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Neuntes Kapitel.

Die Heimgekehrten waren alsbald von den Dispositionen, die der Graf getroffen, unterrichtet worden; die Damen sollten dem gräflichen Paare mit dem Zuge, der morgen vormittag zehn Uhr von der T. abging, folgen; Doktor Müller mit seinen beiden Zöglingen bis auf weiteres im Schlosse zurückbleiben. Der Pädagog war mit dem Arrangement innerlich sehr zufrieden: ein paar Wochen ohne die lästige Etikette, welche die Anwesenheit der gräflichen Herrschaften erforderte, zubringen zu dürfen, war ein gutes Ding; die gelben Locken von Mademoiselle Adelaide ebenso lange nicht zu sehen, ein zweites; und er wollte unterdessen versuchen, sich in Buße und Reue die braunen Augen der kleinen Teufelin, die es ihm angethan, aus dem Sinn zu schlagen. – Mademoiselle hatte keine Zeit, sich zu fragen, ob ihr die Sache gelegen sei, oder nicht: die Wagen, welche die Herrschaften nach T. an die Station bringen sollten, waren auf Punkt neun Uhr – in zwei Stunden – beordert. Wenn sie bis dahin mit Hilfe der Kammerfrau und der Kammerjungfern die Frau Gräfin in die nötige Reiseverfassung gebracht hatte, mochte sie Gott danken. Und die halbe Nacht würde mit dem Zusammenkramen der Sachen für sie selbst und die Komtesse hingehen. So hatte sie sich denn auch sofort von ihrem Verlobten endgültig verabschiedet, nicht, ohne ihm dabei zugeraunt zu haben: begreifen Sie jetzt, mein Lieber, wo man den Hebel einsetzen muß, die abscheuliche Intrigantin loszuwerden? Ich sage Ihnen: Armand würde am liebsten den Burschen vergiften. Es war auch ein Skandal. Hoffentlich sind nun der Komtesse die Augen darüber aufgegangen, welche Schlange sie an ihrem Busen nährt. – Aber was soll ich thun? hatte der erschrockene Pädagog zurückgeflüstert. – Erst den Burschen fort und sie hinterher! war die Antwort der eilenden Dame gewesen.

Sie hatte so weit richtig beobachtet: Sibylle waren die Augen aufgegangen, sogar über zweierlei, was sie bis heute abend nur in nebelhaften Umrissen gesehen und das jetzt sonnenklar vor ihren Blicken stand: daß sie Justus liebte und Justus Isabel. Und deshalb hatte sie, als Justus ihr vorhin gute Nacht sagte, ihm die Hand so warm gedrückt und leise zu ihm gesagt: Ich danke Ihnen auch noch viel tausendmal: Ihr Märchen war so wunderschön. Und deshalb hatte sie, als Isabel und Miß Brown sich auf ihre Zimmer zurückzogen, die Freundin noch zärtlicher als sonst umarmt und ihr schweigend ein paar leidenschaftliche Küsse auf den kleinen roten Mund gedrückt.

Vorher hatte Miß Brown, die zu der Gräfin wollte, das Glück gehabt, Doktor Eberhard, der – zum zweitenmale – aus den Gemächern derselben kam, auf dem Korridor zu begegnen. Es war augenblicklich außer ihnen niemand auf dem Korridor, aber sie hörten bereits den Schritt eines Dieners auf der untersten Stufe der niedrigen Treppe, die von dem Flur zu dem Korridor hinaufführte. Unter diesen Umständen war ihnen nichts übrig geblieben, als ihr Wiedersehen nach der vierwöchentlichen Trennung durch ein paar stille, ebenso flüchtige, wie herzliche Küsse zu feiern.

Die Herrschaften mit Doktor Eberhard, den seine erlauchte Patientin jetzt auch nicht eine Sekunde missen wollte, waren – einen Wagen mit der Dienerschaft und dem in fliegender Eile beladenen Gepäckwagen hinter sich,– bereits seit einer Stunde davongefahren; im Schloß räumten und kramten nur noch die Diener unter Aufsicht des Hausmeisters. Allmählich verstummte auch diese Unruhe; das Schloß lag still und bis auf einige wenige erhellte Fenster dunkel da.

