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Zweites Kapitel.

Nun, Justus, mein Sohn! wie war's gestern? Erzähle! erzähle!

Es war am Vormittage nach dem Feste auf dem Schlosse. Der Pfarrer Szonsalla und sein Schüler saßen in des ersteren, zu ebener Erde gelegenen, dürftigen Studierzimmer, der Pfarrer auf dem schäbigen schwarzen Roßhaarsofa, Justus auf einem wackligen Stuhl an dem großen nackten, ewig knarrenden, runden Tische, an dem er zu arbeiten pflegte, und der dem Pfarrer zugleich als Frühstückstafel diente, zu Justus' Entsetzen, dem die Butterbrotreste und die halb geleerte klebrige, von Fliegen umschwärmte Ungarweinflasche mit dem entsprechenden Glase neben seinen sauberen Büchern und Heften ein Greuel waren.

Schenk' mir erst noch ein Glas ein, Justus, mein Sohn, bevor Du beginnst! fuhr der Pfarrer fort, als Justus nicht alsbald antwortete. Ich bin heute Morgen so zitterig, ich glaube noch immer vor Freude über den Brief gestern abend. Sieh hier! Von ihr! Justus, von ihr! Ja, mein Junge, ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, und nun kam er doch. Ein wenig spät, sagst Du? Richtig. Aber hingegangen wäre ich ja nicht, so sehr ich mich nach ihr sehne. Ich hab's einmal gethan. Nie wieder. Ich werde ihrer da nicht froh. Auch schämt sie sich meiner. Ja, ja, das thut sie. Aber lieb war es doch von ihr, daß sie wenigstens an mich gedacht hat, das süße, herzige Ding. Aber nun erzähle, Justus, mein Sohn, nun erzähle! Zu unseren alten Schmökern kommen wir noch immer früh genug.

Der geistliche Herr steckte das Briefchen, das er während des Sprechens mehrmals geküßt hatte, wieder in die Tasche seines zerfetzten Schlafrockes, wischte sich die Augen, nahm einen Schluck aus dem Glase, das Justus ihm gefüllt, und lehnte sich in die Sofaecke, zum Hören bereit.

Justus antwortete noch immer nicht. Er saß da, die feine Stirn, von der die schlichten braunen Haare nach vorn fielen, in die Hand gestützt.

Nun? sagte der Pfarrer mit gutmütiger Ungeduld.

Justus hob den Kopf.

Mir ist, als hätte ich alles nur geträumt, Hochwürden, sagte er leise.

Man kann auch seine Träume erzählen, entgegnete der Pfarrer, schmunzelnd an seinem Wein nippend, besonders wenn sie schön sind, wie es Deiner sicher gewesen ist. Ich habe auch ein und das andere Mal in meinem Leben schön geträumt. Das ist lange her. Jetzt fürchte ich mich vor meinen Träumen. Also, Justus, Du siehst, wie begierig ich bin, von ihr zu hören. Was hast Du geträumt?

Justus begann zu erzählen.

Er war zur bestimmten Stunde, um drei Uhr, pünktlich vor dem Thore des Schloßhofes erschienen, das diesmal weit offen stand. Der Pförtner hatte ihn nicht nach seiner Legitimation gefragt, sondern respektvoll gegrüßt, ihm auch gesagt, daß er nur geradeaus in das Mittelportal des Schlosses gehen möge. Er hatte es gethan und war in der Halle von mehreren Dienern in Livree empfangen worden, deren einer ihn dann an eine große vergoldete Thür führte, die ihm wieder ein anderer Diener, der da Wache gestanden, öffnete. Nun habe er sich in einem Saale befunden, der sei größer und höher gewesen als die Kirche in Eisenhammer, und so schön, daß er es nicht beschreiben könne: strotzend von Gold, mit wundersamen Bildern in breiten Rahmen hier und da an den Marmorwänden; an der einen Seite eine mächtige, weit offene Fensterthür, durch die man über die breite Terrasse in den Park gesehen habe, aus dem ein herrlicher Blumenduft in den Saal gekommen sei und das Geschwirr von Stimmen, aus dem er geschlossen, das sich die Gesellschaft auf der Terrasse befinde, denn in dem großen Saale sei kein Mensch gewesen.

So stand ich unentschlossen, fuhr er fort, aber faßte Mut und ging durch den Saal nach der offenen Thür. Ich hatte sie noch nicht erreicht, als sie mir entgegenkam.

Sie ist natürlich sie, sagte der Pfarrer triumphierend. Was hatte sie an?

Ich weiß es nicht, Hochwürden.

Aber Du hast wirklich nur geträumt, Justus! rief der Pfarrer lachend. Was sagte sie, Justus? was sagte sie?

