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Sechsundzwanzigstes Capitel.

Leo beeilte sich nicht, zum Schloß zu gelangen. Der Abend war wunderschön. In den Büschen an den Wegseiten regte sich kaum ein Lüftchen; die untergehende Sonne strahlte glänzende Lichter über die Wiesen und Felder der fernen Ebene und glitzerte hier und da auf den Fenstern eines Kirchthurmes, der zwischen rothen Dächern und grüner Umbuschung hervorragte. Die Gipfel der nähergelegenen Hügel glühten in purpurnen Lichtern, während die schön geschwungenen Formen des Gebirges, die dann und wann bei einer schnellen Wendung der vielfach gewundenen Straße sichtbar wurden, sich in tiefes Blau gekleidet hatten. An dem lichterfüllten Himmel schwammen in unendlicher Höhe goldgeränderte, weiße Wölkchen.

Es war lange her, daß Leo's Augen auf einer schönen Landschaft geruht hatten – ein Jahr fast, als er in der Schweiz an den Ufern des Genfer Sees eine Zusammenkunft mit Tusky und anderen revolutionären Freunden gehabt. Damals war es gewesen, wo beim abermaligen Anhören bereits hundertmal durchgesprochener, unmöglicher Pläne in seiner Seele der Entschluß gereift war, es einmal auf einem anderen Wege zu versuchen. Jetzt – nach Jahresfrist – hatte ihn dieser Weg hierher geführt, zurück zu dem Ort, von dem er ausgegangen, als sollte die Pilgerschaft von vorne beginnen, als sei alles Geschehene nur ein zweckloses Wandern in der Irre gewesen. Nein, zwecklos nicht! Es ist viel erreicht – und doch ist das Erreichte nur ein Anfang des Anfangs von dem, was geschehen muß. Wann werden je diese Thäler, diese Berge von Menschen erfüllt sein, die keine anderen Leiden kennen, als die, welche von der Menschennatur unzertrennlich sind? Und bis auf welches Minimum könnte das Maß dieser natürlichen Leiden reducirt werden! Ja, giebt es außer dem Tod kein einziges Uebel, das nicht mehr oder weniger seine Wurzel in der Dummheit der Menschen hätte! Leiden gegen das Geschick! Ja wohl! Der alte Griechengott hatte mit seinen olympischen Augen bis in den tiefsten Grund der menschlichen Dinge geschaut!

Leo blieb wiederum stehen. Wenn dieses landschaftliche Bild der König sähe! Aber er würde es gar nicht sehen! Er sieht nur Bilder, die von einem breiten, goldenen Rahmen umschlossen sind. – Wie weit kann man sich auf diesen Menschen verlassen, dessen physische Basis so gelockert ist und in dessen Seele, wenn man sie ergründen will, man überall in's Bodenlose fällt! Und doch umwittert diesen unberechenbaren phantastischen Geist ein Anhauch der höchsten Ideen! Mit welcher Bereitwilligkeit, ja mit welcher Begeisterung ist er auf meinen Plan eingegangen! Und welch ein menschlich-schönes Wort war es: Sie müssen die frohe Botschaft denen zuerst verkünden, mit denen zusammen Sie einst elend gewesen sind.

Oder wäre dies Wort nicht von ihm? Mir ist fast, als hörte ich darin den Ton einer anderen Stimme.

Wie werden er und sie sich in Zukunft gegeneinander stellen? Ja, kann überhaupt ein solches Verhältniß von Dauer sein? Wird er die Achtung, die sie ihm jetzt noch zollt, nicht bald verscherzen? Und für einen Geist von Silvia's idealem Gepräge ist eine solche Enttäuschung durch nichts wieder gut zu machen. Das wäre nun freilich auch die einzige Gefahr, die sie dabei läuft. Ein Mann, der solchem Weibe gefährlich werden könnte, müßte wenigstens ein Mann sein.