Drei von diesen Fenstern, die im oberen Stock nach den Terrassen gingen, gehörten zu den beiden Zimmern – einem kleineren und einem größeren – in welchen Miß Brown und Isabel nebeneinander hausten. Die Thür, welche die Zimmer verband, stand halb offen. Miß Brown packte, manchmal leise singend, dann wieder still in sich hineinlächelnd, an ihrem Koffer, zwischen demselben und den Schränken und Kommoden hin und her gehend. Erst nach geraumer Weile fiel ihr auf, daß nebenan, wo Isabel im Anfang mit der Jungfer, die ihr beim Einordnen ihrer Sachen helfen sollte, gesprochen hatte, sich nichts mehr rührte. Sie hatte das Mädchen nicht weggehen hören; aber jedenfalls war es nicht mehr da, und Isabel bereits zu Bette gegangen – ohne mir gute Nacht zu sagen, das ist doch stark; meinte Miß Brown.

Sie öffnete die Thür vollends und blieb auf der Schwelle lautlos stehen, das Bild, das sich ihrem Blicke bot, ein paar kurze Momente weiter bewundernd anstaunen zu dürfen. Isabel in ihrem weißen faltigen Nachtkleide, die roten Pantöffelchen an den kleinen Füßen, saß auf einem niedrigen Fauteuil an dem Kamin, in welchem noch ein lebhaftes Feuer brannte. Sie hatte ihr langes Haar halb geflochten, die andere, Miß Brown zugewandte Hälfte floß in goldigen Wellen bis hinab auf den Teppich. Die kleinen Hände lagen müßig im Schoß, die großen braunen Augen, die starr vor sich hin blickten, erglänzten in dem Richte des Kaminfeuers. Eine mit einem rosigen Schleier verhüllte Lampe, die auf dem Nachttisch stand, warf von hinten her einen magischen Schein auf die zierliche Gestalt.

Bei Gott, dachte Miß Brown, die Fee des Märchens, nur daß sie nicht so schön gewesen sein kann.

Isabel mußte den auf sie gerichteten bewundernden Blick gefühlt haben. Sie wandte langsam die Augen und sagte mit einem Lächeln, das die lieblichen Züge womöglich noch anmutvoller machte: Setzen Sie sich zu mir, Miß Edith! Welch' schöne Arme Sie haben!

Was gehen sie meine Arme an? erwiderte Miß Brown lachend, indem sie vollends in das Zimmer kam, sich Isabel gegenüber in einen zweiten Fauteuil sinken ließ und zugleich ein Shawltuch, das auf der Lehne gehangen hatte, um die nackten Schultern schlang.

Ich liebe alles, was schön ist, sagte Isabel.

Also vor allem sich selbst; erwiderte Miß Brown.

Bin ich schön? sagte Isabel, das aufgelöste rechte Haar ein wenig zurückstreichend.

Wenn ich nein sagte, würden Sie's doch nicht glauben, Sie eitles kleines Ding. Also sage ich ganz herzhaft: ja! Sie sind sehr schön! und ich muß es auch schon sagen, weil ich daran eine hübsche kleine Moralpredigt für Sie knüpfen will.

Ach, lieber Himmel, sagte Isabel mit einem Aufschlage der schönen Augen, der Edith fast um allen Ernst gebracht hätte, muß das sein? Moralpredigten sind so langweilig!

Aber zweckmäßig zu hören für reizende Ohren, die man so mit Schmeicheleien Tag für Tag anfüllt, daß sie nicht einmal mehr um die kleinste Schattierung röter werden, die Schmeichelei mag auch noch so übertrieben sein.

Dann können Sie von meinen Ohren nicht sprechen, Miß Edith. Ich fühlte, daß sie feuerrot wurden, als Sie vorhin sagten, ich sei sehr schön.

