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Erstes Capitel.

Seit jener Winternacht, als sie zusammen aus der Gesellschaft bei Sonnenstein nach Hause gingen, hatte Silvia Leo wohl ein paarmal gesehen, aber immer in Gegenwart von Anderen, und jene Fragen, die damals so leidenschaftlich von ihnen besprochen wurden, waren nie wieder berührt worden. Nach der Abreise des Freiherrn hatte Leo das Haus nicht wieder besucht. Fräulein Charlotte und Amélie vermieden es, seiner zu erwähnen, seitdem sie wußten, daß er der Urheber jener verhängnißvollen Erklärung war; Leo hatte auf ihren letzten Brief nicht geantwortet – so war Silvia in Allem, was ihn betraf, auf die Nachrichten beschränkt, welche über sein Thun die Zeitungen brachten. Niemand im Hause kümmerte sich um Zeitungen, sie hatte die Lectüre derselben ausschließlich für sich allein.

Eine schmerzliche Lectüre! Denn für jeden scharfgeschliffenen Pfeil, den Leo von seinem Bogen auf seine Feinde entsenden konnte, schütteten diese aus ihren vollen Köchern eine Wolke auf ihn herab. Er aber stürzte sich immer wieder in das Kampfgewühl, unerschöpflicher Kraft und unbezwingbaren Muthes voll, gleich einem Gott – aber nicht unverwundbar wie ein Gott. Sie fühlte, sie wußte es, daß er aus mehr als Einer Wunde bluten, daß er oft und oft grausame Qualen leiden mußte. Und Silvia's Herz blutete mit: alle Qualen litt sie in ihrer stolzen Seele doppelt mit. Mußte er nicht endlich in diesem ungleichen Kampfe erliegen, einfach der Uebermacht erliegen, wie Roland in dem Thal von Roncesvalles?

Leo hatte in einer seiner Streitschriften einmal das Lessing'sche Wort: »Ich komme zu Niemandem, und Niemand kommt zu mir«, auf sich angewendet. Das Wort verfolgte sie, wo sie auch war, und selbst im Traume hörte sie eine geliebte Stimme traurig und schmerzlich rufen: Ich komme zu Niemandem, und Niemand kommt zu mir! Niemand kommt zu ihm! Kein Freund, dem er sich anvertrauen, mit dem er seine Pläne durchsprechen, kein wackerer Genosse, der ihm gegen seine tückischen Widersacher auch nur auf einen Augenblick den Rücken decken kann. Wo waren sie, die sich früher in dem überschwänglichen Lobe Leo's nicht hatten genug thun können? Wo jener Abgeordnete, der einst – wie deutlich sie sich der Scene erinnerte, und wie ihr Herz jetzt noch bei der Erinnerung schlug! – der einst mit einer neuen Broschüre Leo's in der Hand in einen Cirkel geistvoller Männer und Frauen trat, und, das Büchlein hoch emporhaltend, mit blitzenden Augen rief: Auf die Kniee! auf die Kniee vor diesem Propheten, dem wahrhaftigen Künder einer neuen Zeit! Wo war er? wo die anderen? Hatte Keiner den Muth, sich offen zu dem zu bekennen, was sie doch in ihrem innersten Herzen als die Wahrheit erkannten? Waren die Wände des Salons die Grenze, über die hinaus man das große Geheimniß nicht ausplaudern durfte? War es wirklich ein todeswürdiges Verbrechen, dem harrenden Volke auf der Gasse zu verkünden, worüber man sich drinnen am behaglichen Theetisch vollkommen geeinigt hatte?