Die Blicke des Wanderers hasteten an einer Stelle der Landschaft, wo, seinen scharfen Augen deutlich erkennbar, eine leichte Rauchwolke sich über die Baumwipfel erhob. Er wußte, daß in dieser Richtung nur Ein Haus lag, von dessen Herde der Rauch aufsteigen konnte. Was würde sie dafür geben, wenn sie jetzt hier stände! Es war ein wehmüthiger Klang in ihrer Stimme, als sie zuletzt noch sagte: Grüße mir meine Heimath! Was heißt Heimath? Sind Baum und Fels Heimath? Menschen, wie wir, haben nur Eine Heimath – die Geister der Menschen, die gedacht haben, denken und denken werden wie wir! Sie hat sich entschieden, und sie ist klug genug, einzusehen, daß Niemand zweien Herren dienen kann. Unser Weg ist nur so lange schwierig, als wir uns noch mit dem Gedanken tragen, zurück zu können; wissen wir erst, daß das unmöglich ist, so giebt es keine, keine Schwierigkeiten mehr. Was kümmern mich die Gesichter, die ich bald mir gegenüber haben werde!

Noch eine Wendung des Weges, und vor Leo lag, vom letzten Abendschein beleuchtet, das Schloß.

Der Bankier und Fräulein Emma wanderten Arm in Arm in der Veranda auf und ab, als Leo gleich hinter dem meldenden Bedienten herantrat. Emma klammerte sich an ihren Vater an und rief: Ach, mein Gott! Der Bankier machte sich von ihr los und ging dem Kommenden mit ausgestreckten Händen entgegen.

Seien Sie mir gegrüßt, herzlich gegrüßt! Ich hoffe, daß unserer kurzen Trennung eine langdauernde Freundschaft folgen soll.

Mit anderen Worten: hoffen wir, daß unsere Vortheile recht lange zusammengehen! erwiederte Leo und verbeugte sich dann vor Emma, die, nachdem sie sich einige Augenblicke besonnen, wie sie ihrem Freunde am schicklichsten begegnen könnte, das Beispiel des Vaters nachzuahmen beschloß und, ebenfalls Leo beide Hände entgegenstreckend, rief:

Mit unserer Freundschaft hat der Vortheil nichts zu thun! Nicht wahr, Doctor?

Herzen, wie das Ihre, mein gnädiges Fräulein, lassen sich nur durch Liebe gewinnen, durch Liebe fesseln. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen meinen Glückwunsch zu Ihrer Verlobung darbringe und diese bescheidene Frühlingsblume, die ich eben am Wege fand.

Emma erröthete bis in die Schläfen; Leo hielt noch ihre Hände in den seinen; der Bankier hatte einen leichten Hustenanfall; Henri und Alfred kamen eben über den Platz daher.

Meine Söhne werden sich so freuen, Sie zu sehen, Herr Doctor, sagte er; da sind sie! Ich glaube, Du könntest Dich mit der Wirthschafterin über das Abendessen in Verbindung setzen, Emma; unser Diner ließ Vieles zu wünschen übrig.

Emma wollte den Wink des Vaters nicht verstehen, sie wollte dem Vater, sie wollte Henri – Allen zeigen, daß sie vergessen und vergeben könne, daß man sich nur unschuldig zu fühlen brauche, um unbefangen zu sein.

Unsere letzte Begegnung war nicht ganz freundlich! sagte Henri in einem Ton, dessen gemachte Treuherzigkeit ungemein natürlich klang.

Und doch haben Sie mir seitdem schon so manche Beweise Ihrer freundlichen Gesinnung gegeben, erwiederte Leo.

Henri lachte: Noch immer der Alte, der nie um eine pikante Antwort verlegen war! Sie müssen mir eigentlich sehr dankbar sein; Sie hätten es ohne die häufige Gelegenheit, die ich Ihnen geboten, nie zu dieser Virtuosität gebracht.

Ach, wenn ich Euch doch zusammen als wilde Knaben gesehen hätte! rief Emma.

Es muß ein Schauspiel für Götter gewesen sein! Sagte Leo.

Emma erröthete, Henri lachte; Emma stimmte mit ein. Sie hatte sich ja nichts Böses dabei gedacht! Sie hatte die Männer ja nur daran erinnern wollen, daß sie einst Freunde gewesen seien, daß sie jeden Augenblick wieder Freunde sein könnten.