Sie sind eine unverschämte kleine Person, sagte Edith, wider Willen lachend; aber ich liebe Sie und möchte Sie gern einmal recht glücklich sehen; und, glücklich zu werden, das fällt Mädchen, wie Sie eines sind, schwer, furchtbar schwer – ich spreche aus Erfahrung. Soll ich Ihnen noch ein wenig aus meinem Leben erzählen?

Ach ja! rief Isabel; das ist besser als die Moralpredigt.

Gerade was ich erzählen will, ist die Moralpredigt, sagte Edith. Also hören Sie gefälligst aufmerksam zu und denken nicht, wie gewöhnlich, an etwas anderes, das heißt: an sich selbst! – Ich habe Ihnen heute Nachmittag mein Leben in großen Umrissen gezeichnet. Die will ich jetzt ausfüllen. Sie erinnern sich: meine Eltern waren ursprünglich reich; wir wohnten für gewöhnlich auf einem wunderschönen Landsitze in einem Hause, das sich ein Erzbischof von Canterbury vor zweihundert Jahren im gotischen Stil hatte bauen lassen. Sogar die Ställe, Remisen, das Eishaus – alles war in derselben altertümlichen, zugleich schmuckhaften und ernsten Architektur. Die Gründe vor dem Hause und an den Seiten zum Teil waren Park – hier und da wellig, sonst eben – die wundervollsten, vielhundertjährigen Eichen und Buchen. In dem Park, etwas abseits vom Wohnhause, stand eine Kapelle – selbstverständlich gotisch: mit Spitzbögen und gemalten Fenstern, im Sommer überdeckt mit Kletterrosen und wildem Wein. Wieder an einer anderen, näher gelegenen Stelle die Bibliothek, mit in die kannelierten Wände eingelassenen Schränken, über den Schränken große Abbildungen der berühmtesten europäischen Kathedralen in Öl: St. Peter, St. Paul, Westminster und andere. Rechts von der Bibliothek war ein Wäldchen von hohen Fichten, unter denen im Frühling nichts als wilde Veilchen wuchsen. Im Frühling anzuschauen, als ob der Himmel die Erde küßte. Denken Sie sich das köstliche Blau unter den düstern Bäumen – ich kann es nicht beschreiben.

Ich war das einzige Kind. Ich hatte im Park ein Spielhäuschen – das entzückendste Puppenheim: die Nachbildung eines vornehmen Salons mit großem offenen Kamin, Spiegeln und dicken Teppichen, die Möbel von Walnußholz – alles natürlich en miniature, denn der ganze Innenraum maß nur etwa neun zu vierzehn Fuß. Der Rosengarten, der mindestens zwei englische Acres Land bedeckte, war ganz rund und ringsum eingehegt mit einer hohen Hecke von Hagedorn. In der Mitte war ein niedriger Hügel, auf dem ein mit Epheu und wilden Rosen bedeckter Baum stand. Es gab da auch andere Blumen als Rosen; aber Rosen waren in Überfülle, besonders im Juni, wo die auf der Landstraße vorüberfahrenden Wagen oft anhielten, und die Insassen sich nicht genug über diese Wildnis von Farbe und Duft wundern konnten. Es war ein Paradies. Wenn ich sonst stundenlang liegen konnte, das Gesicht der Erde zugewandt, die Hacken in der Luft, dem Gewimmel in einem Ameisenhaufen zuschauend, oder die leise Bewegung der Grasspitzen beobachtend, ernst, nachdenklich über ich weiß nicht was – in diesem wundervollen Garten von Junirosen ergriff mich eine Extase und hob mich über mich selbst. Oft, wenn ich am frühen Morgen hierher ging und den wundersamen, aus Duft und Farbe gewobenen Regenbogen der tausend und abertausend bunten Rosen sah, von denen viele die überreifen Kelche bei dem Echo einer Menschenstimme auf den Boden gestreut haben würden, schüttelte ich die Stämme und ließ einen Schauer von duftigen tauigen Blättern auf meine Haare, mein Gesicht, meinen Hals herabregnen. Ich glaube jetzt, daß, was ich meine Sinnlichkeit nenne, unter diesen Junirosen geboren wurde. Der ganze Besitz war mit einer immergrünen Hecke umzogen, aus welcher alle zehn Schritte wieder ein Rosenbaum ragte. Rechts, links und hinter unserem Platze waren andere Landsitze, und gerade gegenüber, jenseits des Privatweges, der zu diesen verschiedenen Landsitzen führte, war eine chaotische Wildnis von Park und von Blumen, die in Samen schossen, und Epheu und wildem Wein, die rankten, wohin sie wollten, denn das Haus, das dazu gehörte, war vor Jahren niedergebrannt, und ebensolange hatte sich in den verwilderten Gehegen kein Mensch sehen lassen, außer mir, die ich im Frühling oft hineinschlüpfte, die ersten Blumen zu pflücken.