Silvia schauderte vor der Berührung mit diesen Männern, die sich in ihren Augen so furchtbar am heiligen Geiste der Wahrheit versündigten. Sie wich selbst Doctor Paulus aus, dem langjährigen Arzte der Familie, der ihr früher ein so lieber Freund gewesen war. Zwar hatte er von Anfang an Leo's Pläne für unausführbar erklärt; aber wenn er wirklich der begeisterte Anwalt der Armen und Unterdrückten war, für den sie ihn gehalten hatte, durfte er sich jetzt von Leo zurückziehen? Mußte er nicht, um die Idee zu retten, bei dem Freunde ausharren, wenn er auch in der Wahl der Mittel noch so weit von ihm abwich? War Walter's Sache so viel edler, daß er nur immer von dieser sprechen, nur für diese sich begeistern konnte? Nein, auch Paulus war nicht besser als sie Alle: ein Tugendschwätzer, ein halber Bekenner der halben Wahrheit; und galt nicht auch dasselbe von Walter? Seine Seele war liebevoll, gewiß! aber es war doch schließlich jene kleinliche, individuelle Liebe, die in der Gegenliebe des geliebten Wesens ihr Ziel und ihre Grenze findet. Walter war opferfähig – sicher! aber er hatte doch noch immer seine Herzensneigungen mit seinen Ueberzeugungen zu vereinigen gewußt. Seine Liebe zu Amélie war dieselbe geblieben, obschon er das einfache Mädchen weit überflügelt hatte; seine Verehrung für den Freiherrn hatte sich nicht vermindert, obgleich er von jeher bei tausend Dingen nicht mit ihm übereingestimmt hatte und jetzt der Bruch zwischen ihren beiderseitigen Ueberzeugungen offen zu Tage getreten war. Walter hatte das Wort: Wer nicht für mich ist, ist wider mich, nie begriffen.

So machte sich Silvia innerlich immer mehr von Allem los, was der in ihr wühlenden Leidenschaft nicht Nahrung bot, oder gar die Nahrung zu entziehen drohte. Sie hatte das dumpfe Gefühl, daß ihr eine große Katastrophe bevorstehe, und daß sie sich auf diesen Augenblick vorbereiten müsse. Konnte doch der Kampf, in den Leo verwickelt war, sich nicht immer so hinziehen; mußte doch so oder so eine Entscheidung eintreten!

Und schneller noch, als sie halb gefürchtet und halb gehofft hatte, kam die Entscheidung. Sie sah, wie sich der Kampf, den sie mit so fieberhafter Spannung verfolgte, immer mehr auf einen bestimmten Punkt zusammenzog; sie sah, wie man – zum erstenmale – selbst Leo persönlich angriff und seine Ehrenhaftigkeit verdächtigte; sie las, las mit bebender Lippe die Geschichte von der Krähe, die es sich in eines Edelfalken Nest bequem gemacht und die man mit Schimpf und Schande daraus vertrieben habe.

Und Niemand kommt zu ihm! schrie es in ihrer Seele, während sie, die Hände verzweiflungvoll ringend, in ihrem Zimmer auf und ab schritt und einzelne brennende Thränen aus ihren Augen tropften.

Am Abend war die Versammlung, in welcher Leo über die Schritte, die er gethan, der Deputation Eingang beim König zu verschaffen, Rechenschaft ablegen wollte. Diesen Abend konnte sie durch die Zeitungen nicht mehr erfahren, ob ihm der große Wurf gelungen sei. Aber wenn sie sich selbst Gewißheit verschaffte?

Man würde sie nicht vermissen; war man doch daran gewöhnt, daß sie ganze Abende allein auf ihrem Zimmer zubrachte. Aus ihrem Parterrezimmer in den Garten, aus dem Garten durch die Pforte auf die Straße zu gelangen, war leicht.

Sie lauschte in den abendlichen Garten hinein; Alles war still; durch die Baumwipfel blickte von dem klaren Himmel der volle Mond; aus dem Souterrainfenster hörte sie das Klappern der Küchensachen und die Stimmen der Leute; – Niemand würde ihr Fortgehen, ihr Wiederkommen bemerken.

