilenden Läufe, dann war alles wieder still. Justus wollte weiter gehen. Der Vater hielt ihn am Arm fest, flüsternd:

Er war auf der Flucht – es müssen Menschen im Walde sein, ich höre sie schon.

Er hatte Justus hinter den dicken Stamm einer Tanne gezogen, wo tiefer Schatten brütete, während der Weg, den sie verlassen, im hellen Mondenschein lag. Wieder vernahm man in derselben Richtung, aus welcher der Hirsch gekommen, Knistern und Knacken, aber nicht, wie vorhin beim Durchbrechen des flüchtigen Tieres, laut und gewaltsam, sich in rasender Eile nähernd, sondern leise, manchmal aussetzend, langsam herankommend. Nun waren sie am Waldrande drüben. Der erste bog die Büsche auseinander und, den Kopf vorstreckend, blickte er den Weg hinaus und hinab. Dann trat er heraus, ein kurzes Wort hinter sich rufend, und schritt quer über den Weg in den Hochwald. Die anderen folgten in kurzen Zwischenräumen: vier, fünf, sechs Männer, jeder einen schweren Packen auf dem Rücken, gleichmäßig sich vorwärts bewegend mit langen, möglichst geräuschlosen Schritten. Sie kamen so nahe an der Tanne, hinter der Vater und Sohn standen, vorüber, daß jene deutlich das gelegentliche Keuchen der Leute hörten. Dann hatte der Wald sein Geheimnis verschlungen. Eine große Eule, die über ihnen in dem Baum gesessen, hob sich auf und flog über den mondbeschienenen Weg nach der anderen Seite. Die Gestalt des Vogels setzte sich in scharfen Umrissen von dem hellen Himmel ab; man sah, daß er etwas – ein Häschen oder Kaninchen – in den Fängen trug.

Für Justus bedurfte die Scene keiner Erklärung; er hatte oft genug aus dem Munde des Vaters und der anderen Förster und Steuerbeamten von dem Schmugglertreiben über die nahe russische Grenze gehört. Jetzt zum erstenmal hatte er die Leute bei der Arbeit gesehen, und das Herz hatte ihm bang geklopft. Nicht aus Sorge für sich, sondern für den Vater; er wußte, daß die Förster streng angewiesen waren, die Steuerbeamten zu unterstützen, und schon als Förster hätte der Vater Leute, die unbefugterweise sich im Walde umtrieben, anhalten müssen, und er hatte gemeint, daß der Vater das thun werde. Der aber hatte sich nicht geregt – zu Justus' Erstaunen. Furcht war dem Vater fremd, und er hatte die geladene Büchse auf der Schulter und den Hirschfänger an der Hüfte; er hätte es mit einem Dutzend unbewaffneter Menschen aufgenommen, wenn er gewollt. So hatte er eben nicht gewollt. Warum nicht?

Er wagte es nicht zu fragen, da der Vater kein Wort sprach, sondern schweigsam, wie angewurzelt, auf derselben Stelle stehen blieb, und er ihn nur ein paarmal tief atmen hörte. Auch auf dem Reste des Weges nach Hause brach er nur einmal das Schweigen, um zu fragen:

Für wieviel jährlich will der Löb Dich in sein Haus nehmen?

Ich weiß es nicht, Vater, ich glaube –

Schon gut! schon gut! Hast Du den Schuhu gesehen? Der hatte sich sein Abendbrot auch gestohlen. Sie stehlen hier alle – alle – Mensch und Tier.

Sie waren angelangt. Durch die beiden niederen Fenster der Wohnstube schimmerte das Licht auf den sandigen Weg. Waldmann, der Dachshund, kam dem Herrn, vor Freude leise winselnd, aus der offenen Hausthür entgegen; Ponto, der Hühnerhund, der draußen im warmen Sande gelegen hatte, umkreiste ihn mit freudigen Sprüngen. Der Förster hatte gegen seine Gewohnheit kein Wort für sie; er schritt, ohne sich aufzuhalten, über den dunklen kleinen Flur in das Zimmer; Justus folgte ihm auf dem Fuße. Die Mutter, die am Tische gestanden hatte, wandte sich den Eintretenden entgegen; auf ihrem bleichen lieben Gesicht sah Justus das ängstliche Lächeln, mit dem sie jedesmal den Vater begrüßte. Der ging auf sie zu, und, sie in die Arme nehmend, küßte er sie: Wir haben Dich lange warten lassen, Luise!

Noch nie im Leben hatte Justus gesehen, daß der Vater die Mutter küßte. So hatte sein scheu erschrockener Blick nur eben die Gruppe gestreift; aber es war ihm die flammende Röte nicht entgangen, die der Mutter in die Wangen geschossen war, und daß ihre Augen durch Thränen in einem wundersamen Glanze gestrahlt hatten.

Und so sah er das geliebte Antlitz im Geiste, als er eine Stunde nach dem Abendbrot, bei dem der Vater, ohne einen Tropfen zu trinken, freundlich und gesprächig gewesen war, in seinem Kämmerchen noch angekleidet auf dem Bette lag und, während der Mondenschein langsam an der weißen Wand über seinem Arbeitstische weiterrückte, die Ereignisse des Tages überdachte, einen Plan in der erregten Seele wälzend, der ihm, er wußte nicht wie, gekommen war, als er sah, daß der Vater die Mutter küßte, – einen Plan, den er morgen früh ausführen mußte, wenn es nicht zu spät sein sollte, und den auszuführen er entschlossen war, obgleich ihm im Vergleich dazu, den Ogre in seinem Schlosse zu überfallen und ihm im mondbeschienenen Hof ein Schwert durch das schwarze Herz zu rennen, eine Kleinigkeit dünkte.


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