Aber ich wollte Ihnen ja von meinem Leben erzählen, und doch, auch dies ist ein Stück Leben, ja, ich meine, Sie würden das Spätere kaum verstehen, ohne zu wissen, wo und wie ich aufgewachsen bin: an welchem paradiesischen Orte, in wie breiten, reichen Verhältnissen.

Wie ich aussah? Nun, liebstes Kind, ich weiß es kaum. Man hat mir später gesagt: ungewöhnlich, gar nicht wie andere. Ich war sonnverbrannt und je nach den Empfindungen, die mich beherrschten, glühend rot oder tödlich bleich – gerade wie Sie, Liebste. Mein Haar, das ich in zwei dicken Flechten trug, war so lang, daß, wenn ich es löste, es bis zu meinen Knien herabfiel und mir das Aussehen der Damen auf dem Advertisement eines Haardoktors gab – gerade wie bei Ihnen.

Mein Temperament? Für gewöhnlich war ich melancholisch, aber wenn der Übermut mich packte, ging er völlig mit mir durch. Ich habe nie eine Tanzstunde, nie eine Reitstunde gehabt – tanzen und reiten können schien mir angeboren: gerade wie Ihnen. Überhaupt habe ich bis zu meinem zwölften Jahre gar nichts gelernt, nicht einmal schreiben und lesen. Meine Eltern hielten dafür, daß es besser für mich sei, wenn ich mich draußen umhertummelte. Ich war derselben Meinung; auch meine alte irische Amme war es, mit der ich zusammen im zweiten Stock in einem schönen Giebelzimmer schlief, und die immer mit ihrem Kruzifix und ihrem Rosenkranze zu Bett ging. Als ich dann eine Gouvernante bekam, mußte ich natürlich lernen – sehr ungern, denn für meine kindische Phantasie galten als Bücher nur Horns Einleitung in die heilige Schrift und Gibbons Geschichte vom Sinken und Fall des römischen Reiches, aus welchen der Vater des Abends stundenlang vorlas. Das erste Buch, das mich interessierte, war Longfellows Hiawatha. Meine Gouvernante las es mir vor, wobei sie fortwährend in gelinder Verzweiflung war, weil meine Hacken meistens höher lagen als mein Kopf, und ich, wenn sie mir etwas erklären wollte, sagte: ich will es nicht verstehen, ich will nur die Musik hören. Musik liebte ich sehr, und man hat mir erzählt, daß ich, als ich drei Jahre alt war, keine Moll-Accorde konnte anschlagen hören, ohne in heftiges Schluchzen auszubrechen.

