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Viertes Kapitel.

Die kleine rundliche Person stand bereits mitten im Zimmer, mit den kleinen, runden, glitzernden schwarzen Augen, wie suchend, in allen Ecken umherfahrend, trotzdem der beinahe kahle Raum sicherlich mit einem Blick zu übersehen war.

Ist sie nicht hier?

Hier gewesen; erwiderte Frau Arnold; vor einer Stunde; sie wollte Justus abholen; der war im Walde. Ich habe sie nach Haus geschickt.

Und glauben, sie ist nach Haus gegangen? Die und nach Hause kommen, wenn sie ihren Schatz im Walde suchen kann!

Ja, die Kinder sind gern beisammen; sagte Frau Arnold; aber wollen Sie sich nicht setzen?

Wenn Sie erlauben; erwiderte Muhme Anna, der Aufforderung Folge leistend und sich an der Kante des gedeckten Tisches vorbei in die Ecke des dürftigen, schwarzledernen Sofas klemmend. Wir beiden haben ja heute Zeit. Das kann zwei Uhr werden, bis er ausgeschlafen hat, und der Herr Förster pflegt Sonntagsvormittags auch länger – im Revier zu bleiben. Na, nehmen Sie's nicht übel, gute Seele! Es war so bös nicht gemeint; aber, wenn man nicht mehr sein Späßchen machen darf, – freilich, Sie sehen heute wieder einmal recht schlecht aus, beste Frau. Ist etwas Besonderes vorgefallen? Sagen Sie's mir! Das erleichtert das Herz so, wenn man's herunter hat. Und mir kann man alles sagen, wie seinem Beichtvater. Jesus Maria, wie gut wär's für Sie, wenn Sie katholisch wären! Das ist die rechte Religion für die Unglücklichen.

Sie wissen, mein Vater war protestantischer Prediger, sagte Frau Arnold mit einem schwermütigen Lächeln.

Ja, ja, die haben es nach einer Seite auch gut, die protestantischen Pfarrer. Aber, Schätzchen, was ich sagen wollte: es ist mir recht lieb, daß wir heute ein ungestörtes Stündchen zum Plaudern haben. Es gehen wichtige Dinge vor; sehr wichtige, und die Sie sehr interessieren werden.

Ist es denn jetzt entschieden? fragte die Försterin.

Ich dachte, es sollte sich heute entscheiden; erwiderte Muhme Anna; aber, wie wir hinkommen, ist das ganze Schloß ausgeflogen; wir mußten den langen Weg zu Fuß zurückmachen. Und denken Sie sich, da erklärt das kleine, garstige Ding: zu Leuten, die nicht zu Hause seien, wenn sie zum Besuch komme, gehe sie nicht!

Das sagt sie so.

Sie meinen, weil sie sich geärgert hat, daß niemand sie in ihrem Sonntagsstaat zu bewundern da war? Das sieht ihr freilich ähnlich. Aber nun denken Sie, warum sie nicht auf das Schloß will: weil sie sich nicht von Justus trennen mag, weil sie ohne Justus nicht leben kann! Haben Sie solchen Unsinn je gehört?

Die bleichen Wangen der Försterin hatten sich mit einer plötzlichen Röte bedeckt; die großen blauen Augen waren feucht geworden.

Das liebe Kind! murmelte sie.

Unsinn! rief Muhme Anna. Wenn Justus auf die Schule kommt, müssen sie sich ja so wie so trennen. Und überhaupt: so eine Kindesliebe, das ist Unsinn, sage ich. Das können Sie selbst doch unmöglich ernsthaft nehmen.

Ich thue es auch nicht; erwiderte Frau Arnold, jetzt wieder bleich wie zuvor, während die Augen noch feucht schimmerten; ich höre es nur so gern, wenn jemand meinen Jungen liebt. Und dann –

Und was dann?

Wenn ich es offen sagen soll: ich halte es für kein Glück für die Kleine, wenn sie auf das Schloß kommt.

Mir scheint, ich darf meinen Ohren nicht trauen!

