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Sechsundfünfzigstes Capitel.

Leo hatte, als er mitten in der Nacht so eilig aus der Residenz aufbrach, nicht bedacht, daß der Courierzug keinen Anschluß an Tuchheim hatte. Erst unterwegs fiel ihm das ein; aber er hoffte auf der letzten Station einen Wagen zu erhalten, auf welchem er die noch übrige Meile schnell würde zurücklegen können.

Es war für ihn eine entsetzliche Reise, die fünfstündige Fahrt, und der Courierzug, wie schnell er auch auf den Schienen dahin schoß und durch die Weichen der Bahnhöfe rasselte, schien dem Ungeduldigen, Verzweifelnden nicht von der Stelle zu kommen. Manchmal stöhnte er laut und richtete sich aus seiner Ecke auf und sah die Funken aus dem Schlot der Locomotive an dem Fenster vorüber stäuben, oder die undeutlichen Umrisse von Häusern, Bäumen, oder ein schwarzes Gewässer, auf dessen Fläche der matte Schein der eben aufgegangenen Mondsichel unheimlich glitzerte. Immer dasselbe dunkle, gespenstische Bild mit kaum merklichen Variationen; und wenn er sich wieder in die Ecke zurücklehnte, immer dieselben finsteren Gedanken, die gespenstergleich heranhuschten und anderen Gespenstern Platz machten, und dann wieder da waren, als könnte man ihnen nicht oft genug in die hohlen Augen schauen.

Da war die eben durchlebte Scene im kerzenlichterfüllten, menschenwimmelnden Salon; die bleichen, erstaunten, erschrockenen Gesichter, die alle auf ihn gerichtet waren, die alle wissen wollten, wie er sich in dieser Situation benehmen würde. Nun freilich: es ist ein merkwürdiger Moment, wenn eine längst vorbereitete, sorgsam gegrabene Mine endlich in die Luft fliegt; den Mineurs selbst ist nicht gut dabei zu Muthe; sie machen, daß sie davonkommen. Aber vielleicht fällt doch noch so ein Felsblock ein wenig über die Berechnung weit weg und zerschmettert dem Mineur den schlauen, verrätherischen Schädel. Erst Ferdinand, der betrunkene Soldat, der sich so gutwillig in's Feuer schicken ließ, und hinterher sein nobler Officier! Auf Tod und Leben! Ja wohl! Aber es wird sich zeigen, wessen Leben zäher ist.

Was wird der König sagen, wenn er es erfährt? Oder braucht er es auch nicht mehr zu erfahren? Ist die Farce mit allerhöchster Genehmigung in Scene gesetzt? Er hatte vorgestern Morgen die Miene eines armen Sünders, und lange schon hat er nur mit Widerstreben gehorcht. Man muß unverwandt die Augen auf die Bestien gerichtet haben, sonst schnappen sie zu. Aber ich will unter sie schlagen, daß sie in heulender Angst an den Gittern in die Höhe springen.

Und so will ich es mit den unruhigen Köpfen in Tuchheim machen. Ich will doch sehen, ob sie auch mir zu trotzen wagen, wie dem alten Manne. Die Sache kann so schlimm nicht stehen, darf so schlimm nicht stehen. Ich will nicht, daß meine Feinde sagen können: Seht ihr, er hat im Kleinen nichts vermocht, was prahlt er denn mit dem Großen, das er vollbringen will! Auch sie hat mir das vorgeworfen, auch sie! Als ob man eine Welt in einem Tage schaffen könnte. Ich gehe zum Vater, das heißt: Ich gebe dich auf. Womit habe ich das um sie verdient? Ist es eitler Liebeswahn, ist es ein schnödes Gelüst gewesen, was mich zu Josephe gezogen hat? Soll, was den Herrschern erlaubt ist, auf daß sie besser ihrer Herrschsucht fröhnen können, dem Kämpfer für Freiheit und Recht verboten sein?

So zürnte und knirschte Leo, und dann sah er wieder Silvia's bleiches Gesicht, wie er es vorgestern Abend gesehen hatte, und er empfand eine unendliche Angst um sie und eine namenlose Sehnsucht, sie wiederzusehen, und wäre es das letzte Mal für immer, für immer.

Er stand wieder auf und ließ das Fenster herunter. Der Zug fuhr eben in einen Bahnhof. Es war die Station vor Tuchheim. Der Conducteur öffnete die Thür und mahnte zur Eile; der Zug gehe gleich weiter. Leo sprang auf den Perron, mit ihm Philipp, der die langen Stunden hindurch dagesessen und sich schlafend gestellt hatte, um den Herrn nicht zu stören.

