August Sperl
Der Archivar
August Sperl

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17. Das Bild des Heilands

Die Zeit war bös. Viele Leute sagten es, und niemand widersprach dem.

Die Zeit. Zwar hob sich gerade jetzt die goldene Sonne von Tag zu Tag höher über die Erde. Tag für Tag leuchtete sie in Klarheit hernieder, und Tag für Tag wurde es grüner in den weitgedehnten Gärten, auf den Feldern rings umher und in den Wäldern, die das Dorf und das Kloster in einem dunklen Ringe umgaben. Der Winter war gewesen zu seiner Zeit, und tiefer Schnee hatte die Saaten beschützt, wie sich's gebührt. Der Märzenstaub war in leichten Wolken auf der Heerstraße da droben gewandert, wie man es wünschen konnte. Der April hatte gestürmt und geschneit und geregnet und wieder mit lustigen Augen in die braunen Pfützen geschaut. Jetzt ging er zu Ende, und in verschwiegenen Höfen und Gärten zwischen den grauen Mauern blühten die Bäume. Die vergoldeten Uhrzeiger am dicken Turm der Dorfkirche drehten sich gleichmütig, hoch über dem Treiben des Tages, und blickten auch zur Nachtzeit kühl hinaus in die Welt, wenn sie, wie gegenwärtig, vom Lichte des wachsenden Mondes getroffen wurden.

Die Zeit also, die bestimmt wird von der ewigen Sonne, war an sich weder böse noch gut. Sie ist es nie.

Und doch sagten die Leute, die Zeit sei böse, und niemand war, der da gewagt hätte, zu widersprechen.

Das kam auch dem Hofrichter nicht in den Sinn, dem Hofrichter, der im Abendlichte groß und breit in das feingetäfelte Stüblein vor den Abt getreten war. Er konnte nur nicht recht begreifen, warum der kleine, ängstliche Mann, der da händereibend, mit Tränen in den wasserblauen Augen vor ihm stand, seinerseits gar nicht gewillt schien, gegen diese 295 böse Zeit anzugehen. Mußte er, des Klosters Hofrichter, von Amts und Pflicht wegen doch auch in dieser aufsässigen Zeit wie Schäfer Josephs schwarzer Hund hinter den Schafen, so hinter Bauern, Knechten und Mägden her sein, daß alles seinen Fortgang nahm, wie von alters Herkommen war in den Ställen, auf den Futterböden, auf den Wiesen und Feldern. Und wahrhaftig, ihm war es bislang noch immer gelungen, den bösen Geist der Zeit zu bändigen, wo er heimtückisch in den Augen eines Knechtes aufzulodern versuchte oder sich auf der gerunzelten Stirn eines widerhaarigen Bauern festsetzen wollte.

Ei, und er hatte Seiner Gnaden doch das Anliegen des langen und breiten geklagt. Sein Haus war sein Haus, und in seinem Garten hatte keiner etwas zu suchen, den er nicht zwischen seinen Beeten zu sehen wünschte. Aber die gottlosen Klosterschüler stiegen nach ihrem Belieben über die Mauer, die doch wahrhaftig hoch genug wäre, und jagten sich über die Beete. Vornehmlich die zwei Buben mit den großen Namen, bei deren Klang der alte Abt vorhin ängstlich von einem Bein auf das andere getrippelt war. Jawohl, das war's, vor den großen Namen der zwei Buben fürchtete sich der Abt und vor der ganzen Sippe, die hinter ihnen stand. Jawohl, das war's. Und deshalb rieb er nur immer wortlos die kleinen, rosigen Hände, trotzdem er nun ganz genau wußte, daß die Buben seit gestern auch eine Standarmbrust in den dicken Mauerturm, Prälat genannt, geschleppt hatten und über den Garten hin die Holzläden des Zehentstadels mit Bolzen spickten. Des Hofrichters ängstliche Christel getraute sich kaum mehr zwischen die Beete. Und das war gar nicht das Ärgste. Der Hofrichter ballte die Fäuste und brachte es nur mit Mühe über die Lippen, daß der eine von den zwei Buben, der Überlange mit dem wirren roten Haar, samt zwei Gesellen sich erfrecht hatte, seine Christel, des 296 Hofrichters sechzehnjährige Christel, ein halbes Kind noch, in der Dämmerung auf dem schmalen Weg zwischen den Zäunen zu stellen, und als sie sich schreiend zur Flucht wandte, wie ein armes Kätzlein durch die Gassen zu jagen und endlich die mit Händen und Füßen um sich Stoßende zu küssen. »Gnaden Herr Abt, muß ich das leiden?«

Der Abt war nun wirklich in arger Verlegenheit und wagte nicht mehr, seine gutmütigen, wasserblauen Äuglein zu den zornfunkelnden Augen des Riesen zu erheben. Er wandte sich und ging mit leisen Schritten hinter sein schöngeschnitztes Lesepult, das am schmalen, spitzbogigen Doppelfenster stand, als wollte er sich vor der ungeschlachten Rechtlichkeit des andern macht- und hilflos hinter einem dicken Folianten salvieren.

Um die Augen des Hofrichters zuckte es verächtlich, und mit einem bitterbösen Blick streifte er das unschuldige Buch. Er kannte diese Verschanzung Seiner Gnaden und wußte, daß sie so gut wie uneinnehmbar war. Und seine zornigen Blicke fuhren vom Pult an die Längswand der Stube, über das schwere Gestell, auf dem die andern Bücher in ihren schweinsledernen Röcken standen, und über die halboffenen Wandschränke, in denen alte Urkunden mit großen Hängesiegeln lagen. Und dort führte die schmale Türe in den winzigen, fensterlosen Raum, wo das Bett des Greises stand, und – der Hofrichter wußte es genau – von diesem Schlafraum führte wieder eine Türe in die Hauskapelle, die mit schönen Wandmalereien geschmückt war. Jawohl, das war die stille Welt, in die sich Seine Gnaden seit Jahren vor der bösen Welt zurückgezogen hatte, das war sein kleines Reich, in dem er über seinen Büchern brütete, in dem er seine Messe las, in dem er mit ein paar Vertrauten redlich bemüht war, die Sorgen, die ihm sein großes Reich da draußen hätte billig verursachen mögen, zu verträumen und zu vergessen.

297 Fast hätte der Hofrichter auf den Boden gestampft – warum war er denn überhaupt zu dem Alten heraufgestiegen? Hatte er's nicht schon vorher gewußt, was ihm Abt Gregor der Nullte, wie ihn die bösen Buben nannten, sagen würde?

Und da sagte er's ja auch schon mit seiner halblauten, müden Stimme: »Hofrichter, das sind böse Sachen. Ich will sehen, was sich tun läßt.« Und mit bedenklichem Kopfschütteln setzte er hinzu: »Das Beste ist immer noch mein alter Spruch – schicket euch in die Zeit und in ihre Menschen.«

Da war's ja heraußen. Und es schien, als hätte der Hofrichter nur auf dieses Wort gewartet. Mit einem Kratzfuß wandte er sich und griff nach der Türe.

»Einen Augenblick noch!«

Der Riese stand halb abgekehrt.

»Der Bildschnitzer Veit – du kennst ihn ja.«

Der Riese nickte wortlos und wandte sich wieder dem Abte zu. Es würgte ihn; er hätte im Augenblick kein Wort herausgebracht.

Der Abt hielt nun ein Brieflein in den Händen und klemmte das Glas auf die Nase. Ganz vorn auf den Knorpel. Und über die großen Hornringe blickten seine Augen auf den Mann an der Türe.

Den würgte die Wut.

»Der Bildschnitzer Veit wird etliche Wochen bei uns zu Gaste sein. Er ist krank an den Augen und will unser Brünnlein gebrauchen. Wir haben die Angelegenheit hin und her besprochen, und weil er ausdrücklich gebeten hat, daß man ihm eine stille abgelegene Wohnung einräume, und weil er ohnedies schon einmal ein paar Tage bei dir gewohnt hat, so wird es am besten sein, wenn er wieder –«

»– in meine Giebelstube zieht und von mir verköstigt wird,« vollendete der Hofrichter. »Ich kenne meine Verpflichtung«, setzte er mit rauher Stimme hinzu. »Ich bin des Gastes gewärtig.«

298 Der Abt nickte und sagte begütigend: »Er ist ein kranker Mann, er wird ein stiller Gast sein und dir keine Unrast verursachen.«

Der Hofrichter machte seinen Kratzfuß zum zweiten Male und ging aus der Türe.

Im Hausflur blieb er stehen, ballte die Fäuste und zog keuchend Atem. Aber nur einen Augenblick überlegte er. Dann durchschritt er den offenen Säulengang, der von der Abtswohnung über den Hof zum Klausurpförtlein führte. Ein dienender Bruder öffnete. Er durchquerte die Klausur und verließ sie durch ein zweites Pförtchen. Und nach kurzem widerhallte der Gewölbegang zu ebener Erde der äußeren Klosterschule vom Tritt seiner genagelten Schuhe.

Tobender Lärm schlug aus dem dämmerigen Saale der Rekreation, das ist zu deutsch Erholung. Der Vogt riß die schwere Türe auf und trat über die Schwelle. Seine funkelnden Augen blickten suchend über die Tische, an denen die Schüler tranken, kartelten, würfelten, fiedelten und sangen, und über die andern Buben, die, zu wüsten Klumpen geballt, rangen und rauften.

Ein kleiner, verschüchterter Mönch glitt von der Seite herzu. Der Magister und Wächter über die Blüte der Jugend. Und händereibend fragte er den Zornigen nach seinem Begehr.

Der Hofrichter schob ihn zur Seite und ging mit langen Schritten seinen Weg. Ein Knäuel von raufenden Schülern versperrte ihm seine Bahn. Er wischte einen rechts, den andern links, daß sie gegen die Tische taumelten. Die übrigen wichen furchtsam zur Seite. Die Bahn war frei und es wurde stille im Saale.

Der Hofrichter? Was wollte der Hofrichter im Schulhaus? Und wie sah er aus! Zum Fürchten. So mochte er ausgesehen haben, als er damals den Jungstier –. Jeder kannte die Geschichte von ihm und dem Jungstier.

299 Nun stand der Hofrichter am Ende des Saales, wo der Gesuchte hinter einem langen Tisch beim Würfelspiel saß. Aller Augen waren auf den Hofrichter und den Junker gerichtet.

Der Magister kam zaghaft heran und zupfte den Riesen am Ärmel. Dieser wandte sich ein wenig und schob den Kleinen mit den gespreizten Fingern der Rechten zurück.

Der Junker hatte einen schiefen Blick von unten her auf den Riesen geworfen. Dann schüttelte er mit erzwungener Gelassenheit die Würfel, stieß den ledernen Becher auf die Tischplatte und rief triumphierend: »Zwölf!«

»Du!« sagte der Riese, beugte sich über den Tisch und tippte den Buben mit dem Zeigefinger auf die Brust.

»Du?« Der Junker blickte ihm nun steif in die Augen; denn er fühlte, daß alle im Saale auf ihn schauten. Und höhnisch sagte er: »Was will der Knecht? Ich kann mich nicht erinnern, daß ich Klostersäue mit ihm gehütet hätte.«

Aus einer sicheren Ecke hinter dem Tische tönte lautes Gelächter.

»Du!« sagte der Hofrichter zum zweiten Male, packte den Junker an beiden Armen und zog den Fauchenden, so lang er war, zu sich herüber, bis sein blutroter Kopf über die Tischplatte herabhing, fing mit der Linken seine Handgelenke, legte die harten Klammern seiner Finger um sie und begann ihm mit der flachen Rechten die hintere Seite zu bearbeiten, daß es knallte.

