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Achtundvierzigstes Capitel.

Der Geheimrath war nicht zu Hause, mußte aber, wie der Diener berichtete, bald heimkehren; Leo hatte gebeten, ihn in ein Zimmer zu führen, in welchem er auf den Herrn warten könne; der Diener öffnete die Thür zu einem stattlichen Gemach, in welchem Leo allein zu sein glaubte, bis sich eine kleine blasse Dame, die in der tiefen Fensternische, von dem dunklen Vorhange verdeckt, gesessen hatte, erhob und ihm mit schüchternen, linkischen Verbeugungen entgegentrat. Es war Frau Geheimrath Urban.

Frau Urban hatte Leo, seitdem er an jenem Morgen des Bauernaufstandes in Tuchheim das Pfarrhaus verlassen, nicht wieder gesehen, dennoch erkannte sie ihn sofort wieder, sobald er ihren kurzsichtigen Augen nahe genug gekommen war, und ein Ausdruck halb des Schreckens, halb der Freude flog über ihr verkümmertes Gesicht. Leo war ihr immer schroff und kalt begegnet, und was sie seit seiner Rückkehr über ihn gehört und hier und da in den Blättern gelesen, hatte nicht dazu beigetragen, ihn ihrem Herzen näher zu bringen; aber dann war er doch wieder derselbe Leo, der jahrelang unter ihrem Dache, ihrer mütterlichen Fürsorge anvertraut, gelebt, den sie geliebt hatte, wie eine Mutter einen rauhen, hartherzigen Sohn liebt, und ihr gutes, treues Herz floß über bei der Erinnerung an die alte Zeit. Ihre matten Augen füllten sich mit Thränen, sie streckte ihm die zitternden Hände entgegen und hieß ihn in gebrochener, vor Rührung kaum vernehmlicher Stimme mit vielen zusammenhanglosen Worten willkommen, indem sie ihn zu einem Platz auf dem Sopha nöthigte und dabei in alter Weise die Tischdecke herunterriß und aus dem Fußschemel ein Rückenkissen machen wollte.

Leo hätte in seiner leidenschaftlich erregten Stimmung kaum eine Begegnung ungelegener kommen können, als die mit dieser alten wunderlichen Dame; nichtsdestoweniger sagte er ihr für ihre Bemühungen ein paar freundlich klingende Worte, die Frau Urban umsomehr rührten, je weniger sie dergleichen aus diesem Munde erwartet hatte. Ach ja, der Mensch vergißt nicht so leicht, was ihm in seiner Jugend begegnet ist, und glaubte er auch damals, es könnte und müßte Alles anders sein, hernach, wenn das Andere kommt, sieht er doch, daß es nicht das Bessere ist, und er sehnt sich nach der Jugendzeit zurück. So sei es noch allen Menschen ergangen. Finde doch sie selbst, daß die Sonne mit jedem Jahre weniger warm scheine; sie sei doch auch schon in Tuchheim eine arme kränkliche, freudlose Frau gewesen; dennoch könne sie nicht an Tuchheim denken, ohne daß ihr die Thränen in die Augen kämen, dennoch sei ihr die Erinnerung an das Pfarrhaus und den Pfarrgarten in Tuchheim und an die schönen lieben Wälder, in denen sie so gern gewandelt wäre, wie die Erinnerung an ein verlorenes Paradies.

Das nachdenkliche Schweigen, mit welchem Leo diese Bemerkungen hinnahm, ermuthigte Frau Urban fortzufahren. Leo war gewiß so still, weil er das Alles auch empfand; er hatte in seinem vielbewegten Leben wohl recht selten Zeit gehabt, seiner Jugend zu gedenken, er weihte gern ein paar verlorene Augenblicke so rührenden Erinnerungen.

