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Elftes Kapitel.

Kirche und Pfarrhaus lagen am äußersten Ende des langgestreckten Dorfes, das Justus, um zum Walde zu gelangen, ganz durchschreiten mußte. Es war sein täglicher Weg, und was er rechts und links sah, hätte kein Interesse für ihn gehabt, auch wenn er es weniger oft gesehen hätte: baufällige, strohgedeckte Häuschen, an die der Schweine- oder Ziegenstall geklebt war; vor den Häuschen verwilderte Gärtchen und breite Düngerhaufen, auf denen die Schweine wühlten und die Hühner kratzten; in den Thüren, auf der Schwelle hockend, alte Männer und Frauen, mit den kleineren Kindern auf den Knien, während die größeren im Sande und Schmutz der Dorfstraße spielten. Vor einer der etwas besser gehaltenen Hütten stand ein hochgewachsenes schlankes Mädchen. Es hatte ihn kommen sehen und nickte ihm zu, als er nahe genug war. Er trat an sie heran und reichte ihr die Hand. Sie hatten als Kinder oft miteinander gespielt: die Marthe Anders, Isabel und er; aber schon längst hatte Marthe, die ein Jahr älter war als er, keine Zeit mehr zum Spielen: sie mußte die jüngeren Geschwister warten, während der Vater und die Stiefmutter in der Fabrik arbeiteten. Er hatte ihr gesagt, daß er vom Pfarrer komme, der krank sei.

Der ist jetzt immer krank, sagte das Mädchen; er sehnt sich nach Isabel; da betrinkt er sich jeden Abend, oft schon des Morgens.

Sie hatte das ganz ruhig gesagt, keineswegs böswillig oder spöttisch; es war ja eine Thatsache, die Justus am wenigsten hätte bestreiten können, dennoch fühlte er sich verletzt. Das Mädchen bemerkte es nicht und fuhr in ihrer ruhigen, bestimmten Weise fort:

Es ist nicht recht von Isabel, daß sie aufs Schloß gegangen ist, wo sie nichts zu suchen hat, während sie sich zu Hause nützlich machen könnte. Aber arbeiten hat sie nie gewollt.

Es sind nicht alle Mädchen wie Du, sagte Justus.

Ich hätte auch lieber einmal einen freien Tag, erwiderte sie; aber wenn man sieht, wie der Vater sich plackt, mag man auch nichts mehr von Vergnügen wissen.

Eine heisere kreischende Stimme von der Dorfstraße her unterbrach das Gespräch der jungen Leute. Es war die alte Kubitzka, Sie stand da, in ihren Lumpen, mit den triefenden roten Augen, dem schmutzigen blauen Fetzen um die grauen zottligen Haare greulicher anzusehen als je, grinsend, gestikulierend, schnatternd.

Was sagt sie? fragte Justus, der polnisch nur schlecht verstand.

Unsinn! erwiderte das Mädchen: wir würden noch einmal Mann und Frau werden. Du brauchst nicht zu erschrecken; sie sagt es immer, wenn sie zwei junge Leute beisammen stehen sieht.

Weshalb sollte ich da erschrecken?

Weil Du Isabel liebst. – Ich muß hinein und nach den Jungen und dem Essen sehen.

Sie hatte ihm wieder die Hand gereicht – eine harte große Hand mit etwas stumpfen Fingern – und war in das Häuschen zurückgetreten, aus dem das Zetergeschrei sich balgender kleiner Jungen erschallte. Justus setzte seinen Weg fort und hatte bald den Wald erreicht.

Draußen hatte die Spätsommersonne fürchterlich heiß gebrannt; hier im Walde im Schatten der breitästigen Tannen war es wonnig kühl. Und mit der wonnigen Kühle nahmen die alten Märchenträume wieder den gewohnten Weg in seine Seele: vom Ogre, der den Wald auffraß, um die Fee, die nur im Walde leben konnte, zu zwingen, seinen Ogre-Sohn zu heiraten. Und vom Jägerburschen, der die Fee liebte, und den die Fee liebte, und der bei nächtlicher Weile in das Schloß drang unter tausend und abertausend Gefahren und die beiden Ogres – Vater und Sohn – tötete im Schloßhof beim Mondenschein. Wie wär's, wenn er die alte Kubitzka noch anbrächte? Ein Märchen ohne Hexe, das ist doch nichts; und gab es eine richtigere Hexe als die alte Kubitzka? Sie steht natürlich auf seiten des Ogre. Aber dann wird die Gegenpartei zu stark, wenn der tapfere Jägerbursch gar keine Hilfe hat. Welche? Marthe Anders? Sie ist so gut und brav. Gute und brave Mädchen können einem Helden im Märchen sehr nützlich werden. Aber wie? wie?