»Du wirst ja wissen, warum,« sagte er ganz ruhig. »Ich will es aber nicht zu arg machen, sonst könntest du zerbrechen.« Und damit stauchte er ihn zurück auf die Bank, daß sie krachte.

Der Junker saß wortlos und schoß aus den blutunterlaufenen Augen tückische Blicke auf seinen Bändiger. Er war anzusehen wie ein böser, geprügelter Hund.

300 Langsam ging der Hofrichter zur Türe. Und kaum hatte er die Türe hinter sich geschlossen, da balgten die Buben wieder, da würfelten sie wieder, und aufs neue tönte die Geige.

Viele der Kleinen gönnten dem Tyrannen da drüben die Züchtigung; denn sie gedachten der Quälereien, die sie alle schon von ihm erlitten hatten. Aber keiner wagte jetzt, die Augen dorthin zu wenden, wo der Gezüchtigte saß, an den Lippen kaute und von Zeit zu Zeit das Blut von sich spuckte.

»Hofrichter, was habt Ihr gemacht!« klagte der Magister neben dem Riesen im Gang. »Könnt Ihr Euch denn nicht denken, was daraus entstehen mag?«

»Ich denke mir gar nichts, als daß ich mich sehr wohl fühle,« lachte der Riese gleichmütig und ging hinaus in den Hof.

*

Hinten an dem langen Tisch waren die Gesellen des Junkers nahe aneinander gerückt, steckten die Köpfe zusammen, scheuchten die Neugierigen, die sich in die Nähe schlichen, mit grimmigen Worten zurück und pflogen Rat.

»Du mußt nun gleich zum Abt gehen!« –

»Zu Gregor dem Nullten?«

»Er kann nicht anders, er muß den Hund in den Turm werfen.«

»Seinen Hofrichter, ohne den die ganze Wirtschaft hier still steht wie die Uhr, wenn man die Gewichte aushängt?«

»Er hat deine Ehre angetastet.«

»Einen vom Adel!«

So summte es durcheinander wie in einem Wespenneste, wenn der Stachel eines Stockes hineingefahren ist.

Wolf aber besann sich mit eingekniffenen Lippen. Endlich sagte er: »Jawohl, ich gehe zum Abt, und ich sehe schon, wie seine dürren Beine schlottern, wenn ich ihm den Brief von meinem Alten unter die Nase halte. Aber den Brief muß ich in Händen haben, eher gehe ich nicht.«

301 »So tust du – recht ist's – das einzig Richtige!« riefen sie durcheinander, und vor einem jeden von ihnen stand, wie aus dem Boden gewachsen, Wolfs Vater, wie er am jüngst verwichenen Weihnachten den Sohn besucht und mit den Mönchen das Fest gefeiert hatte. Ein Riese, ähnlich dem Hofrichter und diesem ohne Zweifel an Kräften des Leibes gewachsen.

»So tust du, recht ist's,« riefen sie alle. Wie Stechfliegen schwirrten die Stegreifgeschichten durch ihre Gedanken. »So tust du, recht ist's. Und was vermag dann der Knecht gegen den Ritter?« –

Noch am gleichen Abende drang die Kunde von der Tat des Hofrichters durch das ganze Kloster und mit ihr das Gerücht von einem Schwur, den der Junker getan. Auch Gregor dem Nullten ward alles von seinen Getreuen zugetragen, und mit Seufzen zog er sich hinter seinen Lieblingsdichter Horaz zurück. Er schlug eine der feinsten Satiren auf und gedachte sich mit den Pfeilen des alten Poeten die lästigen Gedanken zu verscheuchen. Aber es wollte nicht fruchten, wenn er die schönen Verse über menschliche Erbärmlichkeit an sich vorübergleiten ließ. Immer wieder stieg aus dem kostbaren Buche die Gestalt des alten Ritters, der so dröhnend zu lachen, so tapfer zu zechen, so schrecklich zu fluchen und so furchtbar zu hassen vermochte.

Das weite Kloster war in den Bann dumpfer Erwartung geschlagen. Die Mönche flüsterten von Fehdebriefen, die, an Pfeile geheftet, von finsteren Reisigen über die Mauern friedlicher Siedelungen geschossen werden, und vom roten Hahn, der unversehens auf einen Giebel fliegt und mit den Flügeln die Funken anfacht. Noch weniger als sonst wagten die Lehrer den tückischen Junker in seinem Kartenspiele zu stören und ihm und seinen Gesellen die Bierkrüge wegzunehmen, die sie schon am frühen Morgen unter den hintersten Schulbänken zu verstecken gewohnt waren.

302 Unbekümmert war nur der Hofrichter. Mit der Ruhe des guten Gewissens schaffte er vom Morgen bis zum Abend in der arbeitsreichen Frühlingszeit, und wie noch nie duckten sich die Knechte unter sein herrisches Wesen. –

Aber die Mönche hätten sich ihre Angst ersparen, Abt Gregor der Nullte mit ungeschmälertem Genusse die Feinheiten der unsterblichen Klassiker schlürfen können. Das Unheil kam nicht – es kam wenigstens nicht von der Seite, wohin ihre zagenden Augen gerichtet waren. Es ist ja meist die Art des Unglücks, daß es nicht in der Gestalt kommt, in der es der Mensch erwartet.

Statt dessen kam ein Schreiben an Junker Wolf. Er kannte die Hand der Aufschrift. Der Brief war von seiner ältesten Schwester geschrieben. Aber der Vater hatte das Siegel seines Dolchknaufes in das Verschlußwachs gedrückt. Der Brief war vom Vater.

Der Junker riß ihn auf und las, und das Blut stieg ihm den Hals empor, in die Wangen und in die Augen, daß die ungelenken Buchstaben der Schwester vor ihm zu tanzen begannen.

Sein Brieflein war zu böser Stunde in die finstere Burg getragen worden. Der Vater war krank, wurde hart bedrängt von mächtigen Gläubigern, saß mit gestrecktem Beine in seinem Lederstuhl, und in seiner großen Zehe wühlte, brannte, zog und stach die erbärmliche Fußgicht.

Was er aber dem Junker zur Antwort gab, war nicht fein und lautete ungefähr also:

›Dein Brieflein ist mir richtig zukommen, und ich bin ohnedies willens gewesen, Dir auch eines schreiben zu lassen; so hat sich's gütlich getroffen. Muß Dir drei Fragen vorlegen, die Antwort kann ich mir selber denken. Zum ersten: Warum hab ich vom Roßwirt in Rotenburg eine Rechnung von sechs Gulden, einem Schilling und zwei Ort bekommen, 303 und ist mir doch wahrlich nicht bewußt, daß ich am Sonntag vor Fastnacht dort gezecht habe mit zwei Gesellen? Zum zweiten: Was ist seit letztvergangenem Herbst mit Deiner Frau Mutter Gürtelmagd Vefa, daß sie keinem von uns mehr in die Augen schauen kann und sich vorige Woche mit Heulen vor Deiner Frau Mutter auf die Knie geworfen hat? Und drittens: Warum hat Deine älteste Schwester am Aschermittwoch dieses Jahres ihr eisernes Trühlein mit den Kleinoden erbrochen gefunden, das güldene Kettlein aber von ihrer Frau Dotin hat sie nimmer gefunden, so viel sie gesucht hat, bis auf den heutigen Tag? Du Lotterbube! – Und nun will ich handeln von Deinen Geschäften. Du schreibst mir, daß Du von ungefähr im Zwielicht an des Hofrichters Mägdlein angerumpelt bist, und daß Dich der Hofrichter derhalben vor allen Deinen Gesellen gröblich mit Handstreichen an Deiner adeligen Ehre gemindert hat, forderst, ich soll mich aufmachen und den Schimpf blutig rächen. Du Lotterbube! Was es mit dem Anrempeln von ungefähr für eine Bewandtnis hat, lasse ich auf sich beruhen. Aber wie alt bist Du denn eigentlich? Kaum siebzehn vorbei. Ich will Dir sagen, da hast Du überhaupt noch keine adelige Ehre, Du Gelbschnabel. Du mußt sie erst kriegen, die adelige Ehre. Und ob Du sie überhaupt je einmal kriegst, darf ich leider bezweifeln. Den Hofrichter aber kenne ich wohl. Er ist ein Biedermann. Er hat mir vorzeiten mit Erlaubnis des Herrn Abtes einen Meierhof eingerichtet, der kann sich sehen lassen weit und breit. Und wenn ich einen guten Klepper kaufen will, dann besorgt mir's der Mann. Dem Klostervogt tu ich kein Leid – jetzt weißt Du, was Du bisher noch nicht gewußt hast, und wie ich stehe mit ihm. Also, er hat Dich über die Bank gezogen? Da sei Du mir eingedenk, Du bist zurzeit noch immer ein Schüler, wenngleich Du, wie ich berichtet bin, weniger als nichts lernst. Aber es ist von alters her der 304 Brauch, daß man solche Schülerlein mit Ruten streicht, wenn's ihnen not tut. Ob das nun ein Geschorener im Kloster besorgt oder ein Vogt, ist mir ein Ding. Ich kann Dir nur raten: Juckt Dich der Buckel, so kratz ihn und gedenk dabei Deines Vaters.‹ –

Das Gesicht des Junkers war so greulich verzerrt, als er das Papier zu einem Knäuel ballte und in die Tasche schob, daß sein liebster Geselle, der daneben stand, sich mit keinem Worte nach der Ursache zu fragen getraute.

Und niemand erfuhr etwas von dem Briefe des Alten. Deshalb lastete nach wie vor die dumpfe Sorge auf dem Kloster, und sie wurde nicht geringer, als es plötzlich hieß, der Junker sei spurlos verschwunden.

*

Über dem Klosterwalde ging die Sonne in goldgeränderten Wölklein unter. Und als ihr letztes Stücklein verglüht und verbrannt war, starrten die Zacken des Waldes in drohender Schwärze hinein in das Gold.

Ein einspänniges Wägelein fuhr durch das Dorftor und hielt in der engen Gasse am Hause des Hofrichters.

Mit gewichtigen Schritten kam dieser die halbkreisförmigen Steinstufen herab und half dem Gaste von seinem Sitze. Unter der rundbogigen Haustüre stand breit und fest die alte Haushälterin, und neben ihr schlank, hoch und zart Christel, die Tochter.

»Nehmt meinen Arm, Meister, habt acht, jetzt kommen die Stufen, 's geht hoch hinauf – zwölf Stufen. So, und hier stehen alte Bekannte: die Base Anna und meine Christel. Die eine ist nicht jünger geworden, die andere ein wenig älter, aber nicht viel.« Er lachte behaglich.

»O Vater, fünf Jahre!« flüsterte sein Kind und wurde rot.

Der Gast stand schlank und hochgewachsen in seinem Reisemantel unter der Türe. »Gott zum Gruße, Base Anna. 305 Seht mich an, ich komme anders wieder, als ich vor fünf Jahren gegangen bin.« Er seufzte tief und strich mit der schmalen Rechten über die schwarze Binde, die seine Augen bedeckte. Dann fuhr er scherzend fort: »Grüß Gott, kleine Christel, seh' dich noch vor mir, wie du damals gewesen, groß und dürr. Hängen dir die schwarzen Zöpfe noch so lang über den Rücken herab?«

»Na, na,« sagte die Base. »So eine Jungfrau, das wäre nicht sittsam.«

Suchend streckte ihnen der Meister die Hand entgegen. Da griff die Base danach, bedauerte weitläufig sein Leiden und begann mit beredten Worten die Heilkraft des Brünnleins zu preisen.