Und nun floß die Rede der guten Dame dahin, wie ein bescheidenes Bächlein zwischen reizlosen Ufern über glatte Kiesel dahinplätschert und plötzlich diese Wendung macht, man weiß nicht warum, und plötzlich eine nach der entgegengesetzten Richtung, man weiß nicht weshalb; und die Gestalten des Freiherrn, Fräulein Charlotten's, des Försters, Tante Malchen's, Amélie's, Silvia's, Walter's glitten schattenhaft durch diese schattenhaften Erzählungen und sagten dies und das mit einer verschollenen, schattenhaften Stimme.

Leo saß da, den Kopf in die Hand gestützt, regungslos, mit starrer, nachdenklicher Miene. Er verstand sonst so gut die Kunst, unbequeme Menschen, denen er nicht auszuweichen vermochte, reden zu lassen, ohne sie zu hören, und hier hörte er Alles, Alles, als hätte er heute weiter nichts zu thun, als sei dieser Tag, diese Stunde nur da für die Erinnerung an so Vieles, was er so gern vergessen hätte, was er längst vergessen, für immer vergessen zu haben gewähnt. War der Freiherr wirklich stets so gütig gegen ihn gewesen? hatten der Onkel, die Tante wirklich mit solcher Liebe an ihm gehangen, seinen Verlust so herzlich beklagt, daß er zurückkehren möge so sehnlich gewünscht? Hatte Walter wirklich, wenn er von ihm gesprochen, ihn immer seinen Bruder genannt und gegen Jedermann behauptet, daß nicht das Blut die Verwandtschaft heilige, sondern die Liebe, und daß er Leo liebe, wie nur je ein Bruder den Bruder geliebt? Nun ja–das Alles mochte sein – weshalb mußte ihm gerade heute vorgerechnet werden, welchen Schatz von echter Liebe er besessen und von sich geworfen hatte wie nutzlosen Plunder?

Er hob den Kopf und blickte Frau Urban mit großen, brennenden Augen an. Sie war so blaß, die arme Frau, so blaß und welk und verfallen, und ihre gerötheten Augen blickten so verweint, so kummermüde; der hartherzige Gatte hatte die Hilflose vollends geknickt, von aller Freude ausgeschlossen, auf jede Weise gedemüthigt und geknechtet; die andern Menschen waren gern einem so bequemen Beispiel gefolgt, selten daß ihr einmal eine mitleidige Seele das gelegentliche Almosen eines gütigen Wortes gereicht hatte – und das Herz des armen Geschöpfes war noch immer nicht verhärtet, noch immer gönnte sie Allen das Glück, das ihr nie zu Theil geworden, noch immer war sie jeden Augenblick bereit, zu diesem Glücke beizutragen, was nur in ihren schwachen Kräften stand. Sie hätte ihr Leben lang von den Brosamen zehren können, die er tausendmal mit übermüthiger Hand von der Tafel seines Lebens gewischt hatte.

Frau Urban mußte in dem Ausdruck von Leo's Gesicht einen Zug entdeckt haben, der ihr Muth machte, ein peinliches Thema zu berühren.

Walter! Er saß noch immer im Gefängnisse – nun schon über sechs Wochen! – Sie verstand ja nichts von diesen Dingen, und es war ja gewiß recht unbedachtsam von ihr, da hineinzureden, aber sechs Wochen seien doch eine grausam harte Strafe für einen so guten Mann, der sicher nichts Schlechtes im Sinne gehabt habe. Und wie würde sich Amélie, wie würde sich der Förster freuen, wenn Walter schon jetzt aus dem abscheulichen Gefängnisse käme!

Lieber, bester Leo, rief Frau Urban, indem sie ihre Hände faltete und Leo mit weinenden Augen anblickte; Sie sind ja so mächtig und können Alles, was Sie wollen. Bitten Sie doch beim König für unseren guten Walter!

Sobald ich Gelegenheit habe, erwiederte Leo, sich nachdenklich mit der Hand über Stirn und Augen streichend.

Frau Urban hatte mit einer Schnelligkeit, die ihr sonst nicht eigen war, seine andere Hand ergriffen und an die Lippen gedrückt. Ich wußte es ja, rief sie, ich hatte gestern Abend und heute Morgen so sehr zu Gott gebetet, daß er mein liebes Kind, meinen Walter, befreien möge, nun hat er Sie mir als Engel gesendet!