Was ihm das ganze Gefüge der Dichtung auseinanderzusprengen gedroht hatte – Isabels Übersiedelung nach dem Schlosse – war jetzt zu einem neuen Motiv geworden, das dem Ganzen erst den rechten Schwung und Glanz verleihen zu wollen schien. Der Ogre hatte versprochen, den Wald nicht weiter aufzufressen und überhaupt Frieden zu halten, wenn die Fee sich dazu verstände, ein einziges Mal bei einem der Feste im Schlosse zu erscheinen und dreimal mit dem Ogre-Prinzen im Saale herumzutanzen. Der Jägerbursch hatte sie himmelhoch gebeten, es nicht zu thun; aber eigensinnig, wie sie war, hatte sie es doch gewagt, und natürlich hielt sie nun der Ogre in einem hohen eisernen Turme gefangen, und zwischen ihr und ihrem Geliebten hätte es keine Verbindung gegeben, wäre nicht der Falk gewesen, den er abgerichtet, und der zu ihr durch das schmale Fenster in die Turmstube flog und ihr seine Briefe brachte, um mit ihrer Antwort zurückzusausen. Dies war ihre letzte Botschaft:

»Liebstes Sonntagskind! Ich erwarte Dich morgen bestimmt und verspreche Dir, daß es sehr nett werden wird. Kommst Du nicht, hast Du auf immer verscherzt die Liebe Deiner Isabel.«

Der Knabe starrte auf das zierliche Blatt, das er aus der Tasche genommen. Es hatte ihn jäh aus seinem poetischen Traum gerissen. »Ich erwarte Dich morgen« und »Kommst Du nicht« und so weiter – das ging zur Not; aber »ich verspreche Dir, daß es sehr nett werden wird« – nein, das paßte ganz und gar nicht. »Sehr nett,« so schreibt keine Fee, wenn Feen überhaupt Briefe schreiben, was doch sehr fraglich war. Dabei fiel ihm ein, was der Pfarrer von ihrer Handschrift gesagt hatte, und daß sie noch kein kleinstes Wörtchen an ihn geschrieben, und wie dem guten Mann, als er es sagte, die Augen übergelaufen waren. Mochte sie tausendmal die reizendste Fee sein, ein gutes Mädchen war sie nicht und hatte nur immer schön mit ihm gethan, damit er ihr ihre Aufgaben machte. Morgen sollte er kommen, warum? damit die Leute sähen, daß sie nicht stolz sei und sich ihres alten Spielkameraden nicht schäme. Er würde nicht kommen und sich von den vornehmen jungen Herren auslachen lassen, mochte er dann auch für immer ihre Liebe verscherzen. Ihre Liebe! pah!

Im Begriff, das Blatt, das er noch in der Hand hielt, zu zerreißen, vernahm er Schritte hinter sich. Eilig steckte er es in die Tasche und sprang empor. Es war Marthe Anders. Sie hatte einen Korb in den Händen. Ihr bleiches Gesicht war von Schweiß überperlt; ihr Atem flog. Sie wollte ihrem Vater, der auf dem Platz, wo die jungen Tannen für die Fabrik geschlagen wurden, die Mittagswache hatte, das Essen bringen.

Gieb mir den Korb! sagte Justus; ich habe nichts zu thun, und Du wärst gewiß gern bald wieder zu Haus.

Freilich, sagte das Mädchen; ich habe gerade heute alle Hände voll: Wäsche – und eben ist Boleslav von der Treppe gefallen und hat sich das ganze Gesicht zerschunden. Verschütt' nur nichts im Gehen!

Sie hatte ihm den Korb gegeben, strich sich das Haar aus der nassen Stirn, holte tief Atem, und blickte ihn mit den grauen Augen unter den schweren schwarzen Braunen starr an.

Wolltest Du noch etwas? fragte er.

Nein! sagte sie. – Und dann: ja doch! Ich wollte Dir sagen: Geh morgen nicht auf das Schloß!

Wer sagt Dir, daß ich es will?

Ich weiß es; und sage noch einmal: thu's nicht!

Damit hatte sie sich gewandt, und alsbald war auch die schlanke Gestalt der Eilenden zwischen den Bäumen verschwunden.


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