»Eine fehlt mir«, sagte der Meister, der achselzuckend die Rede der Alten angehört hatte. »Ich kann mir Euere Behausung eigentlich ohne sie gar nicht denken. Aber dafür ist's ja gut, daß ich nicht sehe.«

Einen Augenblick war alles stille, und es war, als ob noch eine hohe Gestalt heranträte und dem Gast ihren seltsamen Gruß ›Friede sei mit Euch!‹ böte, den ungebräuchlichen Gruß, der dem Weibe des Hofrichters den Beinamen ›Unser Friede‹ eingebracht hatte.

Da begann die Abendglocke zu läuten, und die drei bekreuzten sich und hoben an, mit lauter Stimme das Ave zu beten. Auch der Gast war lässig mit der Rechten über Binde und Brust gefahren, aber seine Lippen blieben geschlossen. Nur nach dem Amen der andern sagte er leise: »Friede sei mit Euch!«

Da seufzte die Jungfer Christel tief auf.

»Beliebt's Euch, so führe ich Euch in Euer Stübchen,« brach der Hofrichter das Schweigen, und Christel hob das Felleisen vom Boden. »Es ist die alte Stube mit dem weiten Ausblick über die Giebel und Gärten bis hinüber –«

306 Die Base zupfte ihn am Ärmel, und der Hofrichter brach mit einem scheuen Blick auf die schwarze Binde seine Rede ab.


»Der arme Meister Veit ist ja noch gar nicht so alt, wie ich mir immer dachte,« meinte Christel nachher in der Küche, wo die Base den Imbiß fertig machte.

»Alt?« Diese lachte und begann an den Fingern zu zählen. »Fünfunddreißig höchstens. Aber wie kommst du darauf?«

»Als ich ein Kind war, meinte ich, er sei schon sehr alt,« sagte Christel und ging, den Tisch in der Stube zu decken.

*

Die Vertrauten des Abtes saßen in seiner vertäfelten Kemenate. Die Ölampel hing über dem Tische und erhellte mit sanftem Lichte das Gemach. Der Wein funkelte in dem kleinen silbernen Bechern, durch die geöffneten Fenster strömte aus den mondhellen Gärten der Duft der blühenden Bäume, und wenn die behagliche Rede zuzeiten verstummte, dann war das leise Rauschen des Mühlbaches zu vernehmen, und es war anzuhören, als rauschte da draußen in weiter Ferne die Zeit vorüber, die Zeit, die nicht böse, nicht gut war; da herinnen aber sitze man, der Zeit entrückt, wie einer, der am Ufer den rinnenden Wassern nachblickt.

So liebte es Abt Gregor, den sie den Nullten nannten: weiche Kleider, linde Lüfte, gefällige Rede und blumigen Wein – und wenn die Zeit, die ihm als die böse schlechtweg erschien, weit drüben vorüberrauschte und keine schmutzige Schaumflocke seine weiße Kutte befleckte.

Der Bruder Gastmeister, der die Fäden eines großen Netzes über das Land gespannt und auf all den zahllosen Gütern seines Klosters, in all dessen Stadthäusern Vertraute sitzen hatte, die ihm Nahrung für seine Wißbegierde zutrugen; der Bruder Gastmeister, der alles wußte, was seinem Kloster zu wissen not tat, der freigebig mitzuteilen gewohnt 307 war aus den Schätzen seines Wissens und in den Urkundenschreinen seines unglaublichen Gedächtnisses doch noch immer vieles zu seinem eigenen Gebrauche verbarg; dieser Gastmeister hatte soeben den langen Zeigefinger an die schmale Nase gelegt, die spitzig zu nennen gewesen wäre, hätte nicht an ihrem Ende ein rundes Knöpflein gesessen, und sagte mit seiner stets gedämpften Stimme: »Daheim bei seinem Vater ist er nicht; doch habe ich meine bestimmten Anzeichen, daß er bei seinem Schwager untergeschlupft ist, demselben, der mit seinem Schwiegervater in Streit verbissen ist wegen der Mitgift. Wobei ich natürlich nicht weiß, auf welcher Seite das Recht ist.« Und nach einer Weile setzte er nachdenklich hinzu: »Er hat ja gröblich und bübisch gehandelt am Hofrichter, und dieser ist wahrlich in seinem väterlichen Recht gewesen. Aber ich denke mich nach meiner Gewohnheit auch in die Edelmannshaut und sage mir, er ist der Züchtigung doch schon beinahe entwachsen, und es ist hart für den Hochfahrenden, zeitlebens als ein Geprügelter einhergehen zu müssen. Denn nicht eines jeglichen Sache ist gottergebene Demut.«

Es war, als ob die Gewässer des Mühlbaches vernehmlicher als vordem rauschten. Die Religiosen saßen stumm im Kreise und überschlugen bei sich, ob dem Kloster aus diesem Novum Vorteil oder Schaden erwachsen könnte.

Eine Fledermaus flog zum Fenster herein, strich lautlos über die Häupter der Geschorenen und wischte lautlos wieder hinaus in die Nacht.

»Ein ander Gespräch«, sagte der Abt leise und trocknete mit seinem feinen Nastüchlein die hohe Stirn, die feucht geworden war bei den Worten des Gastmeisters.

Dieser nahm einen Schluck aus dem Becher, schloß die Augen, zerdrückte den Wein auf der Zunge und begann aufs neue: »Der Meister Veit ist zwischen Lichten beim 308 Hofrichter vorgefahren. Ich schätze, er wird zahmer auf dem Stänglein sitzen als hierorts vor fünf Jahren, wo ihm die Augen nicht von der Kappe verhüllt waren.« Und mit leichtem Wiegen des Hauptes fügte er bei: »Ich habe niemals schärfere Augen gesehen als im Kopfe dieses gottbegnadeten Bildschnitzers. Und nun diese Heimsuchung!«

Ein Schmunzeln ging über die hagern und über die vollen Gesichter, und der kleine Bruder Berthold, Doktor der Theologie und Bibliothekar, sagte mit seltsam tiefer Stimme: »Es ist uns allen nicht unbekannt, daß unser Mitbruder viele kleine, spitzige Pfeile in seiner Kutte trägt und sie mit Vorbedacht zu versenden weiß. Aber jede Spitze hat er zuvor mit lindernder Salbe bestrichen.«

Wieder ging ein Schmunzeln rundum über die Gesichter.

Einen geschwinden Blick warf der Gastmeister auf den Büchermann. Dann fuhr er gelassen fort: »Man erzählt, der Meister habe getobt und gerast und in drei Sprachen geflucht, in der deutschen, der welschen und der polakischen, die er seine Muttersprache nennt, als ihm die Ärzte die Gefahr der Erblindung kundgaben. Aber freilich, das Blut der Ausländer ist hitziger als das unsere, und wenn einer mit wunderbarer Kunst die heiligen Martyrer zu schnitzen versteht, so ist damit noch lange nicht gesagt, daß er selber aus dem Rosenholze der Gottergebenen geschnitzt ist.«

»Er ist in der Tat ein Ausländer?« fragte der Magister, dem die Schule anvertraut war. »Unser Bruder, der seinen Honig aus allen Blumen saugt, die auf zwei Stengeln die Heerstraße entlang ziehen –«

»Du könntest ja deinen Spott für deine Buben sparen«, unterbrach ihn der Gastmeister mit freundlichem Lächeln. »Aber ich kann mir denken, mein Bruder, irgendwo muß man die angesammelte Galle entleeren, und darum sei dir Nachsicht gewährt.«

309 Der Magister wurde rot, senkte den Kopf und vollendete seine Rede: »Ich meine nur, du könntest uns gewiß einiges über den berühmten Mann erzählen, was wir nicht wissen.«

»Er ist in der Tat ein Ausländer, weiß aber selbst kaum, wohin er gehört,« begann der Gastmeister. Und sogleich setzte er entschuldigend bei: »Weil wir aber nach den Worten der heiligen Schrift allesamt Gäste und Pilgrime sind, hat dieses nicht allzuviel zu bedeuten.«

»Obwohl du selbst vorhin gemeint hast, daß Herkunft und Geburt nicht ohne Einfluß auf des Menschen Gemütsart sind,« warf der Bruder Weinschließer ein.

»Das geb' ich zu«, nickte der Erzähler und wollte in seiner Rede fortfahren.

Da unterbrach ihn der Abt, der bislang geschwiegen hatte: »Und jetzt verliert er vielleicht sein Augenlicht und – dann hab' ich's.«

Die Brüder sahen verwundert auf den Abt. Denn sie konnten nicht sogleich wissen, was denn dieser habe, wenn der andere sein Augenlicht nicht mehr habe.

Doch alsogleich fuhr der Abt seufzend fort: »Vor fünf Jahren habe ich ein Gelübde getan, bei welchem Anlasse, das gehört nicht hierher. Gut also, ich bestellte bei unserm Meister einen lebensgroßen Kruzifixus für unser Münster, das Beste was er zu schaffen vermöchte, einerlei was es koste. Schon damals fiel mir auf, daß er Ausflüchte machte, klagend, daß er nicht ein noch aus wisse vor Arbeit, und mich auf bessere Zeiten vertröstete. Ich gab mich zufrieden und wartete ein volles Jahr. Da ermahnte ich ihn mit sanften Worten. Er aber wiederholte sein seltsames Spiel, und es war mir, als versteckte er sich vor mir. Als ich stärker in ihn drang, wand er sich wie ein Aal, und ich konnte den Grund seines Weigerns nimmer erfahren. Mit gelassenen Worten gab ich ihm ein zweites Jahr, und als dieses um 310 war, ging ich wieder zu ihm. Er hatte noch nicht das Holz vorbereitet zu seinem Werke! Da ward ich traurig und erzählte ihm von meinem Gelübde. Auf dieses hin führte er mich in sein eigenes Schlafgemach und wies mir eine große Muttergottes mit dem Kind auf dem Arm. Und mit seiner schmeichlerischen Stimme hub er an und bat mich: ›Herr, habt Geduld mit Euerm Knechte. Nehmt diese Muttergottes, die mir so lieb ist, daß ich sie bisher noch nicht verkaufen konnte. Aber Ihr sollt sie haben. Stellt sie einstweilen in Euer Münster und tut Euerm Gelübde genug. Ich lasse sie Euch um die Hälfte des Wertes.‹ Das Bildnis war unbeschreiblich schön. Dennoch schüttelte ich den Kopf. ›Ich habe einen Kruzifixus gelobt.‹ – ›So geht zu einem andern Meister, lieber Herr,‹ bat er mich flehend. – ›Ich habe einen Kruzifixus von deiner Hand gelobt und kann mein Gelübde nicht brechen‹, antwortete ich. ›Aber höre Meister, es will mir seltsam erscheinen, daß du meiner Kirche verweigerst, was du schon so vielen andern gewährt hast. Ich dächte, es wäre die schönste Aufgabe für einen – Herrgottschnitzer, der du doch einmal bist.‹ Da sah er mich mit seinen großen, schwarzen Augen an, seufzte und sprach: ›Jawohl, die schönste, aber glaubt mir, die allerschwerste, die Ihr mir stellen könnt. Denn‹ – und dabei richtete er sich auf und sah mich hochfahrend an –›Ihr habt das Beste bestellt, was ich – hört mich wohl – was ich zu schaffen vermöchte. Beliebt es Gott, Ihr sollt es haben, aber gewährt mir, ich bitt' Euch, ein weiteres Jahr.‹ Ich gab mich zufrieden und wartete ein drittes Jahr und ein viertes und ein fünftes – und besitze meinen Kruzifixus zur Stunde noch nicht.«

»Ein wetterwendisch Volk alles, was Bildschnitzer, Maler und Musiker heißt,« sagte der Gastmeister mit tiefer Überzeugung. »Nun, dieser große Meister darf es wohl dreifach sein; denn er vereinigt ja die drei Künste alle in seiner Person.«

311 »Wollen wir beten, daß er Heilung finde an unserm Brünnlein,« sagte der Bibliothekarius. »Und vielleicht erscheint ihm in seinem Elend das Bild des Gekreuzigten mit solch zwingender Gewalt, daß es ihm keine Ruhe mehr läßt, bis er das Bildnis geschnitzt hat.«

»Das fördere Gott!« sagte Abt Gregor und gab das Zeichen zum Aufbruch.