Emma fühlte sich ungemein glücklich. Die lächelnden Mienen um sie her sprachen nur von Friede und Verträglichkeit. Was konnte sie noch wünschen? Sie hatte einen Gatten gewonnen und hatte den Freund nicht verloren. Und dieser Freund liebte wieder ein Mädchen, das auch ihre Freundin war: hier gab es ein keimendes Glück zu fördern. Und dieses Mädchen hatte wieder einen Bruder, dessen zukünftige Gattin die Schwester ihres zukünftigen Gatten war. Hier war ein Zwiespalt auszugleichen; hier galt es mit sanfter Stimme an die Natur zu appelliren, die mit unauflöslichen Banden Bruder und Schwester aneinander fesselt. Und ihr eigener Bruder! ihr guter, träumerischer, unschuldiger Alfred! Für ihn mußte sie eine Gattin finden, gut und sanft, wie er, die ihn pflegen würde, wenn seine Brustschmerzen ihn quälten. O, diese Perspective einer Zukunft, in der so viele liebe Menschen im Sonnenschein des Glücks und der Zufriedenheit Hand in Hand, umgeben von Schaaren blühender Kinder, wandelten! Es war berauschend!

Im Lauf der Abendmahlzeit bildete Emma diesen Traum bis in die Einzelnheiten aus, und ihre Blicke hingen dabei mit solcher Zärtlichkeit abwechselnd an Henri's und Leo's Mienen, daß Henri Mühe hatte, seinen Zorn zurückzuhalten, während Leo es kaum minder schwer fand, ein gelegentlich aufsteigendes Lachen zu unterdrücken. In Folge dieser gespannten Stimmung, und da auch der Bankier mit seiner nicht geringen Unterhaltungsgabe keineswegs kargte, war die Conversation ungemein lebhaft. Nur Alfred mischte sich wenig in das Gespräch und wurde immer schweigsamer, je länger die Tafel währte und je mehr Champagner er trank. Von Zeit zu Zeit nur hob er seine müden Augen, um auf Leo einen Blick zu werfen, in welchem sich eine Abneigung aussprach, die nicht frei von Bewunderung war. Er konnte Henri's Wort nicht vergessen, daß Leo Eve besitzen könne, wenn er wollte; Eve, die er liebte, so weit das seinem welken, gutmüthigen Herzen überhaupt möglich war, und die jedenfalls seine Sinne vollkommen gefangen genommen hatte und gefangen hielt. Es war demüthigend für ihn, erniedrigend, unwürdig, mit seinem Nebenbuhler so dazusitzen und aus Einer Flasche zu trinken; und doch, wenn nicht der Reichthum, sondern die persönlichen Vorzüge in Liebessachen entschieden – was vermochte er gegen diesen Mann, der ihm in jeder Beziehung so unendlich überlegen war? Alfred seufzte, trank und starrte schweigend in das leere Glas.

Wie sind Sie mit der Gesundheit Seiner Majestät zufrieden? fragte der Bankier; man giebt ihm im Allgemeinen kein langes Leben.

Der König hat eine kräftige Constitution, erwiederte Leo, die noch kräftiger sein würde, wenn die große Irritabilität des Gehirns nicht zu große Anforderungen an den übrigen Organismus stellte. Nichtsdestoweniger glaube ich, daß er noch viele Jahre zu leben hat und daß die, welche auf sein frühzeitiges Ende speculiren, falsch speculiren.

Es war nicht zufällig, daß bei diesen Worten Leo's Blick Henri streifte.

Ihr Aerzte seid gefährliche Menschen, rief Emma, für Euch wohnen wir Andern in Häusern von Glas!

Sie sehen Seine Majestät jetzt häufiger? warf der Bankier hin.

Beinahe alle Tage; der König hat Geschmack am Neuen: neuen Büchern, neuen Bildern, neuen Menschen. Da immer Eines das Andere drängt, hat jedes seine liebe Noth, während der kostbaren Augenblicke, in welchen das königliche Auge auf ihm ruht, sich in seinem besten Lichte zu zeigen. Die wunderlichen Anstrengungen, die das Hervorbringen dieses Effectes nöthig macht, haben schon wiederholt meine Lachlust grausam herausgefordert.