Sie huschte durch den Garten; der Schlüssel in der Pforte drehte sich schwer, sie mußte mehrmals ansetzen; dann kreischte die kleine, eisenbeschlagene Pforte in den verrosteten Angeln; sie meinte, man müßte es rings in der Runde gehört haben – aber es kam Niemand, nachzusehen; endlich stand sie auf der dunklen Gasse. Ihr Herz schlug zum Zerspringen. Sollte sie wieder umkehren? Noch konnte sie es ohne die mindeste Gefahr. Und wenn sie wieder umkehrte, was erwartete sie auf ihrem einsamen Zimmer, als die alte Ungewißheit, die alte Angst? Sie konnte ihm nicht helfen, aber sich doch vielleicht selbst befreien von jener öden Qual. Eilenden Schrittes huschte sie das Gäßchen hinab.

Hier und auf dem mit Bäumen besetzten Platz, auf welchen das Gäßchen mündete, begegnete ihr Niemand. Nun aber mußte sie hinaus auf die breite prachtvolle Straße in das Gewimmel der Fußgänger. Sie hüllte sich dichter in den Shawl und faltete den schwarzen Schleier enger zusammen. Niemand konnte sie erkennen; und wenn auch – was war am Ende daran gelegen?

Dennoch wich sie so viel als möglich den ihr Begegnenden aus und vermied, wo es ging, das blendende Licht, das aus den Schaufenstern der Läden fiel. Sie wußte, in welcher Straße die Versammlung abgehalten wurde und in welchem Theile der Stadt die Straße lag; aber der Stadttheil war ihr unbekannt, und bald befand sie sich in Gassen, die ihr Fuß noch nie betreten hatte: engen Gassen mit niedrigen Häusern, wo auf den schmalen Trottoirs eine geschäftige Menge sich drängte und wo selbst noch in dieser Stunde Lastwagen rasselten. An einer Stelle waren ein paar solcher Wagen an einander gefahren; die Fuhrknechte fluchten, die zusammengelaufene Menge pfiff und schrie, Polizisten stießen einen Menschen, den sie verhaftet hatten, vor sich her – ein altes Weib, das neben Silvia stand, schimpfte in gemeinen Ausdrücken auf die schlechte Polizei, die auf Ordnung halten solle und dabei nur die Unordnung vergrößere. Silvia drückte sich schaudernd auf die Seite und eilte, sobald sie aus dem Gedränge heraus war, in die erste Straße, die sich ihr öffnete.

Sie stand still, um Athem zu schöpfen und sich zu vergewissern, wo sie sich befand. Sie hatte die Richtung verloren; den Namen der Straße, den sie beim trüben Schein einer Laterne entzifferte, hatte sie nie gehört; die kleinen Häuser, die schmutzigen Menschen, der Lärm – das alles flößte ihr Entsetzen ein; ihr Beginnen schien ihr zwecklos, wahnsinnig; sie wollte zurück; aber sie getraute sich nicht, nach dem Wege zu fragen. Ein Fiaker rumpelte vorüber; sie war im Begriff, denselben anzurufen, als ihr einfiel, daß sie kein Geld bei sich habe; sie mußte sich entschließen, auf gut Glück weiter zu gehen.

Endlich gelangte sie wieder in eine breitere Straße, aber auch diese wimmelte von Menschen, die aber alle aus einer Richtung zu kommen schienen. Gruppenweise gingen sie neben einander, sich unter den Armen fassend, singend und schreiend, Andere in lautem, heftigen Gespräch.

Silvia wurde von dem Strom mit fortgedrängt; sie konnte nichts von dem, was diese Leute so eifrig verhandelten, verstehen. Plötzlich schlug Leo's Name an ihr Ohr; dicht vor ihr gingen Arm in Arm zwei Männer, von denen der eine, seiner Kleidung nach, den höheren Ständen anzugehören schien. Sie hörte den Einen sagen: Jetzt sitzt er fest; sorgen Sie nur dafür, daß er nicht so bald wieder loskommt. Der Andere erwiederte etwas, das sie nicht verstand; dann sagte der Erste:

Machen Sie, daß Sie aus dem Gedränge kommen; es wäre nicht gut, wenn Sie Jemand hier sähe; mich erkennt Keiner so leicht.