*

Es war am Abende des nächsten Tages. Base Anna saß in der Giebelstube dem Gaste gegenüber, schnitt ihm die letzten Stücke seines Imbisses vor und betrachtete mit einem mütterlichen Lächeln, was von den Zügen des Meisters, bleich und erregt, unter der schwarzen Binde hervorsah. »Das da müßt Ihr noch essen«, drängte sie, als er das Messer beiseite legte und sich müde zurücklehnen wollte. »So wenig essen, das gibt's nicht. Heute mittag schon und jetzt wieder.«

»Was liegt mir daran, ob ich früher oder später eingehe?« sagte er bitter. »Laßt mich doch in Frieden. Das Tier des Waldes verkriecht sich auch, wenn seine Zeit um ist.« Und er tastete nach dem Handtuch.

»Eingehen?« Sie sagte es zornig. »Dann hättet Ihr auch daheim bleiben können. Wer wird so gottlos reden! Eingehen? Davon kann keine Rede sein, solange ich für Euer Essen zu sorgen habe. Und Ihr seid ja doch sonst ganz gesund? An solchem Augenübel ist noch niemand gestorben. Das ist mir zum Lachen. Eßt, sag ich!«

Gehorsam griff der Meister von neuem nach den Bissen auf seiner Schüssel und aß, bis sie leer war.

»Und werdet Ihr heute nacht wieder die nasse Leinwand, wie sich's gehört, über Euere Augen legen? He?«

»Weil Ihr es wollt!« antwortete er.

»Hier ist das Handtuch. So! Und jetzt gebt mir die Hand, ich will's Euch zeigen, Herr: hier neben Euerm Bette 312 steht wie gestern die Schüssel mit den Lappen. Die Christel hat erst vorhin das Wasser geholt. Tut Ihr das Euere, und das heilkräftige Wasser wird das seine tun. Deswegen seid Ihr doch zu uns herausgekommen, sollt ich meinen?«

»Deswegen?« Er lachte leise auf. »Das weiß ich wirklich selber nicht. Ich will's Euch sagen, wenn Ihr's wissen wollt. Ich mußte den Ort verändern. Da drinnen in der Stadt ist mir alles eng geworden, ich habe nimmer atmen können, ich hätte am liebsten alles, alles um mich her kurz und klein geschlagen – nur fort, nur fort! hab' ich geschrieen, und dann hab' ich dem Abte die Botschaft geschickt. Jetzt bin ich da; es ist aber bis jetzt nicht anders geworden.«

»Von morgen an eßt Ihr mit uns in der Stube drunten« entschied sie. »Da habt Ihr Ansprache und seid nicht so allein mit Euern Gedanken. Und dann könnt Ihr Euch in das Gärtlein setzen, und die Christel liest Euch aus einem Legendenbuch vor. Sie kann ja so schön lesen. – Aber sagt, was ist denn da aus dem Klumpen Wachs geworden, den ich heut morgen aus Euerm Felleisen genommen habe?«

Er stand am offenen Fenster, sie aber war an das Bett getreten und hob mißbilligend ein seltsam geformtes Gebilde von der Decke. »Pfui Schande, ist das der Herrgottschnitzer von einstmals? Die richtige Teufelsfratze, und zwei Hörnlein hat's auch auf dem Kopfe. Ja, fürchtet Ihr Euch denn nicht der Sünden?« Und damit umkrallte sie das weiche Gebilde und drückte es zu einem Klumpen zusammen, warf ihn auf die Decke und bekreuzigte sich.

Der Meister lachte gutmütig: »Erzürnt Euch doch nicht unnötigerweise. Eine Fratze – sonst nichts. Meint Ihr denn, ich könne mit der Binde vor den Augen als ein Blinder so von ungefähr einen Engelskopf darstellen? Hilft mir Euer heiliges Wasser, dann sollt Ihr einen haben mit Backen zum 313 Platzen, und nicht nur den Kopf, sondern auch den Balg mitsamt den Flügeln. Seid Ihr einverstanden?«

»Das läßt sich schon eher hören«, meinte die Base ein wenig besänftigt. »Wundert mich nur, wie Ihr beides schaffen könnt mit ein und derselben Hand – Engel und Teufel!« Sie bekreuzigte sich.

Der Meister lachte und beschrieb mit einer großartigen Bewegung einen Kreis in der Luft: »Das Reich der Kunst umfaßt Himmel, Erde und Hölle, und überall sind wir zu Hause.«

»Überall?« Die Frau schüttelte sich. »Dann wisset, daß Ihr jetzt zu Hause seid beim Hofrichter Ulrich, und in seiner Behausung ist kein Raum für Teufel,« – sie bekreuzigte sich – »auch nicht für solche aus Wachs.«

Sie lauschte gegen das offene Fenster, schob den Meister zurück, trat hin und beugte sich hinaus.

»Heilige Jungfrau, da sitzen sie wieder, obenan die Christel; alle zwölf Staffeln sind voll von Kindern, und die ärgste Rotznase gibt sich Mühe, ein Engelsgesicht zu machen. Schaut selber, das ist ein schönerer Anblick als das, was Euere Hände gemacht haben!«

»Ist mir leid, wie Ihr wißt, kann ich nicht sehen,« sagte er grimmig und setzte sich auf den Bettrand.

»O verzeiht!« rief sie und trat sogleich zurück. »Aber unsere Christel, müßt Ihr wissen, wo die geht und steht, sind auch die Kinder aus dem ganzen Dorf hinter ihr drein. Oft ist's zum Lachen, oft aber wird's auch zu arg. Und ich sag' Euch, Meister, wenn ich nicht zuweilen wie der Engel vor dem Paradies an der Türe stünde, wir könnten uns im eigenen Haus nimmer retten vor all dem kleinen Volk. Aber die Christel versteht's mit ihnen, das muß man ihr lassen. Besser als der Klosterbruder drüben im Schulhaus mit den verdächtigen Buben.«

314 Der Meister lachte und schlug sich aufs Knie. »Ich habe einen Gedanken, Base: wenn ich wieder ein Schnitzmesser führen kann, dann schnitz' ich Euch als Engel an den Pforten des Paradieses. Und wetten, es traut sich niemand hinein!«

»Es sind vier Leinwandlappen in der Waschschüssel,« sagte sie mit treuherziger Stimme; »Ihr wißt ja, zum Wechseln. Und wenn Ihr Euch immer zugleich auch einen Lappen aufs Maul legt, so kann auch dort das heilkräftige Wasser nur nützen.«

Damit verschwand sie aus der Türe.

Der Bildschnitzer lachte, daß es ihn stieß, und sagte halblaut hinter ihr her: »Die könnte einem beinah die Grillen vertreiben.«

Er stand auf, reckte und dehnte sich, gähnte und trat ans Fenster, sog die laue, blütenduftende Abendluft ein und lauschte hinab.

»Du, Christel, ist der böse Mann noch bei euch?« fragte ein feines Kinderstimmlein.

»Bei uns ist kein böser Mann«, antwortete die glockenklare, tiefe Stimme des Mägdleins.

»Wer weiß das?« murmelte der Mann am Giebelfenster und ballte die Fäuste.

»Ei, der Mann mit dem schwarzen Tuch überm Gesicht, der gestern abend hergefahren ist,« behauptete die seine Stimme.

»Das ist kein böser Mann«, sagte Christel in verweisendem Tone.

»Warum hat er aber das schwarze Tuch überm Gesicht?« beharrte das Kind.

»Weil seine Augen krank sind und ihm das Licht weh tut.«

Das Kleine schwieg.

Nach einer Weile fragte ein anderes. »Warum ist er denn in deinem Haus?«

»Weil er gesund werden will.«

315 »Kannst du ihn wieder gesund machen?«

Christel lachte. »Ich kann ihn freilich nicht gesund machen. Ich kann ihm nur das Wasser schöpfen, das seine Augen gesund macht, ihr wißt ja, das Wasser aus dem heiligen Brunnen.«

»Ich weiß«, sagte nun eine tiefe Kinderstimme. »Ich habe meiner Mutter auch immer von dem heiligen Wasser bringen müssen, wie sie so krank war.«

»Gelt, und die ist ja auch wieder gesund worden!«

»O ja, wir haben aber auch gebetet für sie so viel und so fest.«

»Ja, beten muß man freilich immer dazu,« bestätigte Christel. »Und wie wär's denn, wenn ihr auch für den Mann da droben alle Abende beten wolltet – was meint ihr?«

Etliche von den Kindern stimmten sogleich zu, andere aber waren vorsichtiger Art und überlegten, ob sie die neue Belastung ihres Abendgebetes auch übernehmen könnten. Aber Christel gab nun nicht mehr nach, und zuletzt waren alle einig, daß hier etwas geschehen müsse.

»Und du, Margaret?« fragte sie das Kind, das zuerst nach dem Manne mit dem schwarzen Tuch gefragt hatte.

»Dann will ich auch beten für den bösen Mann«, sagte es zögernd.

»Ich hab' dir doch schon gesagt, er ist kein böser Mann, und du darfst das auch nicht mehr sagen,« verwies ihm das Mägdlein die Rede. »Höret, er ist ein frommer Mann, er ist ein Herrgottschnitzer.«

»Ein Herrgottschnitzer?« fragte das Kind. »Was ist das?«

»Einer, der so klug und geschickt ist, daß er den lieben Herrn Jesus und die Muttergottes und alle Heiligen aus Holz schnitzen kann. Dann stellt man sie in die Kirche und an die Wege oder auch in alte hohle Bäume und verrichtet seine Andacht vor ihnen«, wollte Christel die Kleine belehren.

316 Aber da kam sie auf einen schlüpfrigen Boden, und sogleich rief eine helle Stimme: »Ei, die Muttergottes in der blutigen Linde draußen ist doch vom Himmel gefallen, hat meine Mutter gesagt!«

»Ja freilich, die schon,« gab Christel bereitwillig zu.

»Und überhaupt, alle Heiligen werden von den lieben Engelein in die Kirchen gestellt, hat meine Mutter gesagt. Nicht?«

Angestrengt lauschte der Mann am Giebelfenster.

Christel aber rief nach einer Weile: »Was meint ihr, es wird sogleich zu Abend läuten, und dann heißt's eia popeia ins Bett! Da müssen wir uns doch vorher geschwind noch eines singen?«

»Singen – singen – singen!« riefen sie und klatschten in die Hände.

»Aber was denn?«

Nun schrieen sie alle durcheinander, und jedes wußte ein anderes Lied.

»So geht's nicht,« sagte Christel, »alle Lieder auf einmal können wir nicht singen. Aber ich glaube, die meisten von euch möchten den Abendstern singen. Ist's nicht so?«

»Den Abendstern, den Abendstern!« riefen sie alle im Chore.