Ich habe Dich in den Saal treten sehen, sagte sie eilig und mit halblauter Stimme. Ich bin Dir entgegengelaufen, um Dir guten Tag zu sagen und Dir zu danken, daß Du nun wirklich hier bist. – Sie hatte dabei meine beiden Hände genommen und sah mich so gut und so lieb an, und – und –

Gab Dir einen Kuß! bravo!

Justus schüttelte den Kopf.

In dem Augenblicke, sagte er, kamen von der Terrasse her die Komtesse Sibylle, der junge Graf und noch ein paar andere junge Leute. Sie reichten mir einer nach dem anderen die Hand und waren sehr freundlich, und Komtesse Sibylle sagte: Ich will Sie zu meinen Eltern bringen. – So gingen wir alle in einem Schwarme auf die Terrasse, wo an der einen Seite, die mit seidenen Vorhängen überspannt war, viele Damen und Herren herumstanden, auch wohl auf leichten Stühlen saßen. Die Komtesse führte mich zu der Frau Gräfin. Sie lag halb hingestreckt in einem Schaukelstuhle und blickte uns, als wir auf sie zukamen, durch ihre Lorgnette an – .

Sie hat schöne Augen, murmelte der Pfarrer.

Mir erschienen sie starr und hart, sagte Justus. Aber als wir vor ihr standen und die Komtesse meinen Namen genannt hatte, lächelte sie ein wenig und hielt mir die Hand hin –

Die Du küßtest, natürlich!

Nein; warum?

Sancta simplicitas! murmelte der Pfarrer, in die Sofaecke zurücksinkend, aus der er sich in seiner Aufregung halb erhoben hatte. Nun, und Isabel?

Justus erzählte weiter, aber kam nur langsam aus der Stelle, da ihn der geistliche Herr alle Augenblicke mit der Frage unterbrach: Nun, und Isabel? Justus' Schilderung des feierlichen Diners im großen Speisesaale und des Kahnfahrens und Reifenspiels der jungen Leute nach Tisch und der abendlichen Promenade der ganzen Gesellschaft in wohl zwanzig Wagen nach der Ruine des alten Waldschlosses, die mit bengalischem Lichte, welches von den Kronen der Riesenbuchen wiederstrahlte, feenhaft erleuchtet war; der Rückfahrt bei Fackelschein durch den dunklen Wald; zuletzt des Tanzes der jungen Leute, an dem auch einige von den älteren Herrschaften teilnahmen, in dem Glanze von Hunderten und Hunderten von Kerzen des großen Prunksaales – das alles schien den guten Mann nicht zu interessieren, oder doch nur so weit, als seine geliebte Isabel im Vordergrunde der Ereignisse stand. Es kam ihm seltsam vor, daß dies nicht beständig der Fall war, ja daß Komtesse Sibylle in Justus' Bericht entschieden eine größere Rolle spielte als Isabel. Justus wußte die Liebenswürdigkeit der jungen Dame nicht genug zu rühmen: wie sie sich während des ganzen Festes seiner so gütig angenommen und ihn fast immer an ihrer Seite behalten habe, ihm die Namen der Herrschaften zu nennen, die ihn angeredet hätten, ihn bald auf dies, bald auf das aufmerksam zu machen, so daß zuletzt jede Spur von Befangenheit von ihm gewichen und ihm unter all den fremden vornehmen Leuten so wohlig gewesen sei, als habe er immer nur unter ihnen gelebt.

Zuletzt kam das Allerwichtigste. Beinahe zum Schluß des kleinen Balles habe ihn die Komtesse auf die Seite gezogen und ihm gesagt, daß ihr Papa ihn zu sprechen wünsche, ihn auch zu demselben geführt und während dessen ihm zugeflüstert: Wenn Sie das thun, was Ihnen mein Papa, so viel ich weiß, jetzt vorschlagen wird, so werden Sie uns alle sehr erfreuen.

Nun, und Isabel? fragte der Pfarrer.

Sie lächelte mir zu, als wir an ihr vorübergingen, und das machte mir Mut, denn, ich will es nur gestehen, Hochwürden, vor dem Herrn Grafen, der auch während des ganzen Abends kaum drei Worte mit mir gesprochen hatte, war mir doch ein wenig bange – in Erinnerung der Scene in dem Parkzelt am Sonnabend vor vier Wochen, und mir klopfte das Herz. Es war das wohl sehr kindisch, denn daß mir an der Seite der freundlichen Komtesse nichts Schlimmes widerfahren werde, hätte ich mir sagen können. Und nun weiß ich doch nicht, ob es etwas Schlimmes oder Gutes gewesen ist.