Noch immer, wie zwei Stunden vorher, ging es sehr lebhaft auf dem Bahnhofe zu; eben war noch ein Extrazug durchgekommen, der eine Spritze aus einem entfernteren Dorfe und noch mehr Militär nach Tuchheim geführt hatte. Ein Mann meinte: die Soldaten hätten sie auch in Gottes Namen zu Hause lassen können; die stehen doch blos dabei und reiben sich die Hände.

Leo hielt den Mann an und fragte, was es gebe. Der Mann, ein Unterbeamter auf dem Bahnhofe, der die ganze Nacht nicht zu Bett gekommen war, konnte ihm Alles sagen; es traten aber auch noch Andere hinzu, die ein Wort mitsprechen wollten; in fünf Minuten erfuhr Leo die Ereignisse der Nacht: den Aufstand der Arbeiter, den Tod des Försters, den Brand der Fabrik und des Dorfes.

Schaffen Sie mir eine Möglichkeit hinüber zu kommen, rief er, kann ich einen Extrazug haben?

Nein Herr, sagte der Beamte, wir haben augenblicklich keine Maschine auf dem Bahnhofe; die letzte ist eben mit den Soldaten abgegangen.

So besorgen Sie mir einen Wagen.

Der Mann zuckte die Achseln: Wir könnten einen Wagen nur aus dem nächsten Dorfe haben; bevor er hier ist, vergeht eine Stunde, wenn wir überhaupt noch einen auftreiben. Bis dahin kann der Herr beinahe zu Fuße in Tuchheim sein; es geht ein Richtweg über den Berg durch den Wald, der viel kürzer ist als die Landstraße und selbst als die Eisenbahn. Ich will Ihnen einen Menschen mitgeben.

Ich danke; ich weiß selbst in der Gegend Bescheid.

Sie können auch gar nicht fehlen. Gleich hier durch das Feld bis an den Wald, wo der Wegweiser steht. Dann verfolgen Sie den Pfad links in den Wald hinein immer fort, ohne abzubiegen; dann kommen Sie an den Tuchheimer Bach, über den Bach ist ein Steg. Der Herr muß sich da in Acht nehmen; der Steg ist schlecht und der Bach an der Seite häßlich tief; hernach auf eine Wiese –

Ich kenne den Weg! Haben Sie Dank!

Keine Ursache!

Leo kannte den Weg sehr genau; es war in seiner zweiten Hälfte derselbe, der von Feldheim über das Försterhaus nach Tuchheim führte. Er war ihn oft und oft gegangen. Wie oft hatte er auf dem Stege gestanden und ein wollüstiges Grausen empfunden, wenn das schwanke Geländer dem Drucke seiner aufgestützten Arme nachzugeben schien und auf der dunklen Fluth unter ihm Holzstückchen, abgerissene Zweige, Tannenzapfen vorüber gewirbelt wurden. Von dem Steg bis zum Forsthause war es über die Wiese und durch ein Stück Waldland zehn Minuten. Der Beamte hatte ihm gesagt, daß man die Leiche des Försters nach dem Hause im Walde gebracht habe, so mußte auch Silvia dort sein. An der Leiche ihres Vaters würde er sie finden, an der Leiche ihres Vaters ihr sagen – was? daß er sie liebe, daß sie sein werden müsse, daß er für sie auf Alles verzichten wolle, selbst auf die Rache an seinen Feinden. Dann sollte ihm an ihrer Seite ein neues Leben beginnen – ein Leben verklärt von Wissenschaft und Liebe, und Andere mochten den Stein des Sisyphus wälzen. Wer hatte ihn zu der Qual verdammt, als er sich selbst? so konnte er sich selbst auch von dieser Qual befreien.

Leo schritt, von der Unruhe, die in ihm wühlte, getrieben, so schnell dahin, daß Philipp, der noch dazu den Mantel des Herrn trug, Mühe hatte, ihm zu folgen. In dem Walde, unter den hohen Bäumen, fing es eben erst an zu dämmern, auf den Wiesen zogen die Nebel; es war todtenstill, kein Laut, als das Rascheln des Laubes unter den Füßen der Wanderer, und höchstens dann und wann das Fallen eines Tannenzapfens oder trockenen Zweiges. Und jetzt kam durch die schwermüthige Stille ein dumpfer Ton, der wieder verschwand, um wieder hörbar zu werden, je nach den Windungen des Weges durch das hügelige Terrain, und nun lauter und lauter wurde. Es war der Bach, der seine Felsentreppe herabgerauscht kam. Leo's Herz fing heftiger an zu schlagen – wenige Minuten, und er mußte Silvia wiedersehen. Da ging es schon bergab den steilen, steinigen Weg zwischen den Felsen; lauter und lauter drang das Rauschen der Wasserfälle an sein Ohr, und da war ja der Bach und der Steg. Die schwanke Stange, die als Geländer diente, war auf dem einen Ende abgebrochen und hing in den Bach. Leo bemerkte es flüchtig, als er eilenden Fußes über den Steg schritt.