O, Sie Spötter, Sie Spötter! rief Emma. Sie werden an den Stufen des Thrones das Spotten nicht lassen können; ich habe es ja immer gesagt, daß Sie ein abscheulicher Mensch sind.

Wollen wir nicht noch ein wenig draußen promeniren? sagte Henri.

Als man sich von der Tafel erhob, brachte der Kammerdiener des Bankiers einige Depeschen, die soeben abgegeben worden waren, eine an den Bankier, die derselbe mit den Augen überflog, und da sie nur die Bestätigung des Abschlusses eines gewissen Geschäftes enthielt, in die Tasche steckte; die andere war an Leo.

Es thut mir leid, die Besichtigung der Fabriken, die wir auf morgen verabredet hatten, nun doch nicht mit Ihnen vornehmen zu können, sagte Leo.

Was giebt's? fragte der Bankier, kein Unglück, hoffe ich.

Durchaus nicht; der König befiehlt mir nur, zurückzukommen. Sehen Sie selbst.

Der Bankier blickte in die Depesche: »Majestät wünscht Ihre Anwesenheit morgen um elf Uhr. Unverzüglich kommen. Bolen, Oberkämmerer.«

Glauben Sie, daß diese Zurückberufung mit unserer Angelegenheit zusammenhängt? fragte der Bankier.

Auf keinen Fall. Ich erinnere mich, daß auf morgen Mittag ein Ministerconseil angesetzt ist; möglich, daß diese Ordre des Königs damit zusammenhängt. Sie wissen wohl, Herr von Sonnenstein, wann der nächste Zug geht?

Der nächste Zug ging um zwölf Uhr, ein Anschlußzug an den Courierzug, der weiter vom Süden heraufkam. Es war eben neun Uhr; der Bankier fragte, ob Leo noch aufgelegt sei, die bewußte Angelegenheit in vorläufige Berathung zu nehmen. Es sei doch besser, daß man sich wenigstens in den Hauptpunkten zu verständigen suche. Leo war damit einverstanden, die beiden Herren begaben sich in das an den Salon anstoßende Cabinet. Henri und Emma wollten, bis die Unterredung beendet sein würde, im Park promeniren, um dann dem Gast noch eine Strecke das Geleit zu geben, Alfred war nirgends zu finden. Niemand hatte bemerkt, daß ihm vorhin, als die Herren die Depeschen lasen, von seinem Diener ein Billet zugesteckt worden war, welches er an einem Seitentische gelesen hatte, um sich darauf geräuschlos zu entfernen.

O, wie schön der Abend ist, sagte Emma, als sie aus der Veranda heraustraten, o, wie glücklich ich bin!

Emma sah dabei nicht ihren Verlobten an, sondern nach dem Monde, dessen goldglänzende Sichel über den Parkbäumen hing. Henri wußte recht gut, daß nicht seine Nähe für Emma den Abend so schön, nicht die Liebe zu ihm Emma so glücklich machte.

So wären wir denn in der Hauptsache d'accord, sagte der Bankier, das Resultat einer halbstündigen Unterredung mit seinem Gaste ziehend.

In der Hauptsache, ja, erwiederte Leo lachend, das heißt, daß Sie verkaufen wollen und ich kaufen will; in der kleinen Nebensache des Preises werden Sie indessen wohl noch einige Zugeständnisse machen müssen, bevor ich abschließen kann.

Aber, liebster Freund, rief der Bankier, wenn Einer, so kennen Sie doch die Verhältnisse auf das Genaueste. Sie wissen, was mich die Anlage kostet, was ich hineingesteckt habe, was die Fabrik abwirft. Und dann bedenken Sie, daß ich bei der Arrangirung dieser miserablen Erbschaftsangelegenheit die größten Verluste erleide, die sich noch gar nicht übersehen lassen, so daß ich in der That nicht weiß, wie theuer mir die Fabrik zu stehen kommen wird.