Sie ließ seine Hand fahren, um ihre eigenen Hände wieder zu falten. Ja, ja, sagte sie, da hat er mir Sie gesendet, und nun schreibe ich noch heute nach Tuchheim an den alten Herrn Gutmann. Er kann die Freude brauchen, der arme Mann. Es soll ihm jetzt ja so sehr schlecht gehen. Da war vor ein paar Tagen die Grete bei mir – wissen Sie, Leo, das hübsche Mädchen, das in der Pfarre diente. Sie war immer ein Bischen vorlaut. Nun, du lieber Gott, sie war damals noch gar jung, und jetzt ist sie nicht vorlaut mehr, das arme Ding! Sie hatte hier eine kleine Erbschaft zu erheben, von ein paar Thalern! Ach Gott, sie kann sie brauchen! Es geht ihr herzlich schlecht; sie hat fünf Kinder, und ihr Mann, der in der Fabrik arbeitet, verdient so wenig. Es ist immer schlechter geworden, sagte sie, von Jahr zu Jahr, aber so schlecht wie jetzt soll es doch noch nicht gewesen sein, und dabei der Unfrieden und der Zank unter den Leuten, die alle den Herrn spielen wollen und die Fabrik zu Grunde richten. Der arme Herr Gutmann soll ganz außer sich darüber sein. Sie wissen ja, wie gut er immer gegen die armen Menschen war; viel zu gut, sagte der Freiherr immer, obgleich er es auch nicht anders machte. Nun, und da können Sie sich denken, wie dem braven Manne zu Muthe ist, jetzt, wo es in Tuchheim so schlimm aussieht. Die Grete sagte, wenn der Herr Förster nicht wäre, so hätten sie sich schon Alle untereinander todtgeschlagen; aber er läßt sie zusammenkommen, wenn sie es einmal gar zu schlimm machen, und redet ihnen gehörig in's Gewissen, da geht es denn wieder eine Weile.

Frau Urban hatte keine Ahnung von dem Verhältnisse, in welchem Leo zu der Fabrik in Tuchheim stand; sie konnte deshalb auch nicht begreifen, weshalb Leo bei ihren Worten mit einem Male aufsprang und mit großen Schritten in dem Gemache hin und her zu gehen begann; aber bevor sie noch ihrem Erstaunen über dies seltsame Benehmen einen Ausdruck geben konnte, ließ sich draußen auf dem Corridor ein schwerer Schritt vernehmen, die Thür wurde geöffnet, und die mächtige Gestalt des Geheimraths trat in das Gemach, Frau Urban fuhr von dem Sopha auf, murmelte ein paar Worte und entfernte sich schleunig. Der Geheimrath schickte ihr einen düstern, unwilligen Blick nach und wendete sich dann mit zuvorkommender Freundlichkeit in Miene und Geberde zu Leo.

Verzeihen Sie, liebster Freund, daß ich Sie so lange in einer so unfreundlichen Situation gelassen habe. Es kann nichts Unwichtiges sein, was Sie mir mitzutheilen haben, sonst hätten Sie es doch wohl nicht ausgehalten. Kommen Sie mit mir in mein Cabinet, dort werden wir ungestört sein.

Der Geheimrath hob die Portière und ließ Leo eintreten. Die Ausstattung des Gemaches erinnerte auffallend an das Studirzimmer des Doctors in Tuchheim. Da standen rings an den Wänden die Bücherrepositorien von dunklem Eichenholz, zwischendurch eine Büste oder ein Kupferstich, in der Mitte ein großer, ovaler, mit einem grünen Teppich bedeckter Tisch, ganz wie dort, nur daß der Teppich kostbarer war und der eine Lehnsessel für den Doctor und die drei Rohrstühle für die Knaben vier schönen Fauteuils Platz gemacht hatten. Auch in Größe und Form glich dieses Zimmer jenem andern, und selbst die klösterliche dumpfe Luft schien dieselbe zu sein. Die seltsame Empfindung, die Leo schon vorher in der Unterredung mit Frau Urban gehabt hatte, als ob Alles, was er sah und hörte, nur ein Traum sei, überkam ihn hier noch stärker; er blickte nach der Thür, als ob Walter mit seinen Schulbüchern unter dem Arm, die Wangen geröthet vom raschen Lauf, hereintreten müßte.