Nun endlich zur Hauptsache: wie gefiel ich den anderen Leuten? Und nun merken Sie auf, liebes Kind: jeder Knabe der Nachbarschaft war in mich verliebt, außer einen, der nur infolgedessen wunderbar erschien, bis ich herausgefunden zu haben glaubte, daß er dumm sei. Wenn ich kokett war, so wußte ich es nicht, hatte jedenfalls nicht die Absicht es zu sein. Ich nahm die Tribute der Jungen: Sträuße, Vogeleier, kleine Drachen und so weiter mit einer Gefälligkeit entgegen, welche sagte: dies ist mein gutes Recht. Mein glühendster Verehrer, als ich zehn oder elf war, lebte in dem Landsitze hinter dem unseren und hatte sich mit Todesverachtung ein Loch in unsere Hecke geschnitten, durch das wir korrespondierten wie Pyramus und Thisbe weiland. Wenn wir alt genug wären, wollten wir uns heiraten – ein Pakt, der mich nicht verhinderte, ihm alle vier Wochen einmal den Laufpaß zu geben. Als ich dreizehn war, liebte ich einen jungen Kavalier von fünfundzwanzig, der Liebeslieder sang, Verse schrieb und einen Schnurrbart hatte. Ich glaube, daß damals etwas von dem Duft der Junirosen in meinem Herzen war; aber ich wurde mir darüber nicht klar. Ich war eben vierzehn geworden, als zwei Herren, die viel in unserem Hause verkehrten, um mich anhielten, der eine war vierunddreißig, der andere ein paar Jahre älter als mein Vater. Mein Vater sagte, ganz in meinem Sinne, für mich nein. Der antiquarische Anbeter nahm es sich so zu Herzen, daß er sich zu Bett legte und es Monate hindurch nicht wieder verließ. Als ich fünfzehn geworden und in die Gesellschaft kam, wurde die Sache noch schlimmer: Männer von allen Altersstufen verliebten sich in mich, und wenn mir das auch bis zu einem gewissen Grade Spaß machte und ich die Huldigungen schwerlich hätte missen mögen, so erfüllten sie mich doch mit einem pessimistischen Hochmut, der von Herzlosigkeit nicht eben weit entfernt war. Und dabei verschmachtete ich nach zärtlicher Liebe. Oft hing mir das junge thörichte Herz wie Blei in der Brust, und ich weinte heiße, bittere Thränen.

Das war die glanzvolle, öde Höhe meines Lebens – mit sechzehn Jahren! Dann kam der rapide Niedergang. Ich habe schon erzählt, daß meine Eltern damals kurz, hintereinander starben, und schlimme Verwandte, unter dem Vorgeben, bestens für meine Zukunft sorgen zu wollen, mein Vermögen binnen Jahresfrist durchbrachten. Mit kaum siebzehn stand die einstige Erbin allein in der Welt,– bettelarm. Es hieß: Gouvernante werden. Auf bevorzugte Stellen konnte ich keinen Anspruch machen, dazu hatte ich zu wenig gelernt. Also ein Mittelding zwischen Gouvernante und Bonne, wie sie es in Deutschland nennen. Meine Anziehungskraft für die Männer schien ich nicht verloren zu haben; aber sie meinten es entweder nicht ehrlich und konnten es nicht ehrlich meinen, weil sie zu reich und vornehm waren; oder sie meinten es ehrlich, und ich – konnte meinen Rosengarten nicht vergessen. Nicht vergessen, in welchem Paradies ich aufgewachsen war, und daß Männer, die Millionen besaßen, vergeblich zu meinen Füßen geweint hatten. Ich war eine Prinzessin, die, aus ihres Vaters königlichem Erbe vertrieben, Sklavinnendienste verrichten mußte. Das war ein Schicksal, dem ich nicht hatte entrinnen können. Aber Frau eines Vikars, oder Landarztes, oder kleinen Pächters zu werden, dem konnte und wollte ich entrinnen.

Einer jener, von denen ich annahm, daß sie es nicht ehrlich meinten und meinen könnten, war Sohn und Erbe eines Lords, in dessen Familie ich jene Zwitterstellung bei den jüngeren Kindern bekleidete. Es war ein schöner junger Mann, den ich wohl leiden mochte, aber ein Wüstling. Er schwur mir, daß er sich bessern wolle, ich allein ihn retten könne; daß er Himmel und Hölle in Bewegung setzen werde, bis ich die Seine sei. Ich glaubte nicht an seine Liebe und nicht an seine Besserung. Vielleicht hatte ich in dem letzteren recht; in dem ersteren nicht. Er hatte mich wirklich geliebt. Verzweifelt über seine Zurückweisung, war er heimlich von England entwichen nach Indien, wo er, wie die Zeitungen durchblicken ließen und seine Kameraden bestätigten, in den Kämpfen mit den Eingeborenen den Tod gesucht und gefunden hatte.