Desto genauer weiß ich, wie viel sie mir werth ist, sagte Leo.

Sie sind ein zäher Kunde, sagte der Bankier lächelnd, ich weiß dies nicht seit heute, indessen ich zweifle nicht, wir werden handelseinig werden. Ich kehre morgen ebenfalls mit meiner Familie zurück, wir können dann weiter in der Stadt conferiren. In acht oder vierzehn Tagen fahren wir zusammen wieder her, nehmen die Fabrik in Augenschein und schließen ab.

So will ich mich Ihnen jetzt empfehlen.

Ich begleite Sie noch, wenn Sie erlauben.

Die beiden Männer erhoben sich, der Bankier faßte Leo's Hand.

Ich bin Ihnen noch eine Erklärung schuldig, Herr Doctor, obgleich Sie, als Mann von Welt, mir dieselbe erlassen zu haben scheinen. Mein Betragen Ihnen gegenüber ist in der letzten Zeit einigen Schwankungen unterworfen gewesen, die ich tief beklage, obgleich Sie mir zugeben müssen, daß mich dabei nicht alle Schuld trifft. Ich bin in erster Linie Geschäftsmann, und Ihre Aktien, werther Herr, standen schlecht, verzweifelt schlecht. Ueberdies waren Sie öffentlich gegen mich aufgetreten. Sie hatten die härtesten Dinge gegen mich drucken lassen. Können Sie es mir verdenken, wenn mir da auch das Menschliche begegnete, mich zu verrechnen und Sie in dem Moment verloren zu geben, wo Sie nur eben den Anlauf zu einem neuen Sprunge nahmen, der Sie, ich weiß nicht wie weit noch tragen kann? Unter allen Umständen aber bitte ich Sie, mir zu glauben, daß ich, was ich gegen Sie gethan habe, mit schwerem Herzen gethan habe und daß mir nicht leicht eine größere Freude im Leben ward, als in diesem Augenblicke, wo ich die Hand des Mannes wieder halte, die ich am liebsten nie aus meiner Hand gelassen hatte.

Sie sind sehr gütig, erwiederte Leo, aber es bedurfte wirklich zwischen uns einer solchen Erklärung nicht. Wir Beide wissen, was den Werth des Menschen auf dem Markt des Lebens bestimmt.

Herr von Sonnenstein hätte eine herzlichere, weniger zweideutige Antwort lieber gehabt, aber dieser Mann war nun einmal nicht wie die anderen.

Wo ist Alfred? fragte Herr von Sonnenstein, als ihnen, wie sie aus der Veranda traten, Henri und Emma entgegenkamen.

Sie hatten Alfred nicht gesehen; auch von den Bedienten, die herbeigerufen wurden, wollte ihn keiner bemerkt haben. Der Bankier bekämpfte ein Gefühl von Bangigkeit und drang darauf, Leo noch eine Strecke zu begleiten. Er hoffte, daß Alfred den mondbeschienenen Fahrweg nach dem Dorfe hinab noch zu einem nächtlichen Spaziergang benutzt habe. In der Stadt würde mir Alfred's Ausbleiben keine Sorge machen; er hat uns leider an dergleichen Unregelmäßigkeiten zu gut gewöhnt.

Das Lachen, mit dem Sonnenstein diese Worte begleitete, wollte nicht recht aus der Kehle. Er wurde stiller, je weiter man sich vom Schlosse entfernte, und öffnete den Mund nur noch, um zu bemerken, daß die Nacht dunkler sei, als er geglaubt habe, und daß selbst der Fahrweg an vielen gefährlichen Stellen vorüberführe.

Plötzlich blieb er stehen und sagte: Das Ausbleiben Alfred's fängt an mich zu ängstigen: ich möchte doch nach dem Schlosse zurückkehren, um ein paar Leute auszusenden. Du, Henri, hast wohl die Güte, den Herrn Doctor bis zum Bahnhof zu begleiten, im Falle Alfred wirklich diesen Weg verfolgt haben sollte.