»Gut also. Aber nicht so laut und nicht so geschwind!«

Und es klang nach einer süßen Weise aus der Gasse empor:

Goldner Abendstern,
leuchtest so fern, so fern
über der Welt;
wanderst so still, so klar
immerdar, immerdar
droben am himmlischen Zelt.

Goldener Abendstern,
droben am himmlischen Zelt, 317
wär' ich so still wie du
hier in der irdischen Welt

Goldener Abendstern
leuchte von fern, von fern,
leucht' mir zur ewigen Ruh'!

Jetzt hob sich der Schwarm von den Stufen: Gut Nacht! Gut Nacht! klang es in allen Tönen durcheinander. Viele nackte Füßlein patschten die enge Gasse entlang, und vom Dachreiter des Münsters begann die Ave-Maria-Glocke zu läuten.

Der Meister schloß den Holzladen und das Fensterlein mit den runden Scheiben und löste in der Finsternis die Binde von seinen Augen.

Dann ging er zu Bette und legte den nassen Lappen über die Augen. Aber unter dem Lappen schossen ihm die Tränen hervor und netzten sein Kissen. Ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte ihn, und halblaut stieß er hervor: »Reinheit, o kindliche Reinheit!«

*

In der Wohnstube des Hofrichters brannte die Unschlittkerze, flackernd und trübe; denn ein großer Räuber hing an ihr herunter. Der Alte saß mit seiner Tochter am schweren Tische. Der Alte schnitzte an einem Löffel, die Tochter spann. Der Alte schwieg, und Christel legte immer wieder die Hand mit der Spindel in den Schoß, blickte mit ihren großen schwarzen Augen ins Leere, und der Flachs auf dem Rocken wurde nicht weniger.

»Christel!« Der Hofrichter deutete mit dem Schnitzmesser auf den Räuber.

Die Tochter schreckte zusammen und handhabte die Lichtschere. Dann warf sie die Spindel, daß diese sich hurtig drehte.

»Christel!« sagte der Alte nach einer Weile zum zweiten Male, legte das Messer und den halbfertigen Löffel auf den 318 Tisch und sah freundlich zu seiner Tochter hinüber. »Was ist denn mit dir? Meinst wohl, ich sehe es nicht, wie du in die Luft guckst und immer wieder die Hände in den Schoß legst, und höre es nicht, wie du so schwer Atem ziehst – sag' mir doch, was hast du?«

Sie holte die Spindel ein und legte die Hände wieder in den Schoß: »O Vater, es ist mir so eng um die Brust, es ist mir, als benähme mir etwas den Atem, es ist mir zumute, als käme ein Gewitter.«

»Ein Gewitter?« Nun stand er auf, öffnete das Fensterlein, schob den Riegel am Holzladen zurück und blickte zwischen den Häusern zum nächtlichen Himmel empor. »Keine Spur! Die lieben Sterne leuchten mit aller Kraft, und über der Gasse steht der goldene Wagen. Es ist eine klare, herrliche Nacht.«

»Vergebt, Vater, es ist mir ja nur zumute, als käme ein Gewitter – ein schreckliches Gewitter.« Ihre Zähne schlugen klappernd zusammen, und sie schüttelte sich. »Und ein Blitz, Vater, und ein Schlag –« Sie erhob sich.

»So hast du Angst?« Er stand noch immer am offenen Fenster. Und plötzlich wandte er sich: »Hat dir wieder jemand etwas zuleide getan?«

Sie kam mit gefalteten Händen näher: »Nein, Vater, kein Mensch. Es handelt sich auch nicht um meine geringe Person.« Sie sah ihn unverwandt an und schluchzte plötzlich laut auf.

»Um wen denn?« fragte der Riese mit weicher Stimme.

Sie unterdrückte ihr Weinen. »Um Euch, Vater.«

»Um mich?«

»Der Junker, liebes Vaterlein!« Sie sah ihn kläglich an.

»Der Junker – ei, an den hab' ich wahrhaftig gar nimmer gedacht. Da hab' nur keine Angst. Der Junker wird dir nichts mehr tun.«

»Mir nicht,« sagte sie traurig, »aber Euch – Euch!«

319 »Pah!«

»Gewiß, Vater. So gewiß, als ich Tag und Nacht nichts anderes denke, denkt auch er Tag und Nacht nichts anderes, als wie er sich räche.«

»Er ist ja fort!« sagte der Hofrichter verächtlich.

»Und wird wiederkommen, Vater.«

»Dann soll er kommen!«

Von der Gasse herauf tönte ein leiser Pfiff, und der Hofrichter wandte sich zum offenen Fenster. Christel umklammerte seinen Arm und suchte ihn zurückzuziehen.

»Kindische Possen!« murrte er und machte sich los.

»Hofrichter, ich bitt' Euch, wollet doch zu uns in den Marstall kommen, die Fatme ist krank worden.«

»Die Fatme?« Der Alte fuhr zurück. »Im Augenblick.«

»Vater!« Nun schlang sie die Arme um ihn und flehte: »Ihr geht nicht fort in der nachtschlafenden Zeit!«

»Nicht fort, wo ich bei Tag und bei Nacht zur Stelle bin, wenn eine Kuh kalbt? Und jetzt, wo es sich um das kostbare Zelterlein handelt, das der Herr Kaiser selbst dem Herrn Abt geschenkt hat?«

»Vater, ich fürcht' mich!«

»Das ist dein gutes Recht; denn du bist ein Weib. Vorwärts, die Mütze!«

Sie ließ ab und nahm die Mütze und die kurze Seitenwehr vom Rechen.

»Die Mütze, hab' ich gesagt! Was soll ich mit der Wehre beim kranken Rößlein?« Er lachte gutmütig, schob sie mit ihrer Wehre zur Seite und ging an die Türe.

»Dann trag' ich Euch die Wehre nach vors Tor bis an den Hof.«

»Unterfang dich's!«

»Oh, wenn die Mutter noch lebte!« Sie starrte ihn hilflos an.

320 Er stutzte. »Also meinetwegen, gib her!«

»O Vater!«

»Kindische Possen!«

»Ihr wißt doch,« sagte sie eifrig und half ihm, sich gürten, »die Schüler schwärmen wie die Nachtraben in den Gassen. Und wie leicht könntet Ihr seinen Gesellen begegnen!«

Er ging, und sie lauschte am offenen Fenster, solange sie seine schweren Schritte hallen hörte.


Als der Hofrichter nach Mitternacht vom Marstalle zurückkam, fand er an der Haustüre einen Zettel hängen, und in drohender Schwärze starrten ihm die großen Buchstaben entgegen:

Cave adsumus. Weil du Hund von einem Knechte aber doch kein Latein weißt, so schreibt man dir auf deutsch: Hüte dich, wir sind da!‹

Der Hofrichter vermochte auch im hellen Mondscheine den Sinn des Zettels nicht zu enträtseln. Denn er kannte weder die lateinische noch die deutsche Schrift.

Er riß ihn ab und sah unschlüssig darauf. Dann zerriß er ihn gleichmütig in kleine Stücke, streute sie auf den Boden und murmelte: »Was ich nicht weiß, macht mir nicht heiß. Amen.«

Ging in sein Haus, legte sich zu Bette und schlief den Schlaf des Gerechten.

*

Des andern Tages nach dem Mittagessen klopfte es an der Stubentüre, und ein schlanker, junger Mensch in der Tracht der Klosterschüler kam herein.

Er verneigte sich mit vornehmem Anstande vor Jung-Christel, dann weniger tief vor dem Hofrichter. Sein schmales, blühendes Antlitz hätte kindlich ausgesehen. Aber von der leicht gebogenen Nase lief zwischen hochgeschwungenen Brauen 321 eine tiefe Falte zur gewölbten Stirne empor. Seine dunkelblauen Augen blickten offen und doch wieder mit stolzer Zurückhaltung. Bis auf die Schultern fielen ihm die hellblonden Locken in dichter Fülle herab. Hoch und frei, ganz anders als die meisten Klosterschüler, trug er das Haupt.

»Willkommen, junger Herr,« sagte der Hofrichter, während sich Christel entfernen wollte. Aber mit einer gebietenden Handbewegung rief der Schüler: »Nein, Jungfer, ich bitte zu bleiben.«

Christel zog sich in die Fensternische zu ihrer Näharbeit zurück, und der Hofrichter bot dem Gaste einen Stuhl an.

»Ich danke«, sagte dieser mit einer gewissen Hoheit. »Meine Angelegenheit ist so ernsthaft, daß ich zu stehen vorziehe.«

»Wie Euch beliebt«, meinte der Hofrichter und stemmte beide Fäuste auf seine Stuhllehne.

»Wenn ich es gewagt habe, in Euer Haus zu treten,« begann der Schüler, und jetzt flog wieder ein ganz kindliches Lächeln über sein Antlitz, »so hat mir eine Erinnerung, besser gesagt, ein ganzes Bündel Erinnerungen den Mut dazu gegeben. Es war vor acht Jahren an einem sonnigen Herbsttage. Aber je heller die Sonne schien, desto weher war mir zumute. Meine Eltern hatten mich in die Klosterschule gebracht, und ich durfte den Nachmittag noch in ihrer Gesellschaft sein. Die Schenkstube und der Tanzsaal waren voll von Eltern und Kindern. Obgleich meine Augenlider vom Weinen verschwollen waren und ich nur durch den Schleier meiner Tränen zu blicken vermochte, sah ich doch vieles ganz scharf, ich sehe es heute noch in der Erinnerung, bis auf den Reisebecher vor meinem Vater, in dessen Silber sich die Sonne spiegelte, daß es mich schmerzte. Ich saß zwischen Vater und Mutter, aber ich konnte mich der Schönheit meines Sitzleins nicht freuen. Ich wußte ja, in einer Stunde würde unser alter Heinz die Pferde aus dem Stall ziehen und dann 322 – ja dann ritten die Eltern davon, und ich blieb allein zurück in der fremden Welt. Zuviel war an jenem Tage auf mich eingedrungen: Ich war vor den Abt gestellt worden, ich hatte seine Hand auf meinem Scheitel gefühlt – er hatte seine Hand an jenem Tage vielleicht schon fünfzig Schülern aufs Haupt gelegt. Ich war mit den Eltern und dem Magister durch das Schulhaus gegangen, hatte mein Bett im Schlafsaal gesehen – der Schlafsaal war so ganz anders beschaffen als das Stübchen neben dem Schlafgemach meiner Eltern. Ich hatte die Schulstuben gesehen mit den bös zerschnittenen Bänken, ich hatte das wilde Schreien im Saale gehört und war unter die andern Schüler getreten, und als mir klar wurde, wie groß und stark die meisten waren, hatte mich die Angst gepackt. Die Stunde verrann, wie alle Stunden verrinnen, die Eltern ritten zum Tore hinaus, und ich verlassenes Büblein schlich durch die Gassen zur Klosterschule. Die Tränen liefen mir über die Backen, und ich tappte an den Häusern hin. Da plötzlich rannte mich einer von hinten an, ich fühlte mich von zwei Fäusten an den Schultern gepackt, eine schreckliche Stimme schrie mir in die Ohren: ›So, jetzt jag ich dich in die Höll!‹ Ich war halb von Sinnen, schloß die Augen und schrie, als ob mich der Gottseibeiuns selber am Kragen hätte.«

Der Schüler bekreuzigte sich. »Es ist mir als einem kleinen Buben in der Schule drüben noch öfter zumute gewesen, als ob – aber lassen wir's; das ist ja längst vorüber. Vergebt mir nur, ich bin weitläufig geworden, aber ich mußte das alles erzählen.«

»Nur zu!« sagte der Hofrichter. »Man hört Euch gerne, Ihr wißt Euere Rede kunstvoll zu setzen.«

Der Schüler fuhr fort: »Da, in meiner höchsten Not, höre ich eine zornige Frauenstimme, die Fäuste lösen sich von meinen Schultern, ich öffne die Augen und sehe in ein wunderschönes Gesicht. Und die zornige Stimme von vorhin 323 sagt, ach so liebreich: ›Fürchte dich nicht, Büble, sieh hin, dort lauft er.‹ Ich fühle, wie eine weiche Hand meine Wange streichelt, und es ist mir, als stehe ein Engel vom Himmel neben mir. Da drunten in der Gasse ist's gewesen, Hofrichter.« Und wieder bekreuzigte er sich und sagte langsam und feierlich: »Requiescat in pace et lux aeterna luceat ei.«

Diesen Spruch von der Ruhe im ewigen Frieden und vom ewig leuchtenden Lichte kannten beide, der Hofrichter und sein Kind, auch im fremden lateinischen Kleide. Sie wußten, wem er galt, und bekreuzigten sich wie der Schüler.