Sie mustern meine Bibliothek, lieber Freund, sagte der Geheimrath, es ist damals viel verbrannt, und ich habe mich nicht eben sehr bemüht, die Lücken wieder auszufüllen. Der Gelehrte braucht Bücher, der Staatsmann Menschen; freilich, freilich, das Material ist in beiden Fällen jämmerlich genug, und der gute Kopf traut diesen so wenig wie jenen. Was sagen Sie, lieber Freund, zu den neuesten Nachrichten? Werden wir Krieg bekommen oder nicht?

Leo erweckte diese Frage aus seinem dumpfen Brüten, er schüttelte die Betäubung von sich, und machte den Geheimrath mit seinen Plänen bekannt. Er schilderte ihm die Stimmung, in welcher er den König getroffen hatte, den Verlauf der Audienz, das Benehmen des Monarchen beim Abschied. Je länger er sprach, desto mächtiger kam ihm die alte Kraft zurück. Er fand neue und neue Gesichtspunkte, immer gewaltiger thürmte sich ihm der Bau seiner stolzen Entwürfe. Schon war die Hauptsache gethan; es fehlten nur noch die Steine, und auch diese mußten sich einfügen, wenn er nur ein paar Hände fand, die ihm die Last bewältigen halfen. Der Geheimrath war der Mann, an der Vollendung des Werkes mitzuarbeiten. Er kannte die Welt, die Menschen; er war nicht befangen in kleinlichen Vorurtheilen, er hatte den Muth, ein hohes Spiel zu spielen, wenn es mit kleinen Einsätzen nicht gethan war. Und vor Allem hatte er den edlen Ehrgeiz, sich herauszuheben über die gemeine Menge. Hier war ein Feld, weit genug für den stolzesten Ehrgeiz; der Augenblick, von den Worten endlich zur That zu kommen, sei der günstigste, den man sich denken könne, günstiger jedenfalls, als er jemals wiederkommen werde. So lassen Sie uns denn zur That schreiten, oder lassen Sie uns für immer schweigen! Mein Entschluß ist gefaßt; ich hoffe, daß es auch der Ihre ist.

Der Geheimrath hatte, den Kopf in die Hand gestützt und nur von Zeit zu Zeit aus den kalten, klugen Augen einen schnellen prüfenden Blick auf Leo werfend, zugehört; auch jetzt, als jener schwieg, blieb er in derselben Stellung sitzen. Er hatte geglaubt, daß Leo noch länger sprechen würde, und war mit seiner Antwort noch nicht fertig.

Nun, rief Leo ungeduldig, Sie schweigen? Ich kann nicht glauben, daß ich Sie nicht überzeugt habe.

Der Geheimrath richtete den Kopf empor; um seine breiten Lippen spielte ein Lächeln. Wissen Sie, lieber Freund, sagte er, daß Ihr Zweifel an meiner Bereitwilligkeit einigermaßen gegen Sie spricht und mich zwingt, doppelt vorsichtig zu sein? Nein, theuerster Freund, fahren Sie nicht auf! Was könnte es nützen, wenn wir uns Einer den Andern mit schönen Worten täuschen wollten? Wir befinden uns ja nicht in einer Comitésitzung, oder im Abgeordnetenhause, wir sind ja ganz unter uns, wir dürfen und wir müssen uns gegenseitig reinen Wein einschenken. Ich habe Sie schon einmal an die merkwürdige Unterredung erinnert, die wir an jenem Abend in Tuchheim miteinander hatten; wir saßen uns damals gegenüber wie jetzt; seien Sie heute so offen gegen mich, als ich es damals gegen Sie war. Welches sind Ihre eigentlichen Ziele? lassen Sie die Schale beiseite, und geben Sie mir den Kern; dann sollen Sie auch eine ganz ehrliche, ganz unumwundene Antwort von mir bekommen

Leo erbleichte; er hatte nie geglaubt, daß dieser kalte, selbstische Mann in seinem Sinne auf seine Gedanken eingehen werde; aber er hatte es für möglich gehalten, ihn an seinem Ehrgeiz zu fassen, zu halten, mit sich fortzureißen, wohin er ihn haben wollte.