Sie haben mich heute nachmittag gefragt, liebes Kind, ob ich unglücklich geliebt habe. Bis jetzt konnte ich, obgleich der letzte Fall, wie Sie mir zugeben müssen, wenigstens tragisch endete, noch nicht von eigentlichem Unglück sprechen. Dazu war mein Herz in all diesen Affairen doch zu unbeteiligt gewesen. Das wirkliche Unglück kann erst da eintreten, wo man selbst von der Leidenschaft erfaßt ist.

Das war mein Schicksal zwei Jahre später – in Frankreich, wohin mich mein wechselvolles Leben geschleudert hatte – in die Familie einer verwitweten, sehr reichen Marquise mit mehreren Töchtern, die bald meine Freundinnen wurden, und einem Sohne, der mich versicherte, mich vom ersten Augenblicke an geliebt zu haben. Ich glaube ihm, denn – mir war es mit ihm nicht anders ergangen. Dies war nun eine wahrhaft tragische Liebe hinüber und herüber, von Anfang bis zu Ende. Réné war, als wir uns kennen lernten, bereits verlobt mit einer jungen Komtesse aus der Nachbarschaft, einem schönen, höchst edlen Wesen, an dem die böswilligste Böswilligkeit nichts zu tadeln gefunden hätte. Warum Réné mich ihr vorzog – Gott mag es wissen. Ich habe es an nichts fehlen lassen, ihm seine Pflicht beständig vor Augen zu halten; aber es bedurfte dessen nicht, denn er war selbst ein durchweg vornehmer, sich seiner Pflichten völlig bewußter Mensch. Wir waren grenzenlos unglücklich. Dennoch – in der Maßlosigkeit unseres Unglückes – war er zuletzt entschlossen, vor Viktorine mit einem offenen Geständnis hinzutreten. Da büßte ihr Vater, der Graf, in einer Finanzspekulation, zu der er sich hatte verlocken lassen, sein ganzes Vermögen ein. Nach französischen Begriffen hätte Réné jetzt sich zurückziehen können, und wiederum bedurfte es meines Zuredens nicht, ihn zu überzeugen, daß dies eine Schmach sei, die er nicht auf seinen reinen Namen nehmen dürfe. Er schien gefaßt, aber schien es leider nur. Oder er glaubte es zu sein und hatte seine Kraft überschätzt. Wie sehr, sollte ich bald erfahren: am Abend des Tages vor der Hochzeit fand man ihn an einer entfernteren Stelle des Parkes – am Rande einer Quelle, welche dort aus einem Felsen kam, und deren Gemurmel oft das Flüstern unserer Liebesschwüre begleitet hatte – tot. Er hatte sich eine Kugel durch sein edles, geliebtes Haupt gejagt. –

Edith schwieg, mit weit geöffneten Augen in das erlöschende Feuer des Kamines starrend, als sähe sie dort das Schreckbild, das ihre Erinnerung heraufbeschworen. Nach einer Weile strich sie sich mit der Hand über die Stirn, versuchte ein Lächeln, das nur zu einem Zucken der Lippen wurde, und fuhr fort:

Sie können sich denken, liebes Kind, daß nach dieser Katastrophe meines Bleibens in der Familie nicht mehr war. Aber, wohin ich mich auch wandte, besser: wohin mich auch der Strom meines launenhaften Geschickes trieb, es blieb immer dasselbe: die Männer, jung und alt, verliebten sich in mich, und, wenn diese Allerweltshuldigungen mir schon früher nur ein mäßiges Vergnügen bereitet hatten, so waren sie mir jetzt, nachdem ich erfahren, was wahre Liebe sei, zum Ekel. Dennoch – ein schauderhafter Widerspruch – ich konnte die Huldigungen nicht mehr entbehren. Wenn sie einmal ausblieben – was denn doch vorkam – es gab und giebt ja noch immer verständige, meinetwegen kaltblütige Männer – so überkam mich eine seltsame Unruhe, und das krankhafte Verlangen, was man mir verweigern zu wollen schien, zu erzwingen als einen Tribut, der mir von Rechts wegen zukam. Ich war bis dahin keine Kokette gewesen, jetzt wurde ich eine, jetzt war ich eine, und ich wußte es. Sie mögen mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß es mich in meiner Selbstachtung nicht erhöhte. Ich war mit meinen fünfundzwanzig Jahren dahin gekommen, wo Sie ja, es muß gesagt sein – alles was ich erzählt, zielt darauf hin – ich will Ihnen die lange Geschichte nicht umsonst aufgetischt haben – wo Sie mit Ihren vierzehn Jahren jetzt schon angelangt sind.