Dieser fuhr fort: »Und sie nahm mich an der Hand, führte mich durch das Haus in den Garten und setzte mich in die Laube, redete mir liebreich zu, ließ sich meinen Kummer erzählen und tröstete mich, wie einen die eigene Mutter nicht besser zu trösten vermöchte. Und wenn ich heute an das Büblein von damals denke und an die wunderschöne, liebreiche Frau, dann steht immer vor meiner Seele das Wort des Heilandes: Was ihr Gutes getan habt an einem dieser Geringsten in meinem Namen, das habt ihr mir getan. Dann ging sie und kam wieder mit einem kleinen Mädchen, das schleppte seine volle Schürze, trat vor mich, öffnete sie und bot mir Äpfel und Nüsse. Und noch oft, wenn ich in den ersten Jahren verlassen, verheult, verprügelt an diesem Hause vorbeischlich, dann hörte ich wieder die liebliche Stimme, die mich hereinlockte und tröstete, und sehe die Frau, die mir gab, was eines Bübleins Herz erfreut: Äpfel oder Hutzeln oder sogar dann und wann einen Löffel Honig. Das ist in den ersten Jahren gewesen. Später freilich hat sich's geändert. Da habe ich das kindische Wesen abgelegt je mehr und mehr. Da sind mir die Bücher lieber und lieber geworden von Jahr zu Jahr, und ich bin in den freien Stunden nicht mehr auf die Gasse gelaufen, wie das Büblein von damals. Und so habe ich sie in den letzten 324 Jahren nur selten von weitem gesehen. Aber vergessen habe ich jene erste Zeit nie, Hofrichter. Ihr seid damals auch zuweilen dabeigestanden und habt meinen Scheitel gestreichelt. Ihr müßt es noch wissen.«

Da fuhr der Hofrichter über seine Augen, räusperte sich ein wenig und sprach: »Wie hätte ich mir alle die Vergeltsgott merken können, die sie sich gesammelt hat von Tag zu Tag? Aber noch einmal muß ich sagen: Ihr versteht Euere Rede fein zu setzen; es ist fast anzuhören wie eine Predigt von der Kanzel. Warum seid Ihr denn in der bösen äußeren Schule und nicht vielmehr in der inneren, wo sie die Knaben zu Mönchen machen? Ich dächte, Ihr hättet mit der Zeit einen großen Abt oder gar einen Bischof gegeben.«

Der kindliche Ausdruck in dem Gesichte des Schülers verschwand, die senkrechte Falte über der Nasenwurzel vertiefte sich, die feinen Lippen kräuselten sich spöttisch, und die blauen Augen blickten hochfahrend: »Einen Mönch? Einen Abt? Hofrichter, Ihr irrt Euch –! Ehe fünf Monate um sind, reite ich nach Paris auf die Hohe Schule. Dort lerne ich alles, aber auch alles, was ich brauche. Denn es gibt nichts Stärkeres in dieser Welt als Wissen. Wissen ist fester und geschmeidiger als eine Passauer Klinge, Wissen ist stärker als ein stählerner Harnisch, und der Verstand trägt seine Pfeile weiter als eine Armbrust aus Worms. Könige müssen sich beugen vor dem, der alle Tiefen der Rechtsbücher kennt, und Gewappnete die Waffen strecken vor dem Witze seines geschulten Verstandes. Ich bin ein Geschlechter wie alle meine Väter, und wenn ich nach Jahren von der Hohen Schule zurückkehre, dann steht mir der Weg offen zu den Ehrenstellen meiner Vaterstadt.« Noch ernster wurden seine Züge. »Das Höchste aber, wonach ich strebe, ist: das Recht handhaben und in der Wage der Gerechtigkeit wägen die Ansprüche der Menschen, dem Unrecht steuern und alles 325 richten und schlichten in dieser argen Welt, was ich nur immer vermag.« Er hielt inne. Dann fuhr er fort: »Richten und Schlichten. Ich habe die Wohltat nicht vergessen – ich vergesse überhaupt nichts. Und jetzt kann ich Euch vielleicht einen kleinen Dienst erweisen; denn Ihr seid in Gefahr.«

»Davon ist mir nichts bekannt«, sagte der Alte, hob den schweren Stuhl und stauchte ihn auf die Dielen, daß es krachte.

»Doch«, nickte der Schüler. »Ihr kennt den Junker nicht.«

»Gelüstet mich auch nicht nach seiner näheren Bekanntschaft.«

Unbeirrt wiederholte der Schüler: »Kennt ihn nicht, wie ich ihn kenne. Er ist bei all seiner Bosheit ein erbärmlich dummer Mensch. Wie ich immer die Erfahrung gemacht habe, daß die Bosheit aus der Dummheit entspringt. Denn wahrhaft klug ist nur, wer sich der Ehrbarkeit befleißigt. Es ist ja kein Zweifel, Ihr seid im vollen Recht gewesen. Ich war nicht zugegen, als Ihr ihn züchtigtet; denn ich saß zu dieser Stunde, wie gewöhnlich, in meiner Zelle hinter den Büchern. Aber nach allem zu urteilen, was ich gehört habe, das Recht ist auf Euerer Seite.«

Das Kindergesicht war nun in so ernste Falten gelegt, daß es den Anschein hatte, als suchte ein gereifter Mann in den Schranken das Recht.

»Ich kenne ihn und weiß, daß er Tag und Nacht auf Euer Verderben sinnt.«

»Soll er –! Man sagt übrigens, daß er geflohen ist.«

»Um wiederzukommen, Hofrichter, verlaßt Euch darauf! Und da möchte ich Euch helfen und weiß keinen anderen Ausweg als einen Vergleich. Freilich, den sollte der Herr Abt in die Hand nehmen. Aber – Ihr wißt ja.« Er reckte sich: »Also muß ich's tun. Es ist nämlich auf der andern Seite wohl zu erwägen, daß Ihr den Junker bitterlich geschädigt habt; denn es ist hart für den Hochfahrenden, daß er nun zeitlebens als ein Geprügelter einhergehen muß.«

326 »Kann und will die Prügel nicht ungeschehen machen«, sagte der Klosterrichter.

»Sollt und könnt Ihr auch nicht«, antwortete der jugendliche Richter. »Aber vergleichen könnt Ihr und – wenn ich gut raten darf – müßt Ihr Euch mit ihm, damit nicht aus dem einen Unrat viel anderer Unrat erwachse. Und da habe ich mir nun Folgendes zurecht gelegt: Er hat einen starken Anhang, ich habe den stärkeren. Aus diesem Anhange wählen wir je fünf Zeugen. Vor diesen Zeugen erscheint Ihr und der Junker. Es wird festgestellt, was beiderseits geschehen ist, und dann erklärt der Junker, daß es ihm leid ist, was er getan hat. Abzubitten braucht er nicht; denn seine Strafe hat er vorweg. Ihr aber erklärt, daß Ihr ihm den Schimpf, übermannt vom gerechten Vaterzorn, angetan, daß Ihr seine Ehre damit nicht im geringsten habt mindern wollen und als der freigeborene Mann, der Ihr seid, ihn fortan für einen Ehrlichen vom Adel zu achten gewillt seid.«

Der Hofrichter lachte gutmütig. »Reitet immerhin nach Paris; ich habe jetzt nicht den geringsten Zweifel mehr, daß Ihr ebenso wie ein Abt oder Bischof ein berühmter Kanzler zu werden versprecht.«

Über das bisher so altkluge Antlitz des Schülers ging nun wieder ein sonniges Kinderlächeln. Er faltete die Hände und sagte: »Wie stolz wollte ich sein, wenn es mir gelänge, die Gefahr von Euerm Haupte abzuwenden.«

Der Hofrichter stand mit zusammengezogenen Brauen und schwieg.

Da kamen leichte Schritte vom Fenster her, und Christel trat neben den Schüler.

»Ich bitte Euch, Hofrichter!« sagte der Schüler mit gefalteten Händen.

»Er meint es gut, Vater; denn er hat liebreich von der seligen Mutter gesprochen,« sagte Christel.

327 »Es kommt mich hart an,« grollte der Alte; »denn ich bin im Recht.«

»Wer einen Vergleich eingeht, der muß ein Stück nachgeben,« schmeichelte der Schüler.

»Wißt Ihr denn auch, ob der Junker will?«

»Ist mir's bei Euch, dem Manne, gelungen, so hoffe ich, daß es mir auch beim andern nicht fehlen wird. Und wenn auch nicht, – dann habt Ihr das Euere getan. Wäre aber Euere selige Hausfrau am Leben – wo glaubt Ihr, daß sie stünde, Hofrichter? Hier bei mir oder drüben bei Euch? Wie ist mir denn? Höre ich nicht noch ihren seltsamen Gruß, den sie immer und immer gebrauchte –?«

»Friede sei mit euch!« sagte die tiefe Stimme der Jungfer Christel, die nun auch mit gefalteten Händen dastand und bittend zu ihrem Vater emporblickte.

»Von mir aus!« rief der Hofrichter und wandte sich ab. »Ich kann's ja leicht versprechen; denn der andere wird's nicht wollen.«

»Das werden wir sehen! Ich dank' Euch«, rief der Schüler, neigte selbstbewußt und doch bescheiden das Haupt und ging zur Türe.

Hocherhobenen Hauptes ging der Schüler die Gasse hinunter, und der Frühlingswind spielte mit seinen Locken.

*

Unverändert, wie sie vor dreihundert Jahren erbaut worden, standen die Gebäude des Klosters im Vierkant. Gebäude von mäßiger Höhe, Erdgeschoß und ein Stockwerk, so daß die Sonne immer noch ein gut Teil des Tages in den Hof zu scheinen vermochte, den sie umschlossen. Noch wohnten die Mönche in den alten Zellen, wo die unübersehbare Reihe ihrer Vorfahren gebetet, gefastet und sich gegeißelt hatte, noch standen die Bücher in der Bibliothek oder lagen, wenn sie sehr kostbar waren, auf schweren 328 Eichenpulten an eisernen Ketten befestigt, und ihre Menge wuchs von Jahr zu Jahr; denn fort und fort kamen aus den Zellen schreibkundiger, kunstfertiger Brüder neue Bände mit schwarzer, glitzernder Schrift und farbenglühenden Initialen, und noch kein Abt hatte die lange Zeit her den Knopf auf den Beutel gedrückt, wenn es galt, ein seltenes Stück zu erwerben. Und vollends in den letzten Jahren, seit die Welt erfüllt wurde mit den Büchern aus den berühmten Druckereien der Städte, standen die Folianten und Quartanten enge gepreßt auf den hohen Gestellen, und man sah die Zeit kommen, wo der alte Raum den überquellenden Segen nicht mehr zu fassen vermochte.