Welches meine eigentlichen Ziele sind? sagte er nach einer kleinen Pause; ich glaube, Herr Geheimrath, die Frage ist nicht ganz richtig gestellt. Sie wollen vermuthlich wissen, ob ich, was ich will, von Herzen, aus Ueberzeugung will; aber darauf kann es jetzt nicht ankommen. Man braucht ja auch wohl das Gute nicht um des Guten willen zu thun, und thut es doch, weil unser Weg gerade darüber wegführt. Und ich sehe keinen anderen Weg, als den ich bezeichnet habe.

Der Geheimrath lächelte noch entschiedener als vorhin und erwiederte:

Sie suchen mir auszuweichen, sehr geschickt, wie sich das bei Ihnen von selbst versteht, aber doch auszuweichen. Warum scheuen Sie sich, mir gegenüber zu gestehen, daß Sie, ebenso wie ich, von der Unausführbarkeit Ihres socialen Programms überzeugt sind? daß Sie von Anfang an in diesen sogenannten Reformen nur ein politisches Mittel gesehen haben und noch sehen? Was geht Sie oder mich, oder irgend einen vernünftigen Menschen die blinde Menge an, die uns und Jedem, der sie um eine Hauptes Länge überragt, den Kopf vor die Füße legen würde, sobald wir ihr die Augen öffneten? Wollen Sie durchaus das Schicksal der Solon, Themistokles und Aristides theilen und in der Verbannung über die Wohlthaten nachdenken, die Sie dem souveränen Volke gewährt haben würden, wenn das souveräne Volk nicht die Thorheit begangen hätte, den Wohlthäter vor der Zeit zu ostrakisiren? Pah! bester Freund, das Alles sind ja nicht aufzuwerfende Fragen. Ist nun aber das bewußte sociale Programm nur ein Mittel, so kann man es ja auch wohl modificiren oder ganz und gar fallen lassen, wenn man sieht, daß das Mittel eben nicht zum Ziele führt. Mißverstehen Sie mich nicht. Ich sehe recht gut, daß wir die sociale Frage in unserem Programm nicht unerwähnt lassen können, aber weshalb den Mund so voll nehmen, daß wir hinterher an dem Bissen ersticken? Wollen Sie in dieser Zeit einer hereindrohenden Handelskrisis das Capital vollends vom Markte treiben, so sehe ich wahrhaftig nicht ein, wie wir nur acht Tage lang regieren werden. Alles, was nur noch einen Thaler zu verlieren hat, würde Front gegen uns machen; die Armee würden wir so wie so gegen uns haben; bliebe also nur noch die besagte blinde Menge, vor der uns der Himmel in Gnaden bewahre! Und dann, Bester, bedenken Sie nur noch dies: ist es wahrscheinlich, ja ist es auch nur möglich, daß der König, den wir doch Beide wahrlich hinreichend kennen, zu diesen Dingen Ja und Amen sagen würde, oder, wenn er es gesagt, sich nicht bei dem ersten Brausen der aufgewühlten Wogen anders besänne und uns fallen ließe?

Oder wir ihn, sagte Leo.

Der Geheimrath blickte auf, diesmal ohne zu lächeln, und sagte langsam: Also eine vollständige Revolution? ein Kampf bis an's Messer?

Wenn es sein muß, ja.

Dann, Herr von Gutmann, muß ich für die Ehre, die Sie mir zugedacht haben, danken.