Alle guten Geister! rief der Pfarrer, durch den Ausdruck inneren Kampfes, der sich auf Justus' lebhaften Zügen malte, ernstlich erschreckt; was kann es gewesen sein?

Als wir auf den Herrn Grafen zutraten, fuhr Justus fort, sprach er mit einem anderen Herrn, wandte sich aber sogleich zu uns. Hier bring' ich ihn Dir, Papa; sagte die Komtesse. – Schön, sagte der Graf, und wenn Du uns jetzt eine Minute allein – Ich war im Begriff zu gehen, sagte die Komtesse. Sie hatte dem Grafen die Hand, die er ihr gereicht hatte, geküßt. –

Siehst Du, Justus, wie recht ich hatte, unterbrach ihn der Pfarrer, sein schwarzes Käppchen triumphierend aus der kahlen Stirn rückend; ohne Handküssen geht's da oben ein für allemal nicht. Weiter, mein Sohn, weiter! Was wollte er?

Er hatte mich ein paar Schritte bis in eine der tiefen Fensternischen geführt, wo er sich an das Fensterbrett lehnte, während ich vor ihm stehen blieb. – Wie hat es Ihnen heute bei uns gefallen? fragte er nach einer kleinen Pause, in der mir wieder das Herz zu klopfen begonnen hatte. – Was konnte ich darauf anders antworten als: Herrlich, Herr Graf. – Nun denn, sprach er weiter, da werde ich hoffentlich auf meine zweite Frage eine bessere Antwort erhalten als neulich morgens.

Oho! rief der Pfarrer, das schwarze Käppchen wieder in die Stirn rückend; kam er darauf zurück?

Ja, Hochwürden! Und ich würde es nie bereuen, und er würde dann auch weiter für mich sorgen; und mein Vater solle eine bessere Stelle haben, sobald eine frei würde; und so noch anderes, worauf ich mich nicht mehr besinnen kann, und das ich auch wohl kaum gehört habe, weil ich immerfort dachte, wenn er nun aufhört zu sprechen, was wirst du antworten?

Glaub' ich Dir, mein Sohn! glaube ich Dir! murmelte der Pfarrer. Ach, wäre doch nur Isabel da gewesen!

Sie stand plötzlich neben mir, fuhr Justus, starr vor sich hinblickend, fort; ich hatte sie nicht kommen hören. – Soll ich für Dich antworten, Justus? sagte sie; und soll meine Antwort gelten? – Gewiß, sagte der Herr Graf lachend, was könnte er Besseres thun, als was seine beste Freundin ihm rät? – Mir war die Kehle wie zugeschnürt; sie aber ging noch einen Schritt auf den Herrn Grafen zu, reichte ihm die Hand und sagte: Ich danke Ihnen, Herr Graf; ich komme so gern zu Ihnen und werde so gern hier bleiben, wie Isabel.

Ach, die Hexe! die kleine süße Hexe! murmelte der Pfarrer, sich mit dem Schlafrockärmel die Augen wischend, nachdem er vergeblich nach einem Taschentuch rechts und links hinter sich gegriffen hatte. Sie ist so klug wie Satan – Gott verzeih mir die Sünde! Und ich wette, sie hat Dir die ganze Geschichte eingefädelt. Meinst Du nicht?

Justus blickte wieder starr vor sich hin, ohne zu antworten.

Ja, ja, sagte der Pfarrer, so ist es. Sie hat Dich gern, Justus, und will Dich wieder bei sich haben. Und wenn sie etwas haben will, dann weiß sie es auch zu machen, daß sie es bekommt. Aber schließlich mußtest Du doch etwas erwidern. Was sagtest Du?

Ich sagte, ich wolle mit meinen Eltern sprechen, und wenn sie es erlaubten, würde ich gern kommen.

Bravo! Und hast Du mit ihnen gesprochen?

Heute morgen, ehe Vater in das Revier ging. Ich that es nicht gern; aber es mußte sein, denn der Herr Graf hatte noch zuletzt gesagt, daß er heute bestimmte Nachricht zu haben wünsche. Anfangs wollte Vater von allem nichts wissen. Er sei es nicht gewohnt, von fremden Leuten eine Gunst entgegenzunehmen, und es sei auch nichts für mich: ich könne nicht katzenbuckeln.

Und Handküssen, murmelte der Pfarrer. Und Deine liebe Mama?

Sie sagte kein Wort, sondern sah uns beide nur immer an mit den großen ängstlichen Augen. Plötzlich trat Vater auf sie zu, küßte sie auf die Stirn und sagte: Nun, ich sehe, ihr beide wollt es. So soll es mir denn auch recht sein. Damit nahm er die Flinte von der Wand und ging in den Wald.

Und die Mama?