Aber es hatte sich doch manches verändert in dem unermeßlich reich gewordenen Kloster. Der Abt war aus der alten Wohnung im Vierkant der Gebäude fortgezogen und hatte sich das prächtige Haus gebaut abseits der Brüder. Und hart am alten Kloster erhoben sich neue Gebäude, notwendig geworden zur Aufnahme der doppelt vermehrten Zahl der Religiosen.

Mitten in dem kleinen Klosterhofe stand dunkel und massig eine immergüne Eibe. Es war ein Stamm von gewaltigem Umfange da drinnen zwischen den stillen Mauern. In zwei Manneshöhen vom Boden ging er gabelförmig auseinander. Doch erst wenn einer ganz nahe hinzutrat, blinkte ihm die silbergraue Rinde aus dem düstern Wirrsal der Wedel entgegen. Denn bis auf die Erde hinab wuchsen die zottigen Äste, ja, es war anzusehen, als wäre der Fuß des Stammes ganz eingehüllt in die schweren Falten einer wallenden Schleppe. Oben aber, in sechs Manneshöhen vom Boden, strebten die Äste straußartig auseinander und gewährten durch weite Lücken dem Sonnenlicht seine Wege in den Hof. Wie ein heidnisches Wahrzeichen, vereinsamt und von der alles zerstörenden Zeit vergessen, stand er da, und seine 329 schwarzgrünen Wedel flüsterten mit dem Windhauch, der über das Dach strich. –

Am Abende desselben Tages wurde das Glöcklein der Klosterpforte gezogen. Der Schieber am Guckfenster ging zur Seite, und hinter den Gitterstäben erschien das Haupt eines Mönches.

»Die Christel? Ei, was will denn die Christel von uns?«

»Ich habe eine große Bitte«, sagte das Mägdlein und schluckte ein wenig. »Ihr wißt ja, Ehrwürdiger, daß der Meister Veit bei uns wohnt.«

»Ich weiß es. Er ist krank an den Augen.«

»Gewiß. Und das Wasser der Quelle soll ihm Heilung bringen. Alle Abend hole ich ihm einen Krug Wasser. Mit dem benetzt er nachts seine Augen.«

»Tu das, mein Kind, und dein Glaube mache dich selig.«

»Nun möchte ich Euch bitten, daß Ihr mir um Gotteswillen alle Abend meinen Krug aus der heiligen Quelle selbst füllt.«

»Das ist aber nicht Brauch, mein liebes Kind. Zu diesem Zweck ist doch ein Rohr von der Quelle hinaus vors Kloster gelegt, und aus dem Brünnlein an der Mauer schöpfen alle, die den Glauben haben an die Heilkraft des Wassers.«

»Gewiß«, nickte sie eifrig. »Aber die Leute sagen, das Wasser an der Quelle selbst ist viel stärker. O bitte, Ehrwürdiger, bitte gebt mir alle Abend einen Krug voll aus der Quelle selbst unter der Eibe!«

»Ah so die Eibe, der Wunderbaum!« Der Mönch runzelte die Stirne.

»Bedenkt doch, Ehrwürdiger, daß es der Meister Veit ist, der große Bildschnitzer. Wie schrecklich wäre es, wenn der sein Augenlicht verlöre und könnte gar kein Bild mehr schnitzen zur Auferbauung so vieler Leute – oder nur so traurige Fratzen, wie die, von der meine Base erzählt hat.«

330 »So, er schnitzt Fratzen?« erkundigte sich der Mönch.

»Nein, nur eine hat er gestern in seiner Verzweiflung und Finsternis aus Wachs geformt, und die Base hat sie auch gleich zerdrückt,« rief Christel erschrocken. »Er hat gewiß nichts Böses tun wollen, aber bedenkt nur, ihm liegt ja die Binde auf den Augen, und da hat sich eben das Wachs unversehens von selbst geformt in seinen Händen.«

»So, so, von selbst –?« sagte der Mönch.

»Und Ihr werdet mir gewiß helfen, Ehrwürdiger. Das Wasser vom Quell ist doch ohne Zweifel stärker, und je weiter es fließt, desto mehr verliert es an Kraft. Ich bitt' Euch!«

»O Kind!« sagte der alte Mann und sah freundlich auf ihr Antlitz, das vom Eifer glühte. »Gib mir den Krug!«

Er öffnete ein zweites Schiebfenster, und sie reichte ihr Krüglein hinein. Und während seine Schritte in der Ferne verklangen, setzte sie sich auf die Steinbank neben der Pforte und faltete die Hände im Schoß.

Die weiße Gestalt des Mönches glitt langsam in die Stille des Hofes. In dem offenen Kreuzgang, der auf allen vier Seiten den Hof einschloß, wandelte lesend ein anderer Mönch; seine weiße Gestalt verschwand zwischen den kurzen Säulen, leuchtete wieder auf und verschwand wieder. Regungslos stand der schwarzgrüne Baum inmitten des Rasenplatzes und streckte seine geheimnisvollen Wedel zum wolkenlosen Abendhimmel empor.

Nachdenklich ging der alte Mann über den kurzgeschorenen Rasen und stieg die zwölf Stufen zur Quelle hinab, die aus den Wurzeln des Baumes zu entspringen schien. Nachdenklich blickte er in das Marmorbecken, in das sich Sommers und Winters in gleicher Schwäche aus bleierner Röhre das klare Quellchen ergoß.

Und während sich der Krug langsam füllte, las er wieder einmal die lateinische Inschrift auf der Marmortafel über 331 dem Brünnlein. Es waren die Worte, die der Herr einst am Jakobsbrunnen zum samaritischen Weibe gesprochen hatte: ›Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, der wird ewiglich nicht dürsten, und es wird ihm ein Brunnen des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.« –

Als er den Krug durch die Türe schob, sprach er zu der wartenden Christel: »Grüße den Meister, und Gott gesegne es ihm. Und sage ihm weiter: Wenn dich dein Auge arg macht, so reiß es aus und wirf es weg. Es ist dir besser, daß du mit einem Auge ins Himmelreich kommst, als sehend ins Feuer der Hölle.«

Erschrocken sah sie ihn an. Dann brachte sie zögernd heraus: »Wie kann ich das dem Holzschnitzer bestellen? Er ist doch so fromm!«

»Ist er das?« fragte der Mönch. »Aber wie du willst, sag's oder sag's nicht.«

»Darf ich wiederkommen?« bettelte sie.

»Meinetwegen, immer um dieselbe Zeit, solang er's bedarf.«

*

Es war schon spät am Abende desselben Tages.

Im öden Tanzsaale des Dorfwirtshauses hatten halbwüchsige Schüler der äußeren Klosterschule einen heimlichen Konvent. Das war keine Seltenheit in der zuchtlosen Zeit. Aber diesmal handelte es sich um kein nächtliches Tanzvergnügen mit leichtfertigen Mägden, kein wildes Gelage, bei dem man die Gepflogenheiten erwachsener Brüder und Vettern nachäffte.

Auf einem der Tische stand trübe flackernd ein Talglicht, und zwei Haufen hielten, scharf gesondert, einander gegenüber, und drohende Augen blickten in drohende Augen.

Der blondgelockte Schüler hatte seine Rede geendet, warf den Kopf zurück und trat mit gekreuzten Armen zur Seite. Er war hochbefriedigt von seiner rhetorischen Leistung.

332 Da begann Junker Wolf an der Spitze seines Anhanges: »Wie ich sehe, hast du dir alles vom Herzen heruntergeredet und bist nun fertig.« Er lachte spöttisch. »Kein vernünftiger Mensch wird von mir erwarten, daß ich deine, vom Öl der Studierlampe triefenden Worte mit der gleichen Münze bezahle. Ich bin ein armer Schlucker und besitze diese Münze nicht, auch wenn man mir alle Taschen auskehren wollte. Gegen dich kann ich nicht an. Du würdest mich doch immer wieder mit deinem gesegneten Maulwerk zu Tod schlagen.«

Der Blondgelockte fuhr zornig auf; doch einer seiner Anhänger hielt ihn am Arme fest.

»Mit deinem Maulwerk,« sagte der andere spöttisch – »nicht mit deinen Fäusten; denen bin ich gewachsen.«

»Das möchte ich sehen!« rief der Blonde und zerrte an seinem Arm. Aber nun hielten ihn zwei, drei seines Anhanges, und Junker Wolf konnte fortfahren:

»Jawohl, das möchte dir passen. Zeitlebens könntest du prahlen: Denkt ihr noch an den Wolf und den Hofrichter? Wer ist's gewesen, der die grausame Irrung geschlichtet hat? Ich bin's gewesen! Einzig durch die Gewalt meiner Rede hab' ich den Junker so weich gekriegt wie den Teig im Backtrog. Wer kann mir auch widerstehen? – Du sagst, der Hofrichter will sich vergleichen. Ja, wer oder was ist denn dieser Hofrichter, daß er sich vergleichen könnte mit mir?«

»Er ist ein freier Mann wie du und ich!« brauste der Blonde auf.

»Wie du – mag sein«, sagte Wolf verächtlich.

»Jetzt ist es genug!« schrie der Blonde ganz außer Fassung. Aber die Seinen hielten ihn fest.

»Sogleich wird's genug sein. Höre: Ich habe mich kürzlich mit meinem Schwager beredet, der in Ehrenhändeln wahrhaftig Bescheid weiß. Und ich habe ihm geklagt, daß mich der Hofrichter an meiner adeligen Ehre gekränkt hat. 333 Da hättet ihr meinen Schwager sehen und hören sollen! Ins Gesicht hat er mir gelacht. Und jetzt weiß ich's: Es ist wahr, der Hofrichter hat mich mißhandelt; aber das hat nicht mehr und nicht weniger zu bedeuten, als wenn mich ein Hund angefallen hätte. Ich war in seiner Gewalt.«

»Und er war im Recht!« rief der Blonde.

»Gewalt geht immer vor Recht«, erwiderte der Junker spöttisch. »Ich war in seiner Gewalt, aber das hat meine adelige Ehre nicht im geringsten gemindert; denn das zu tun hat er nicht Macht. Wißt ihr, was mir der Knecht ist?« Er sah sich trotzig im Kreise um. »Luft ist er mir, Luft, wie sage ich gleich? Luft, durch die meine Armbrust den Bolzen ans Ziel schnellt. Das ist's, was ich zu äußern hatte, – vergebt, wenn ich's nicht so schön setzen konnte wie der dort.«

Der Blonde wollte nun losbrechen. Aber ein starker Schüler seines Anhanges trat vor ihn und rief statt seiner: »Auf ein Wort! Unser Freund hier hat seine löbliche Absicht nicht erreicht. Aber das kann ihm keiner zum Vorwurf machen. Ein ander Ding ist, daß du, Wolf, ihn ohne Ursach mit gröblichen Worten angerannt hast. Ich frage nun, soll aus dem einen Unrat noch ein anderer Unrat entstehen, Unrat zwischen uns hier und euch dort?«

In beiden Anhängen erhob sich beifälliges Gemurmel.

»Deshalb«, fuhr der Sprecher fort, »dünkt es mir billig und recht zu sein, wenn Wolf aus freien Stücken das Seinige tut.«

»Ich bin kein Untier«, sagte der Junker in verändertem, höfischem Tone. »Ein Wort hat das andere gegeben, und ich habe in der Hitze zu weit gegriffen. Ich will nicht als der dastehen, der stänkert. Du hast's gut gemeint, Mann mit dem Honigseim auf den Lippen, vergib mir!«

Er trat mit tiefernstem Gesicht vor den Blonden und hielt ihm die Hand hin.