Es entstand eine Pause. Beide Männer waren sich bewußt, daß das letzte Wort noch nicht gesprochen sei, aber es scheute sich Jeder, zuerst die Hand zu bieten. Endlich sagte Leo:

Und welches wären nun die Bedingungen, unter denen Sie in das Ministerium treten würden?

Der Geheimrath ergriff einen Bogen weißen Papiers und rückte das Schreibzeug zu sich heran. Es klebt mir, sagte er, aus vorigen Zeiten noch die Gewohnheit an, wichtige Gedanken in meinem Kopfe nur dann ordnen zu können, wenn ich sie zu gleicher Zeit zu Papier bringe. Verstatten Sie, daß ich auch diesmal der alten Gewohnheit treu bleibe, Sie wissen, ich schreibe schnell. Also erstens: Was die äußere Politik betrifft, so bleiben wir neutral, da der Krieg uns zuletzt mit der Partei des Prinzen identificiren oder dem Pöbel ausliefern müßte. Der König erläßt ein Manifest, in welchem er zu seiner Rechtfertigung an das Volk appellirt. Die neuen Kammern werden schleunigst zusammenberufen, und damit sie unser Programm sanctioniren, machen wir ihnen eine Reihe von Vorlagen, die dem Capital zugute kommen, während sie sich den Anschein geben, den Arbeiterstand heben zu wollen. Unter der Hand stärken wir auf jede Weise den Einfluß und die Macht der Kirche, Alles natürlich in scheinbar liberalem Sinne. Schließlich nehmen wir Hey und Messenbach in's Ministerium, um den Uebergang weniger schroff erscheinen zu lassen. Aus demselben Grunde begnügen Sie selbst sich vorläufig mit dem Titel eines Wirklichen Geheimen Rathes im Ministerium des königlichen Hauses, während Excellenz von Tuchheim und ich die nominellen Leiter sind.

Der Geheimrath legte die Feder nieder und blickte Leo an. Nun, liebster Freund, was sagen Sie? glauben Sie das unterschreiben zu können?

Nimmermehr, rief Leo, sich erhebend.

Bedenken Sie es wohl, sagte der Geheimrath, der sitzen geblieben war, das Programm sieht sehr nüchtern aus, aber es hat den Vorzug, ausführbar zu sein. Wollen Sie Minister werden, so können Sie es nur auf diesem Wege.

Den Weg kann Jeder gehen, sagte Leo, der in dem Zimmer auf und ab schritt.

Und den Ihrigen Niemand.

Außer vielleicht ich selbst.

Auch nicht Sie. O ja, es ist leicht, eine Welt aus den Angeln heben, wenn man erst einmal den Punkt des Archimedes unter den Füßen hat. Wo haben Sie den? Wie wollen Sie den sich schaffen? Sie stoßen das Heer von sich, das Capital von sich, alle Gebildeten, deren Abscheu vor der Pöbelherrschaft seinen guten Grund hat; wer oder was bleibt Ihnen? Der Pöbel! Wie lange? So lange das Geld im Kasten klingt. Mein Gott, Sie sehen es ja an der Tuchheimer Fabrik, wie weit man auf diesem Wege kommt. Ich habe sehr gute Nachrichten, und – Sie jedenfalls auch. Sie werden Mühe haben, bester Freund, aus der Affaire mit einem blauen Auge loszukommen. Indessen diese kleine Schlappe läßt sich leicht vertuschen. Es war eben ein Experiment; das Experiment ist nicht geglückt, wenden wir uns zu etwas Anderem! Nun aber errichten Sie zehn solcher Fabriken! Die Sache sieht schon schlimmer aus; errichten Sie hundert – Sie brechen darüber den Hals, und hätten Sie das vereinigte Genie eines Washington und Cromwell. Und endlich mein letzter Grund, der allerdings rein privater Natur ist. Sie wissen, ich bin nicht reich, aber ich bin auch nicht arm. Ich lasse mein kleines Capital rouliren, damit es der Rost nicht frißt. Ich möchte die behagliche Aussicht auf ein sorgenfreies Alter ungern aufgeben, ohne allen Grund aufgeben. Aber Minister möchte ich gern werden, sehr gern, und die Gelegenheit kann nicht besser sein. Darum, lieber, bester Leo, unterschreiben Sie! ich fahre mit dem Papier direct zu Hey; er lebt in solcher Furcht, seinen Posten zu verlieren, daß er auf jede Bedingung eingeht; nicht viel anders steht es mit Messenbach. Instruiren Sie unterdessen Ihren Herrn Schwiegervater, so können wir noch bis morgen, ja noch heute vollkommen im Reinen sein. Auch ich glaube nicht, daß der König drei Tage wartet, ich kenne ihn, er vermag nicht eine Stunde allein zu sein. Wen von uns er dann auch rufen läßt, Jeder von uns weiß, was er zu sagen, was er zu verschweigen hat. Ich bitte, ich beschwöre Sie, stoßen Sie diese bequeme und starke Leiter, die uns Alle trägt, nicht von sich: unterschreiben Sie!