Miß Brown hatte, als sie diese letzten Worte langsam und mit Nachdruck sagte, das schöne Kind ihr gegenüber fest ins Auge gefaßt; aber vergeblich spähte sie nach dem Eindruck, den zu machen sie gehofft hatte. Isabels Gesicht blieb so ruhig, als ob gar nicht von ihr, sondern von einem gleichgültigen Dritten die Rede sei; und in demselben ruhigen Tone sagte sie:

Ich verstehe nicht recht, wo ich jetzt schon angelangt sein soll. Sie sagen, Sie sind eine Kokette gewesen. Was ist das?

Miß Brown war sprachlos. War dies Naivetät, so hatte sie mit ihrer Erzählung eine große Dummheit begangen, ja, sich an der Unbefangenheit und Unschuld dieses Kindes schwer versündigt. War es Raffinement, fiel freilich die Versündigung fort; aber die Dummheit blieb: wer trägt denn Eulen nach Athen? Vielleicht lag die Wahrheit, wie so oft, in der Mitte: die Kleine war weder so unschuldig, wie sie sich gab, noch so gewitzt, daß die Frage, die sie eben gethan, die reine Verstellung und Lüge war. Darauf hin wollte sie ihre Antwort einrichten und so sagte sie:

Sie wissen nicht, was das ist: eine Kokette, und wenn Sie doch nach meiner Behauptung, die ich so weit aufrecht erhalte, eine sind, so sind Sie eben eine unbewußte Kokette. Gott sei Dank! denn das ist nicht schlimm, weil es die pure Natur ist, weil wir alle kokett sind – alle Menschen, darf ich sagen. Jeder will gefallen; jeder, sobald er in seiner Selbsterkenntnis und Welterfahrung irgend so weit ist, und so weit er es ist, wägt und prüft die Mittel, durch die er erfahrungsmäßig gefallen hat, oder zu gefallen hofft, und bringt sie nach dem Grade seiner Geschicklichkeit in Anwendung. So weit ist alles in der Ordnung; ja, die Gesellschaft wird dadurch erst Gesellschaft, zum wenigsten eine, in der es sich mit Behagen leben läßt. Hier kann von einem Betrug nicht die Rede sein, so wenig wie im Handel und Wandel, so lange die Leute für gute Ware gutes Geld aus- und eintauschen. Der Betrug ist erst da, wenn man für gutes Geld wissentlich schlechte Ware, oder umgekehrt: für gute Ware wissentlich schlechtes Geld giebt. Oder, um es ins Moralische zu übersetzen: wenn man bei anderen geflissentlich eine Liebe, eine Leidenschaft erweckt und nährt, von der man weiß, daß man sie nicht erwidern kann, ja, die nicht zu erwidern man von vornherein gewillt und entschlossen ist. Nun ist aber auf der Welt der Gefahr, in diese Sünde zu verfallen, die dann zum Laster wird, niemand so ausgesetzt wie ein schönes Mädchen, da alle Welt – ich meine: die ganze Männerwelt,– sich verschworen zu haben scheint, es zu einer solchen Sünderin zu machen. Und sehen Sie, Kind, vor dieser Gefahr, der ich leider nicht entgangen bin, wollte ich Sie warnen. Weiter nichts; und wenn ich mehr gesagt und daß Sie der Gefahr ebenfalls schon erlegen sind, so nehme ich das hiermit feierlich zurück und bitte es Ihnen auf meinen Knien ab.

Sie hatte sich bei diesen letzten Worten von ihrem Sessel herab zu Isabels Füßen gleiten lassen, mit beiden Armen, von denen der Shawl herabgeglitten war, die zarte Gestalt umschlingend und einen Kuß auf die roten Lippen drückend.