Muhme Anna hatte es auf polnisch gesagt, wie sie denn in der Erregung gern ein polnisches Wort brauchte; die Försterin hatte die Phrase nicht verstanden; aber der Ausdruck der schwarzen runden Augen unter den in die Höhe gezogenen schwarzen Brauen war nicht mißzuverstehen.

Frau Arnold hatte, tief Atem holend, die Hand auf das Herz gedrückt. Das hämmerte jetzt immer so furchtbar, wenn sie etwas Ungewöhnliches sagen oder thun mußte. Und sie war es längst nicht mehr gewöhnt, was sie dachte und fühlte, gegen irgend einen Menschen, außer gegen Justus, frei zu äußern. Aber sie hatte das schöne Kind immer lieb gehabt, so viel sie auch an ihm auszusetzen hatte, und nach dem, was sie eben gehört, durfte sie nicht schweigen.

Nicht wahr, das klingt wunderlich, sagte sie mit ihrer leisen Stimme, die erst allmählich wieder ein wenig fester wurde; es scheint ein so großes Glück für das Kind! Und in gewissem Sinne ist es auch eines. Sie wird französisch und englisch lernen und so mancherlei, was sie zu Hause bei dem Onkel nicht lernen kann. Es wird ihr auch sonst, so lange sie da ist, gut gehen; nur zu gut! Sehen Sie, das ist es, was ich fürchte, gerade für ein Kind wie Isabel. Es ist fast unmöglich, sie nicht zu verziehen; und man wird sie auf dem Schloß verziehen die Jahre hindurch, die sie da ist; sagen wir drei oder vier. Aber einmal wird es doch ein Ende haben, und sie muß in die Welt zurück, aus der sie gekommen ist. Wird ihr das dann noch möglich sein? Anderen vielleicht; aber ihr?

Ja, warum denn ihr nicht? fragte Muhme Anna. Dumm ist sie nicht, das mögen Sie mir glauben.

Frau Arnold schwieg; sie hatte das Gefühl, daß sie der anderen ihren Gedanken nicht würde klar machen können. So sagte sie denn nach einer Pause, mehr zu sich selbst als zu ihrem Besuche sprechend: Es ist schrecklich, das Elend; doppelt schrecklich für den, der bessere Tage gesehen hat.

Aber wer, in des Herrn Jesu Namen! spricht von Elend? rief Muhme Anna eifrig. Aus dem will ich sie ja gerade herausbringen. Elend! ja, wenn sie bleibt, wo sie ist, und es bleibt, wie es ist, dann ist ihr das Elend sicher. Ihr Vater treibt's gewiß nicht lange mehr.

Ihr Vater! rief Frau Arnold erstaunt.

Muhme Annas schwarze Augen glitzerten vor Freude über den gelungenen Spaß. Es war so lustig, eine fromme, unschuldige Seele zu ängstigen. Und sie hatte es sich so oft vorgeredet, daß sie halb und halb selbst daran glaubte.

Warum sollte er nicht ihr Vater sein? sagte sie frech.

Frau Arnold wurde dunkelrot.

Ich halte es für bitter unrecht, sagte sie, ihre ganze Festigkeit aufbietend, von seinen Mitmenschen schlecht zu denken, solange man noch gut von ihnen denken kann. Und nun gar, wenn einem jeder Grund dazu fehlt, wie bei dem Herrn Pfarrer, der so gut ist, wie wohl selten einer.

Gut – schlecht! schlecht – gut! rief Muhme Anna. Wenn Sie reden, Kind! Nehmen Sie mir's nicht übel: Sie reden wirklich, wie ein Kind. Das ist doch nichts Schlechtes, wenn einer ein hübsches Mädel lieb hat, und sie ihn; und er kann sie nicht heiraten; und da kommt dann doch ein Kindchen; und der Vater nimmt es zu sich, nachdem die Mutter gestorben und es aus dem Gröbsten heraus ist! Ja, denken Sie denn, daß die katholischen Herren Pfarrer nicht auch Menschen sind, wie die anderen?