Sie fiel mir weinend um den Hals, und –

Er konnte vor Schluchzen nicht weiter sprechen; der Pfarrer wischte sich einmal über das andere die Augen, ohne nach dem Taschentuch zu suchen. So saßen beide eine Weile sich gegenüber. Dann sagte der Pfarrer:

Nun, Justus, mein Sohn, ich glaube nicht, daß viel an meinem Segen gelegen ist, aber ich gebe ihn Dir von ganzem Herzen. Es wird nun vollends öde werden um mich her; indessen was ist an mir gelegen? Ich bin dürres Gras, nichts Besseres wert, als ins Feuer geworfen zu werden, womit ich nicht das höllische Feuer meine, Justus, vor dem mich, wenn ich es auch reichlich verdient habe um meiner großen Sünden willen, der Herr in seiner Gnade bewahren wird.

Er bekreuzte sich, fuhr sich abermals über die Augen, lächelte sein gutmütiges Lächeln und sagte: Justus, mir ist von alledem ganz schwach geworden. Möchtest Du mir noch ein Glas einschenken?

Justus war im Begriff es zu thun, als von der Dorfstraße her das Geknirsch von Rädern im Sande ertönte, und alsbald auch ein offener Wagen vor dem Pfarrhause hielt. In dem Wagen saß Isabel.

Alle guten Geister! rief der Pfarrer mit einem erschrockenen Blick durch das offene Fenster, ich darf mich so nicht vor ihr sehen lassen.

Er war aus der Sofaecke emporgefahren und wollte, die Schöße seines Schlafrockes zusammenfassend, davonstürzen. Es war zu spät. Isabel, die aus dem Wagen gehüpft und, ohne Muhme Anna, die ihr entgegenkam, mehr als eines flüchtigen Grußes zu würdigen, in das Haus geeilt war, stand bereits auf der Zimmerschwelle.

Gott zum Gruß, Onkel! rief sie, dem Pfarrer die Stirn zum Kuß bietend, und sich dann sofort zu Justus wendend:

Wir sind auf einer Spazierfahrt: Sibylle, Miß Brown und ich. Ich habe dem Herrn Grafen gesagt, daß wir bei Deinen Eltern vorsprechen wollten. Dein Papa war schon fort; aber von Deiner Mama weiß ich alles. Bei der habe ich Sibylle und Miß Brown gelassen und bin hierher gefahren, um sicher zu sein, daß der Onkel Dir nicht abgeredet hat. Nicht wahr, Onkel, das hast Du nicht gethan? Du bist ein guter Onkel und sollst dafür einen Kuß haben. Da! Und, Muhme, ich denke, Du wirst den Onkel gut pflegen; ich werde jetzt öfter kommen und nach ihm sehen. Adieu, Onkel, ich habe keinen Augenblick länger Zeit. Justus muß mit mir fahren und Komtesse Sibylle guten Tag sagen. Er hat ihr gestern schrecklich den Hof gemacht, mußt Du wissen, Onkel, und ich bin furchtbar eifersüchtig. Komm, Justus! Adieu! adieu!

In der nächsten halben Minute saß sie bereits wieder im Wagen, der unterdessen gewendet hatte, Justus neben ihr. Sie rief noch einmal: Adieu! adieu! und winkte mit der Hand zurück nach den beiden, die in der Thür standen: dem Pfarrer, dessen gutes Gesicht vor freudiger Rührung glänzte, und Muhme Anna, die eine sehr finstere Miene machte. Dann wandte sie sich zu Justus und sagte, ihn mit den großen braunen Augen anstrahlend:

In Deinem Märchen holt das Sonntagskind die Fee aus dem Schloß; und nun holt sie ihn ins Schloß. Ist das nicht lustig? Gott sei dank, daß ich einmal wieder laut lachen darf!

Und sie lachte laut auf und, sich plötzlich unterbrechend, rief sie:

Weshalb lachst Du nicht mit, Sonntagskind?

Mir ist nicht nach Lachen zu Sinn, sagte Justus.

Du bist und bleibst – mein lieber, guter Junge; mein bester, allerbestes Junge, den ich schrecklich lieb habe. Glaubst Du's?

Mädchen brauchen ja nicht die Wahrheit zu sagen, weißt Du.

Dir habe ich sie bis jetzt immer gesagt, rief sie eifrig. Glaubst Du das auch nicht?

Doch!

Ich werde es immer thun. Denn siehst Du, Justus, einen Menschen muß man haben, dem man die Wahrheit sagen darf.

Und der soll ich sein?

Hand darauf! sagte sie und hielt ihm ihre Hand hin.

Er ergriff die kleine Hand, glückselig und zweifelnd zugleich.


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