Und nun, sagte sie, sich erhebend, gehen Sie zu Bett und denken Sie jetzt nicht weiter an das, was Ihnen Ihre alte geschwätzige Governeß vorgeredet hat! Wir sprechen gelegentlich weiter über das Thema, und dann sage ich Ihnen vielleicht auch etwas, was zu sagen ich Ihnen eigentlich schuldig bin nach allen Konfidenzen, die ich Ihnen schon gemacht habe.

Isabel hob den Kopf ein wenig und sagte!

Es ist nicht mehr nötig, Miß Edith; ich weiß es.

Was?

Daß Sie Doktor Eberhard lieben.

Die Engländerin starrte die Kleine mit weit aufgerissenen Augen sprachlos an.

Vor vier Wochen, fuhr Isabel fort, als der Doktor am nächsten Tage in seine Ferien gehen wollte – wir spazierten alle zusammen in dem Wäldchen neben dem Teich – Die waren mit ihm ein wenig zurückgeblieben – ich wandte mich um – ganz zufällig – und in dem sonst sehr dichten Gebüsch zwischen Ihnen beiden und uns war gerade eine Lücke. Ich habe mich so gefreut – ich mag ihn so gern und ich habe Sie so lieb und ich habe keinem Menschen ein Sterbenswort gesagt, das können Sie sich denken – Sie glauben mir nicht?

Doch, doch! murmelte Miß Brown.

Sie stand noch immer mit derselben verwundert-erschrockenen Miene. Plötzlich fing sie an zu lachen.

Ja, ja! rief sie, Doktor Eberhard ist mein Verlobter, und Sie – Sie sind ein Dämon.

Damit war sie zur Thüre hinaus, die sie hinter sich zuzog.

Isabel war sitzen geblieben. Langsam flocht sie die rechte Haarhälfte und saß noch ein Weilchen so nachdenklich da, dann warf sie den Zopf in den Nacken, stand auf, löschte im Vorübergehen die Lampe und huschte in ihr Bett. Da lag sie wieder, regungslos in den Kamin blickend, wo nur noch von Zeit zu Zeit blaue und gelbe Flämmchen durch die Aschendecke züngelten.

Ja, ja, wiederholte sie bei sich, ich habe ganz recht gethan; ich mußte es ihr sagen. Das hat ihr Respekt vor mir gegeben – es ist immer gut, wenn die Leute Respekt vor einem haben. Da lassen sie einen ungeschoren. Eine kuriose Geschichte, die sie mir da erzählt hat – der Rosengarten, das muß wunderbar gewesen sein – und die vielen, vielen Liebhaber – ob ich wohl auch so viele haben werde? – recht viele –, junge und alte – das ist ganz gleich – Spaß macht es doch – so viel Spaß – und wenn sie sich erschießen – der Réné – Gott, ist der dumm gewesen! – sie könnte jetzt Frau Marquise sein – ob Baron so viel ist, wie Marquis? – Axel will mich heiraten – Frau Baronin Schönau – das klingt doch auch ganz gut – und ich mag ihn leiden – er ist immer so lustig und will mich auf Händen tragen – der arme Justus – dem wird es sehr nahe gehen – der liebt mich wirklich. Ob er auch sich zu Tode weinen wird, wenn seine Fee gestorben ist? – es war so rührend – wahrhaftig, ich hätte beinahe geweint – nur daß Armand mich immer so anstierte – war der komisch! – der Ogreprinz! – ob er es wohl gemerkt hat? – es sollte mir leid um Justus thun, obgleich er wirklich nicht hierher gehört – so wenig wie Feen in ein Jägerhaus – wie das von seinem Vater – Feen gehören in den Wald – nein! in einen Rosengarten! – der aus Farbe und Duft gewobene Regenbogen! – All die tausend, tausend bunten Rosen! – Und des Morgens da hineinzugehen und sich die taufrischen Blüten auf den Kopf und den Hals und die Schultern regnen zu lassen – von den tausend Rosen – den tausend bunten Rosen –!


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