Und der Geheimrath schob den Bogen über den Tisch hinüber nach Leo hin.

Leo nahm das Papier und überlas das Geschriebene. Er mußte sich sagen, daß Urban Recht hatte, daß dies das einzige Programm war, auf welches der König unbedenklich eingehen und bei welchem man ihn auch würde festhalten können. Aber freilich, was war damit gewonnen? Was blieb, wenn er sich von vornherein so viel abhandeln ließ?

So stand er und sann. Aber es wurde ihm mit jedem Augenblicke schwerer, seine Gedanken auf den Gegenstand zu richten. Die ungeheure Abspannung nach einer fast schlaflosen, in fieberhafter Aufregung durcharbeiteten Nacht, der er vorhin nur noch mit Aufbietung seiner letzten Kraft Herr geworden war, stellte sich von neuem ein. Während er auf das Papier blickte, sah und las er den Chiffer-Zettel, den ihm Tusky gestern Abend geschrieben hatte. Dann hörte er die weinerliche Stimme der Frau Urban, die ihm von Tuchheim erzählte: vor seinen Augen wurde es dunkel, es sauste ihm vor den Ohren – er griff nach der Lehne des Fauteuils – der Geheimrath eilte herbei, ihn vor dem Fallen zu bewahren. Die Berührung von der Hand dieses Mannes brachte ihn wieder zu sich. Er lächelte mit blassen Lippen und sagte: Sie sehen, ich bin ein wenig angegriffen und nicht wohl im Stande, die Unterhandlung mit Ihnen fortzusetzen. Indessen, wir werden uns schon einigen. Vorläufig will ich für ein paar Stunden in meiner Wohnung die Ruhe suchen, deren ich in der That sehr bedarf.

Der Geheimrath bedauerte unendlich, daß er so gar nichts für seinen theuren Freund thun könne. Sie arbeiten zu viel, rief er, Sie arbeiten für Alle. Kehren Sie doch einmal die Sache um, und lassen Sie Alle für Sie selbst arbeiten. Sie werden sich besser dabei befinden, glauben Sie mir!

Er begleitete Leo durch das Vorzimmer und bis an die Treppe, wo er sich von ihm mit der Versicherung verabschiedete, daß er morgen Vormittag, oder sollte etwas Wichtiges vorfallen, noch im Laufe des Tages bei ihm vorsprechen werde.

Leo ging langsam die Treppe hinab; als er auf dem ersten Absatze stehen blieb, um seine Kräfte, die ihn abermals verlassen wollten, zu sammeln, hörte er oben eine Thür gehen und einen leisen Schritt. Gleich darauf erschien Frau Urban. Sie beugte sich über das Geländer, streckte den Arm nach ihm aus und sagte leise: Vergessen Sie Walter's nicht! Dann verschwand sie eben so schnell und leise, als sie gekommen war.

Ich werde bald selbst der Hilfe bedürfen, wenn das so fortgeht, murmelte Leo, indem er mit wankenden Knieen die Treppe vollends hinabschritt. Ich bin seit einiger Zeit nicht mehr, der ich war.


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