Frau Arnold hätte eine Unterredung, die ihr mit jeder Minute peinlicher wurde, gern abgebrochen; aber dann hätte es den Anschein gewonnen, als ob sie das häßliche Märchen, das ihr die andere einreden wollte, glaubte; und das durfte sie dem guten Pfarrer Szonsalla nicht anthun. So sagte sie denn mit bei ihr ganz ungewöhnlicher Energie:

Sie sollten so nicht reden, hätten Sie den Beweis in Händen, geschweige denn jetzt, wo Sie auch nicht den geringsten Anhalt für ihre Behauptungen haben. Im Gegenteil! Es ist Thatsache, daß der Herr Pfarrer in Galizien einen Bruder hatte, dem es anfangs gut ging, bis er durch einen Betrug, den sein Compagnon an ihm verübte, um sein Vermögen kam und sich sein Unglück so zu Herzen nahm, daß er irrsinnig wurde und auch im Irrenhause gestorben ist, wo ihn der Herr Pfarrer noch jahrelang unterhalten hat. Dann starb auch die Frau. Und da ist der Herr Pfarrer hingereist und hat sich ihr einziges Kind geholt.

Und woher wissen Sie das alles? fragte Muhme Anna hämisch.

Von dem Herrn Pfarrer selbst – aus seinem eigenen Munde; entgegnete Frau Arnold.

Nun, da wird es ja wohl wahr sein; sagte die andere, einen Daumen der fetten Hände behaglich um den anderen drehend; just so wahr, wie daß ich die Muhme von der Kleinen bin.

Sind Sie das nicht? fragte Frau Arnold mit unsicherer Stimme.

Ich denke nicht daran, entgegnete ihr Besuch; aber Hochwürden meinten, als ich vor sieben Jahren zu ihm kam, das Ding werde sich schneller an mich attachieren, wenn sie hörte, daß ich so eine Art Verwandte von ihr sei. Was sagen Sie nun?

Ich sage, erwiderte die Försterin, daß das vielleicht nicht recht von dem Herrn Pfarrer war, denn man soll immer die Wahrheit sprechen; aber daß er es aus verzeihlicher Liebe zu dem Kinde gethan hat, damit die arme Waise einen Anhalt mehr in der Welt zu haben glaubte.

Schön! sagte Muhme Anna; und wenn er sie auf den Schoß nimmt und küßt und herzt und flennt: Mein Kind! mein armes, süßes, schönes Kind! Ist das auch kein Beweis?

In meinen Augen nicht, rief Frau Arnold, und ich sollte meinen, in keines Menschen, der weiß, wie gut und liebevoll der Herr Pfarrer gegen alle Welt ist. Und sollte er es nicht gegen dies Kind sein? seines Bruders Kind? er, der so allein steht in der Welt und sonst nichts zu lieben und zu herzen hat? Ach, Muhme Anna! Muhme Anna! Gott verzeihe Ihnen, daß Sie solche Gedanken bei sich hegen! Aber wenn Sie – wenn Sie jemals dem Kinde selbst –

Ei, sagte Muhme Anna, wo denken Sie hin? Ich werde mir die Zunge verbrennen! Na, Schätzchen, nichts für ungut! Unter guten Freunden muß doch ein freies Wort erlaubt sein. Und wenn er sie sein Kind nennt, – nun, er hat sich eingeredet, daß er's nicht lange mehr treiben wird und die Kleine dann ganz verlassen ist. Das beklemmt ihm die Seele, und da weiß er vielleicht nicht mehr, was er redet.

Armes, armes Kind! murmelte Frau Arnold.

Na, da sagen's Sie's ja selbst, Herzchen: armes Kind! Was soll aus ihr werden, wenn der Herr Fürstbischof, nachdem er ihn damals aus seiner schönen Pfarre in Breslau hierher in dies elende Nest an der russischen Grenze gemaßregelt hat, ihn ganz aus dem Amte jagt, wie ihm schon ein paarmal angedroht ist! Und es wird schon so kommen; er kann das Trinken nicht mehr lassen; es wird immer schlimmer. Und was soll dann aus mir werden, die ich am Ende noch gar das Kind auf dem Halse behalte? Man muß doch auch an sich denken. Na, begreifen Sie nun, mein Herzchen, weshalb ich sie partout auf das Schloß haben will?

Ich verstehe, sagte Frau Arnold kleinlaut.