Die Beiden waren stehen geblieben; Silvia mußte an ihnen vorbei.

Sacré!

Lassen Sie sie laufen! Sie sehen ja, wie eilig sie's hat!

Silvia hörte Lachen hinter sich; sie beschleunigte ihren Schritt und gerieth wieder in das Gedränge. Die Menschen waren alle von dem, was sie eben erlebt hatten, erfüllt; Niemand achtete auf sie. Endlich mündete der Menschenstrom in eine Straße, die sie kannte, von der sie ihren Weg nach Hause nicht mehr verfehlen konnte; sie eilte weiter, weiter, ohne nach rechts und links zu sehen; glänzend erleuchtete Schaufenster, vorüberdonnernde Carossen, Fußgänger ohne Zahl, das stille Wäldchen, die dunkle, menschenleere Gasse, die Pforte, der Garten – und da war sie wieder in ihrem Zimmer. Sie warf den Shawl, den Hut ab und sank in das Sopha, die Augen in gänzlicher Erschöpfung schließend.

Als sie wieder zu sich kam, blickte sie mit Erstaunen um sich. Da brannte die Lampe auf ihrem Schreibtisch, da tickte die Stutzuhr auf der Console unter dem Spiegel, da stand der Tisch mit den Büchern, da das geöffnete Clavier, da die schöne Muse auf der Marmorsäule – war denn Alles nur ein wirrer, häßlicher Traum gewesen? hatte sie wirklich die keusche Stille dieses Gemaches mit dem wüsten Lärm der Gassen vertauschen können? Und doch, und doch! Sie hatte das Alles gehört, gesehen! auf diesen Arm hatte das alte keifende Weib ihre knöcherne Faust gelegt, dieses Kleid hatten die trunkenen Gesellen, die Arm in Arm die Straße hinablärmten, gestreift!

Silvia drückte das Gesicht in die Hände. Sie hatte wohl manchmal geglaubt, sie könne einmal wahnsinnig werden; war sie es wirklich schon? Wenn ein Mensch, der sie kannte, erführe, was sie heute Abend gethan – wenn Jemand sie gesehen hätte!

Mit jähem Schreck richtete Silvia ihr Haupt empor. Ihr Ohr hatte auf der lärmenden Straße, was die beiden Männer unter einander sprachen, gefaßt, ohne daß sie in ihrer Angst einen Sinn damit verbunden hätte. Jetzt mit Einemmale wußte sie es. Von wem als von Leo konnten sie gesprochen haben? Die Menschen, die alle aus einer Richtung kamen, woher sollten sie gekommen sein, als aus jener Versammlung? So waren alle ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt und Leo ein Opfer seiner Feinde geworden!

Aber nein, nein! das waren ja Fieberträume eines überreizten Gehirns! Wäre Leo nicht der Erste, sie zu tadeln, daß sie sich so willen- und haltlos von ihrer Phantasie beherrschen ließ? Sie wollte zu Bette gehen und schlafen, der nächste Morgen würde alles wohl besser machen.

Aber kein süßer, erquickender, angstbeschwichtigender Schlaf umfing Silvia, nur eine dumpfe Betäubung, durch welche wildverworrene Traumbilder schwankten. Bald war es das alte Weib, das sie am Arme packte, bald zwei Männer, die hinter ihr her kamen und sie umfassen wollten, bald wieder war es Leo, der an ihrer Seite ging und ihr sagte, daß alle die wimmelnden Gestalten eben von seiner Hinrichtung kämen. Er hätte bis zum letzten Augenblicke geglaubt, daß seine Freunde ihn befreien würden; aber Du weißt, Silvia: es kommt ja Niemand zu mir!

Er lächelte schmerzlich und drückte ihr die Hand, und seine Lippen waren blaß, und seine Hand war kalt. Unendliche Wehmuth erfüllte Silvia's Herz; sie weinte heiße, heiße Thränen, weinte, als ob sie sich zu Tode weinen möchte – und weinend erwachte sie.


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