Der Bankier empfahl sich mit Hast von Leo und zog Emma, der er kaum Zeit ließ, Leo liebevoll die Hand zu drücken, eilig mit sich fort. Die beiden jungen Männer schritten allein auf der mondbeschienenen Straße weiter.

Glauben Sie, daß ein Grund zur Besorgniß vorhanden ist? fragte Leo.

Ich denke nicht daran, erwiederte Henri lachend. Alfred ist auf irgend einem Sopha eingeschlafen, oder hat heute, als wir durch das Dorf kamen, ein hübsches Mädchen gesehen, dem er noch gute Nacht sagen möchte. Solchen Sonntagskindern wie Alfred stößt kein Unglück zu.

Höchstens eine gelegentliche Lungenlähmung; seine Freunde sollten ein wachsameres Auge auf den jungen Mann haben.

Meinen Sie wirklich? Die Rasse, aus der er stammt, ist zäh; sie hat schon so ein fünf- oder sechstausend Jahre vorgehalten.

Womit nicht gesagt ist, daß ein Sproß nicht vor der Zeit vertrocknen und vom Baume fallen kann. Indessen, was heißt vor der Zeit? Ist das Maß der Lust zugleich das Maß des Lebens, so ist auf Herrn von Sonnenstein sicher schon so viel über die Durchschnittsportion gekommen, daß er getrost zu seinen Vätern versammelt werden kann.

Und was heißt wieder Lust? sagte Henri; Champagner und schöne Mädchen? Man trinkt und küßt sich endlich satt. Sie haben sich eine bessere Lust gewählt, die nicht so leicht auszuschöpfen ist.

Und die wäre?

Herrschsucht.

Beurtheilen Sie mich so?

Fragen Sie das im Ernst? Mich im Ernst, der ich Sie kenne, so lange Sie oder ich denken können? Oder halten Sie mich für einen schlechten Beobachter? Nein, Herr Doctor, ich habe selten Jemanden gekannt, dessen Charakter in seinen großen Zügen leichter zu durchschauen wäre, wie der Ihre. Ich will Ihnen ein Kriterium, wenn Sie es noch nicht kennen, geben, an dem man den Herrschsüchtigen sehr leicht herausfindet. Ist Jemand stets freundlich und zuvorkommend gegen die, welche schwächer sind, als er, und stets stolz und abweisend gegen die Mächtigeren, so können Sie darauf schwören: das ist ein Herrschsüchtiger. Ich kannte einen solchen Knaben; der Mann hat gehalten, was der Knabe versprach.

Sie beobachten schärfer, als ich geglaubt hätte; aber wenn Alle, bei denen Ihr Merkmal zutrifft, Herrschsüchtige sind, so trifft doch Ihr Merkmal nicht bei allen Herrschsüchtigen zu. Ich, zum Beispiel, kannte einen Knaben, der Jedem, der schwächer war als er, seinen Fuß auf den Nacken setzte und Jedem, der es nicht war, aus dem Wege ging, oder ihn durch Schmeicheleien und diplomatische Künste aller Art zu gewinnen suchte. Diesem Knaben war Herrschsucht auf die Stirn geschrieben, und auch hier hat der Mann gehalten, was der Knabe versprach.

Das ist interessant, sagte Henri, so läge der Unterschied also bei diesen beiden Menschen nur in der Methode, während das Ziel dasselbe wäre?

Doch nicht so ganz; der Erste erstrebt die Herrschaft über Alle, um Vielen uneigennützig dienen zu können, der Zweite dient uneigennützig einigen Wenigen, um über Viele nach Willkür herrschen zu können.