Sehen Sie! rief die Muhme triumphierend. Ist sie erst einmal auf dem Schloß – na, ich müßte die kleine Katze nicht kennen, wenn sie sich da nicht ein so warmes Nestchen macht, daß ein adliges Fräulein sie darum beneiden würde. Und später – nun, das wird sich finden. Dafür ist mir nicht bange. Und also, was ich sagen wollte und warum ich eigentlich gekommen bin: ich schicke Ihnen die Kleine, und dann waschen Sie ihr ordentlich das Trotzköpfchen. Es ist ja nichts weiter als Trotz; aber der hält manchmal so lange bei ihr an, daß einem ehrlichen Christenmenschen die Geduld reißt. Und vornehme Herrschaften sind nicht gewohnt zu warten. Es hat mir schon gar nicht gefallen, daß sie uns heute vergeblich haben kommen lassen. Aber, Jesus! ich verplaudre mich hier, und mittlerweile ist der arme Pietrek gewiß aufgewacht und will sein Essen. Na, das schmeckt ihm noch immer. Sie sagen ja, wenn die Sorte nicht mehr essen mag, dann steht's schlimm.

Sie hatte sich aus ihrer Sofaecke wieder an dem Tisch vorbeigedrängt, Frau Arnold auf beide Wangen geküßt, und war zum Zimmer und zum Hause hinaus.

Frau Arnold wollte in die Küche, noch einmal nach dem Essen zu sehen; aber es lag ihr wie Blei in den Gliedern, und das Herz war ihr so schwer. Sie sank auf den Strohsessel am offenen Fenster zurück. O, wie grenzenlos häßlich war doch die Welt! Was hatte sie nicht eben alles wieder hören müssen aus dem Munde dieser Person! Ja, es war gut, wenn Isabel aus ihren Händen kam, bevor sie Zeit hatte, das unschuldige Herz mit dem gräßlichen Gedanken zu vergiften!

Aber wer war sie, einen Stein aufheben zu dürfen gegen andere, sie mit der Todsünde auf dem Herzen! Und als sie eben davor gewarnt, Isabel auf das Schloß gehen zu lassen, hatte sie sich wirklich so um die Kleine gesorgt und nicht vielmehr heimlich gewünscht: ach, wäre doch Justus an ihrer Stelle? – Justus!

Mama! meine liebe Mama!

Er hatte vor dem offenen Fenster gestanden und war über die niedrige Brüstung zu ihr ins Zimmer gesprungen. Sie hatte den großen Knaben auf den Schoß gezogen, als ob er noch ein Kind wäre, und hielt ihn an sich gepreßt mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit.

Nicht wahr, Du verläßt Deine arme Mama nicht? Du gehst nicht zu den vornehmen Herrschaften auf das Schloß?

Aber, Mama, sie wollen mich ja gar nicht. Sie wollen ja nur Isabel.

Und die will wieder nicht, weil sie sich nicht von Dir trennen will.

Der Knabe antwortete nicht; seine großen blauen Augen hatten sich verdunkelt und starrten so vor sich hin. Es war ja undenkbar, daß die Fee den Sohn des Ogre heiratete, da sie den jungen Prinzen liebte, dem der Wald gehörte. Wenn sie aber freilich zu dem Ogre ins Schloß ging – und dann: dem Prinzen gehörte der Wald gar nicht, sondern dem Ogre und nach ihm seinem Sohne. Und er, der sie liebte, war kein Prinz, sondern ein armer Förstersohn, und –

Was sagst Du, Herz? fragte die Mutter, ihrem Liebling das weiche, schlichte, braune Haar aus der nachdenklichen Stirn streichend.

Es stimmt nicht, murmelte der Knabe.

Was stimmt nicht?

Still, Mama!

Er war von ihren Knieen herabgeglitten – zu spät. Der große breitschultrige Mann in Försteruniform, der in dem Sandweg am Hause lautlos herangeschritten war, hatte die Gruppe am Fenster bereits gesehen. Ein verächtliches Lächeln zuckte über sein schönes, verwüstetes Gesicht.

Geniert Euch nicht! rief er höhnisch.

Die arme Frau war bleich geworden.

Sei ruhig, Mama! flüsterte der Knabe. Ich fürchte mich vor keinem Menschen; auch nicht vor ihm.


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