Er hatte das jenseitige Ufer bereits erreicht, als Philipp, der hinter ihm her kam, gell aufschrie. Der junge Mensch stand noch am andern Ufer, er hatte den Mantel fallen lassen und beide Arme wie im äußersten Schrecken gehoben. Nur zu! Philipp! rief Leo; die Balken sind fest. Du siehst, sie haben mich getragen –

Von Philipp erfolgte keine Antwort, er stand noch immer wie erstarrt. Leo eilte über den Steg zurück. Was hast Du, Mensch?

O Herr, Herr! sehen Sie denn nicht?

Leo's Augen folgten des Dieners starr auf das Wasser gerichtetem Blick, und seine Pulse stockten, sein Haar sträubte sich. Unter ihm, ganz nahe der Stelle, wo er stand, lag, von den Wellen umplätschert, hart am Rande des Ufers eine weibliche Gestalt in dunklen Gewändern, das bleiche Gesicht, welches vom Wasser kaum bedeckt war, nach oben gekehrt – und Leo kannte das bleiche Gesicht.

Im nächsten Moment war er unten und kniete neben dem Körper, den er vollends aus dem Wasser gezogen hatte. Er strich der Gestalt das nasse Haar aus der Stirn. Es konnte nicht lange her sein; seine kundige Hand glaubte noch einen Hauch von Lebenswärme zu spüren. Von neuem umfaßte er sie, hob sie empor und trug sie mit schier übermenschlicher Kraft das Felsenufer hinauf.

Der treue Philipp sprang herzu, auch er hatte jetzt die erkannt, der er noch gestern Morgen den Brief seines Herrn gebracht hatte. Der arme Mensch zitterte an allen Gliedern, dennoch half er, so gut er konnte.

Wohin, Herr? murmelte er.

Dort hinauf, ein paar Schritte nur, hier weht der Wind zu scharf.

Sie trugen sie am Rande des Baches hin bis zu den Felsentrümmern neben dem Bassin und legten sie auf das trockene Moos unter einen überragenden Stein, der sich fast zu einer Grotte nach dem Bache zu auswölbte.

Jetzt, Philipp, zurück an den Steg, über den Steg, die Wiese hinauf in den Wald, immer gerade fort. Dann kommst Du nach zehn Minuten zu einem Hause. Sie sollen Decken mitbringen und eine Tragbahre.

Philipp sprang fort, Leo kniete schon wieder neben der dahingestreckten Gestalt. Er hob die Lider – die sonst so schönen, strahlenden Augen waren starr, glanzlos, nach oben gerichtet. Das war der Tod! Aber nein – es konnte nicht sein, er hatte ja so oft das Leben dem Tode streitig gemacht!

Er greift in die Tasche nach dem kostbaren Messer, das unter manchen Klingen auch eine Lanzette barg, und das er immer bei sich führt. Mit sicherem Schnitt trennt er die Gewänder – seine Hand berührt einen Busen, wie ihn schöner des kundigsten Bildners Hand nie geschaffen, aber der Busen ist wie Marmor kalt; er neigt das Ohr an den schönen kalten Busen, aber er hört nicht den leisesten Ton – das Herz steht still – er hat es ja selbst gebrochen!

Er stöhnt laut auf, aber noch darf er nicht verzweifeln. Er bringt den Körper in die kunstgerechten Lagen; jede Wendung, jeden Druck, den die Wissenschaft vorschreibt – er thut Alles, Alles, ohne Hast, methodisch genau, und Alles vergebens. Das Blut aus der geöffneten Ader rinnt nur noch in spärlichen Tropfen – es ist vorbei.

Er hüllt den schönen Körper wieder ein und deckt seinen Mantel darüber. Er hat kein Recht mehr an der Todten, und er geht und setzt sich ein paar Schritte entfernt auf einen Stein, zu warten, bis sie kommen.