Mir scheint der Unterschied nicht gar so groß, erwiederte Henri, denn was das heißt, über Andere herrschen, das ist am Ende ziemlich einfach; unter der Maske des Dienstes aber, den man Anderen zu leisten gedenkt, kann sich gar viel verstecken. Nein, ich glaube, der Unterschied zwischen den beiden Menschen, von denen wir reden, ist derselbe, der von jeher zwischen dem ehrgeizigen Plebejer und dem ehrgeizigen Aristokraten bestanden hat. Weil Jener mit hohen Plänen zwischen niedrig gesinnten Menschen aufwächst, glaubt er sich allein zur Herrschaft berufen; dieser weiß, daß er unter allen Umständen die Herrschaft mit seinen Peers wird zu theilen haben, und es kostet ihn daher auch keine große Ueberwindung, gegen dieselben freundlich, ja, wenn es sein muß, demüthig zu sein. Der Aristokrat, und wäre er noch so hochmüthig, sieht in dem Standesgenossen seinesgleichen; der hochmüthige Plebejer aber bläht sich mit der Ueberzeugung, daß ihm Niemand gleiche, ausgenommen natürlich er selbst.

Nicht übel, Herr Baron! Aber ein Jehova, der in erster Linie ein Gott der Gerechtigkeit sein will, darf keine anderen Götter neben sich leiden; die Olympier, denen die Erde nur eine Speisekammer und ein Harem ist, dulden Einer den Anderen an der goldenen Tafel, oder zanken sich höchstens in aller Stille um die besten Plätze.

Nicht übel, Herr Doctor! Aber verlassen Sie sich darauf: die Olympier treiben es länger als der Jehova.

Die Beiden schritten über eine Stelle, wo man den Felsen hatte wegsprengen müssen, um für den Weg Platz zu schaffen. Die freie Seite war nur mit einer niedrigen steinernen Brüstung eingefaßt. In der Tiefe rauschte ein Waldbach, der vom Schloßberge herabkam, zwischen zerklüftetem Gestein zu Thale. Henri, der bisher auf der rechten Seite gegangen war, bog plötzlich auf die andere hinüber. Leo blieb stehen und sagte lachend:

Glauben Sie, ich könnte auf den Einfall kommen, ein Stück Vorsehung spielen zu wollen und zu versuchen, ob ein olympischer Schädel oder die Felsen da unten härter sind?

Jedenfalls würde ich dann die Vorsicht brauchen, die Vorsehung mit hinabzunehmen, erwiederte Henri in demselben Ton.

Der Mond schien hell genug, daß die Beiden sich in die haßfunkelnden Augen sehen konnten.

Wenn wir das Experiment ohne Zeugen anstellen wollen, müssen wir uns beeilen, denn ich höre Jemanden kommen, sagte Leo.

Ich denke, wir versparen es deshalb auf eine schicklichere Gelegenheit, erwiederte Henri.

In diesem Momente kam der Mann, dessen Schritt sich hatte vernehmen lassen, um den Felsenvorsprung herum. Sowie er aus den Schatten heraus in die Mondhelle trat, erkannte Henri, der näher stand, Walter. In der ersten Ueberraschung fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, daß dies eine Verabredung zwischen den beiden Vettern sei und daß man es auf sein Leben abgesehen habe. Walter seinerseits, der jetzt Leo und an der Stimme auch Henri erkannt hatte, war kaum weniger überrascht, wenn auch weniger erschrocken; auch Leo fühlte sich durch die Seltsamkeit dieser Begegnung eigenthümlich berührt.

Eine kurze Zeit standen die Drei sich sprachlos gegenüber; in der Tiefe rauschten die Wasser, eine Wolke zog über den Mond, das trügerische Licht noch mehr verdunkelnd.

Henri hatte sich bereits von seinem Schrecken erholt. Das ist ein merkwürdiger Zufall, sagte er, man könnte glauben, wir hätten eben eine englische Lection bei Miß Jones gehabt und unten erwartete uns Ehren Urban mit einer Strafpredigt über zu langes Ausbleiben.

Walter hatte Henri's dargebotene Hand nicht genommen. Ich beneide Sie um die Harmlosigkeit Ihrer Erinnerungen, sagte er, und dann sich zu Leo wendend: Ich hörte, Leo, daß Du auf dem Bahnhof ein Zimmer bestellt hättest. Ich komme eben von dort.

So will ich die Herren nicht weiter stören, sagte Henri, indem er den Hut zog; guten Abend!

Er wendete sich und schlug den Rückweg nach dem Schlosse ein, eine Opern-Arie trällernd.


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