Hier war es; da drüben, wo der weiße Sand in dem grauen Morgenlichte scheint, stand das Kind vornüber geneigt, ihrem Spiegelbilde in dem sonnigen Wasser zunickend. Dann lachte sie laut, wie das helle Naß ihre nackten Füße berührte, und sprang zurück und strich sich, tief aufathmend, die flatternden Locken aus der Stirn, dem Rufe des Holztaubers lauschend, der im Walde nach der Taube rief. Die Kleider fielen, und das Licht der Sonne fiel durch die wehenden Zweige auf den blendend weißen, jugendschlanken Körper, und sie jauchzte auf in wonniger Lust, als nun das durchwärmte Wasser um ihre schlanken Hüften spielte und in dem Strahl, der unter ihren übermüthigen Händen aufspritzte, die stäubenden Tropfen bunt erglänzten. Damals hatte ihm der Anblick das heiße Knabenherz mit unverstandenen Schauern erbeben gemacht; er hatte sie damals sehr geliebt, um sie dann beinahe zu hassen, um dennoch, als sie nun getrennt wurden und er heimathlos über die Erde irrte, sich oft der seltsamen Scene aus der Jugendzeit zu erinnern und sich zu fragen: ob das schöne Kind wohl gehalten habe, was es damals versprach? Er wußte es jetzt.

In den Wipfeln über ihm fing es an zu raunen und zu rauschen; ein Fieberfrost schüttelte ihn. Er blickte den Bach hinab nach dem Steg. Da kamen Menschen jenseits über den Wiesengrund, Männer und Frauen, eilenden Schrittes, voran Philipp, mit der Hand nach dem Steg deutend.

Er stand auf und ging ihnen entgegen. Der alte Arzt, der ihn wohl kannte, rief: Um Gottes willen, Leo! Ist es denn wahr?

Leo nahm ihn bei der Hand und führte ihn an die Stelle, wo die Todte lag, während die Anderen in scheuer Ehrfurcht in der Ferne stehen blieben.

Ich habe Alles versucht, sagte Leo, es war umsonst; überzeugen Sie sich.

Der alte Mann kniete nieder auf derselben Stelle, die noch die Spuren von Leo's Knieen zeigte. Leo wendete sich ab und lehnte die brennende Stirn gegen den Felsen. Nach einer Minute berührte jener seine Schulter: Sie haben Recht, es ist nichts mehr zu machen.

So lassen Sie uns die Frauen rufen – sie sollen sie auf die Bahre legen.

Die Frauen kamen weinend herbei. Es war des Bahnhofs-Inspectors junges Weib und die Magd, die Leo noch von früher kannte. Sie legten mit Hilfe des Arztes Silvia auf die Bahre, auf welcher man den Förster vor ein paar Stunden von dem Dorfe nach dem Forsthause getragen hatte. Der Arzt deckte den Mantel wieder über die Leiche. Die Männer traten herzu, hoben die Bahre auf und trugen sie an dem Rand des Baches hinab über den Steg, die Wiese entlang, dem Forsthause zu; nebenher gingen die weinenden Frauen und Philipp, der ihnen nochmals berichten mußte, wie sie sie gefunden hatten; zuletzt kamen der Arzt und Leo.

Auch ihm mußte Leo denselben Bericht abstatten. Er that es mit wenigen Worten. Den alten Mann, dessen eiserne Festigkeit in dem Munde der Tuchheimer sprichwörtlich war, hatte die schnelle Folge der furchtbaren Ereignisse so erschüttert, daß er sich auf Leo's Arm stützen mußte, während er diesem erzählte, wie der Förster gestorben sei und wie sie nach ihr – er deutete mit zitternder Hand auf die Bahre, die man vor ihnen her trug – gesucht hätten, als sie durch des Inspectors Frau, welche ihr alsbald auf Antrieb ihres Mannes nachgeeilt war, erfahren, daß sie angekommen sei. Das dachten wir nicht, sagte er, und er wischte sich die Thränen aus den grauen Wimpern, daß wir sie so finden würden. Wie sollen wir es nur der armen Tante Malchen beibringen? Ich habe sie eben zu Bette gebracht, das gute Geschöpf, und sie war in ihrer grenzenlosen Erschöpfung wirklich eingeschlafen. Es wird ein schreckliches Erwachen sein; ich fürchte, sie überlebt es nicht.

Man war bei dem Forsthause angekommen. Der alte Arzt wollte den Anderen in's Haus folgen. Leo sagte:

Ich muß mich hier von Ihnen verabschieden; lassen Sie meinem Diener etwas zu essen geben und ihn später durch Jemand nach dem Dorfe bringen; er soll mich dort auf dem Bahnhofe erwarten.

Der alte Mann blickte Leo verwundert an. Leo drückte ihm die Hand und wendete sich eilends ab, indem er denselben Pfad einschlug, den sie eben gekommen waren.


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