Zögernd und widerwillig ergriff sie der Schüler. –

334 Dann gingen sie auseinander. Zuerst der eine Haufe, dann der andere, wie sie gekommen waren.

»Seltsam!« sagte drunten auf dem Marktplatz einer der Freunde. »Zuerst dieser Trotz, dann plötzlich die Demut.«

»Ein heimtückischer Geselle«, murmelte der blonde Schüler und ging dann schweigend zwischen den andern. Ihn würgte der verwundete Ehrgeiz.

*

Es war acht Tage später. Der Frühling hatte alle seine Pracht über die Erde ausgeschüttet, und auch der Garten hinter dem Hause des Hofrichters schimmerte in unsäglicher Blütenfülle. In dem dicken Mauerturme aber, der Prälat genannt, lag noch immer die große Armbrust auf ihrem Gestelle, deutlich durch die Lucke zu sehen.

Auch der alte Apfelbaum nahe der Scheunenwand hatte so viele Blüten getrieben, daß sich seine Zweige bogen unter ihrer Last, als hingen schon jetzt die Früchte des Herbstes daran.

Der Bildschnitzer saß auf der Bank und hatte sich an den Stamm zurückgelehnt. Er saß mit gekreuzten Armen, und zwischen ihm und all den Wundern des Frühlings lag die schwarze Binde. Aber er hörte. Hörte mit allen Nerven. Nicht das Summen der zahllosen Bienen da droben in der weißschimmernden Baumpracht, nicht das jauchzende Schmettern des Finkenhähnchens da drüben, dessen Melodien wie kristallklare Tropfen herabfielen, nicht die tiefklingende, sehnsüchtige Liederstrophe aus der Amselkehle draußen im Schulgarten. Oder doch vielleicht all das auch – aber nicht anders als eine unsäglich süße Begleitung zu der glockenklaren Stimme des Mädchens, das ihm gegenüber am Steintische saß und ganz erfüllt vom Eifer ihres Amtes aus dem großen Legendenbuch diese Geschichte vorlas:

»Es begab sich aber, daß der heilige Bernhard einem Bauern die Beichte abhörte. Der Bauer sagte ihm ein langes 335 Register leichter Sünden auf, und als ihm der Atem ausging, hielt er inne und wartete auf die Absolution. Aber der Heilige schwieg und schwieg und schwieg. Da schlug der Knieende seine Augen auf und sah auf das Gitter. Und sogleich senkte er seine Blicke wieder zur Erde. Denn die Augen des Priesters sahen ihn so traurig und so durchdringend an, daß es ihm unheimlich wurde in ihrem Glanz. Endlich öffneten sich die Lippen des Heiligen und er fragte ihn mit eindringlicher Stimme: ›Ist das alles, mein Sohn?‹ Betroffen schwieg der Bauer und suchte in den Falten seines Gedächtnisses. Aber nach einer Weile sagte er demütig: ›Ich bin mir weiter keiner Sünde bewußt.‹ – ›Dann will ich dir helfen, mein Sohn,‹ antwortete der Heilige. ›Wenn du betest, plappern deine Lippen, aber deine Gedanken fliegen wie die losen Vögel über Berg und Tal.‹ – Trotzig erwiderte der Bauer, daß er sich dessen nicht im geringsten bewußt sei. Wenn er bete, denke er immer nur an Gott und die Heiligen; nichts, aber auch gar nichts könne ihn stören in seiner Andacht. – Die Augen des Heiligen blickten tiefbekümmert durch das enge Gitter und leise sagte er: ›Komm du mit mir!‹ – Der Bauer erhob sich von seinen Knieen und trat mit dem Heiligen vor die Kirche. Und siehe, da stand ein wunderschönes Pferd, milchweiß, ungesattelt und ungezäumt. Das wandte den klugen Kopf herzu, spitzte die Ohren und wieherte leise auf. ›Ein schönes Roß. Habe meintag kein schöneres gesehen‹, dachte der Bauer. Der Heilige aber sagte, als wäre das etwas Geringes: ›Das Pferd ist dein, wenn du es vermagst, das Vaterunser aufmerksam, ohne die mindeste Abschweifung deiner Gedanken zu beten.‹ Da freute sich der Bauer in seinem Herzen und rief: ›Soll's auf der Stelle geschehen, ehrwürdiger Vater?‹ – ›Wie du willst‹, antwortete der Heilige. Da gedachte der Bauer keinen Augenblick zu verlieren, kniete auf offenem Platze nieder und begann mit 336 lauter Stimme das Vaterunser zu beten. Aber siehe, während seines Gebetes ward das schöne Pferd kleiner und kleiner, stand zuletzt als vierteljähriges Füllen da, wieherte noch einmal ganz leise, und als der Bauer sein Gebet vollendet hatte, war es spurlos im Erdboden versunken. Der Mann erhob sich von seinen Knieen und guckte mit entsetzten Augen. Der Heilige aber sagte bekümmert: ›Nun, mein Sohn?‹ – ›O Herr,‹ bekannte der Bauer mit Heulen, ›es war auch zu schwer. Ich hatte guten Willen. Aber mitten in meinem Gebete mußte ich denken, ob mir Euere Mildtätigkeit wohl zu dem schönen Pferde auch Sattel und Zaumzeug zu schenken gedächte. Und davon bin ich nicht mehr losgekommen bis zum Schlusse.‹ – ›Siehst du wohl, mein Sohn?‹ sagte der Heilige und winkte ihn zurück in den Beichtstuhl.« –

Als Jungfer Christel geendet hatte, lachte der Bildschnitzer hellauf: »Der Tapp von einem Bauern! Ich sehe sein Gesicht vor mir, wie das Rößlein im Erdboden verschwindet. Das muß ich schnitzen! Die Kirchentüre, den Heiligen mit hocherhobenem Finger, den knieenden Bauern und das Pferd, das schon halb versunken ist. Oh, zu solchem sind die Legendenbücher gut – unbezahlbar gut!«

Christel hatte das ernste Antlitz vom Buche erhoben und blickte verwundert auf den Meister, dessen Mund sich so spöttisch bewegte, daß die Zähne blitzten und die Nasenflügel zitterten unter der schwarzen Binde. Und vorwurfsvoll sagte sie: »Wie könnt Ihr lachen über eine so traurige Legende?«

»Traurig?« rief er und vermochte sich noch immer nicht zu fassen. »Ein Schwank ist's, und einer von den besten, die ich jemals gehört habe.«

Sie preßte die Lippen zusammen, schüttelte den Kopf und schwieg.

»So sind die Gedanken,« sagte er nach einer Weile etwas ernsthafter; »gerade so sind sie; fliegen an, fliegen fort und 337 lassen sich gar nichts befehlen. Ich will nur hoffen, daß der Heilige dem armen Tropfen keine allzu harte Buße auferlegt hat. Er war ja ohnedies schon hart genug bestraft!«

Sie erwiderte nichts.

»Meine Gedanken kommen und gehen heute auch, und wie so gerne ließe ich sie fliegen! Aber ihre Flügel sind gebrochen, und so flattern sie hin und zurück. – – – Höre, liebe Christel, du hast mir nun schon seit acht Tagen immer wieder aus dem schönen Buche vorgelesen und zwischenhinein dieses und jenes stückweise erzählt – es ist mir, als hätte ich dein ganzes junges Leben mit dir erlebt, so fein hast du alles gesagt von der seligen Mutter, von dem lieben Vater, von den frommen Klosterfrauen, die dich so klug gemacht haben, und mir will dünken, als wäre ich nun schon seit Jahr und Tag in eurem Hause. Da ist es billig, daß ich dir auch einmal etwas erzähle. Höre mir zu:

»Ich habe einen Freund, der ist mir vertraut von Kind auf, und ich liebe ihn sehr. Was aber nicht hindert, daß ich ihn zuzeiten hassen muß, ja, leider auch schon oft verachtet habe. Doch wir gehören zusammen, daran ist nun einmal gar nichts zu ändern, und so finden wir uns auch immer wieder miteinander zurecht. Dieser Freund sollte unlängst in Geschäften unserer Stadt an den Hof des Kaisers geschickt werden. Es war eine wichtige Angelegenheit und zugleich eine ungewöhnlich schwierige, verwickelte Rechtssache, die eines Mannes ganze Geschicklichkeit erforderte. Er hatte sich lange gesträubt, die Aufgabe zu übernehmen; aber es war sein Amt, sie auszuführen, und es half ihm nichts, daß er den Oberen der Stadt sein Unvermögen zu beweisen suchte. Da begab es sich am Abend vor seiner Abreise, daß ein Mägdlein armen, aber ehrbaren Standes, an dem er sich schwer vergangen hatte, zu ihm kam und mit unsäglich traurigen Gebärden ihm sein Unrecht vors Gewissen rückte. 338 Er hatte ihr nämlich die Ehe versprochen; aber sie wußte gar wohl, daß er ihrer überdrüssig war und sie zu verlassen gedenke. Ich weiß nicht, warum sein Herz, das er schon ganz verhärtet hatte, an jenem Abend plötzlich weich wurde – wer kennt die Ursachen, aus denen die Heiligen den Menschen helfen? Vielleicht« – der Bildschnitzer lachte leise – »war sie vorher an einem der Altäre gekniet, deren es so manche von meiner Hand in den Kirchen der Stadt gibt. Kurz, mein Freund schlug in sich, versprach ihr aufs neue mit allem Ernste die Ehe und setzte die Hochzeit auf die erste Woche nach seiner Rückkehr fest. Unter Freudentränen umschlang sie den Liebhaber, der ihr so unsäglichen Kummer bereitet hatte. Und diesem ward es dabei so warm ums Herz, daß er sich im geheimen einen Bösewicht und – angesichts ihrer mächtigen Liebe – einen Toren zu schelten geneigt war. Sie trennten sich unter Versicherungen ewiger Treue. Und seltsam: auf einmal erschien ihm nun, als er allein vor seinem Schreibpulte stand, das ganze Geschäft viel einfacher als zuvor, er griff nach dem dicken Aktenbündel, den er schon in sein Felleisen verpackt hatte, und vertiefte sich in den Rechtsfall. Je länger, desto klarer wurde ihm alles, die besten Gedanken strömten auf ihn ein, und sehr zufrieden mit sich und der ganzen Welt ging er endlich zur Ruhe.«

»Das war der Lohn für seine gute Tat!« rief sie tief aufatmend und faltete die Hände in ihrem Schoße.

»Ich sagte dir ja, sie hatte vermutlich zuvor an einem der Altäre gebetet, deren es manche von meiner Hand in den Kirchen unserer Stadt gibt,« warf er spöttisch hin.

Aufmerksam beobachtete sie seinen Mund. Dann äußerte sie ängstlich: »Ihr sagt das so seltsam.«

»Höre weiter! Mein Freund ritt nun mit einem Zuge von Kaufleuten seine Straße zum Hoflager, und nach etlichen Tagereisen begab es sich, daß sie von Gewappneten angefallen 339 und trotz heftiger Gegenwehr übermannt wurden. Er blieb ohne Bewußtsein liegen: Als er aufwachte, fand er sich in einer kleinen Kammer, eine freundliche alte Frau saß spinnend an seinem Bette und erzählte ihm, daß er lange Tage so gelegen sei und im Schlosse ihres Brotherrn, des Pflegers, liegen dürfe bis zu seiner Genesung. Er konnte das alles noch nicht so recht fassen und schlief bald wieder ein. Aber schon damals war ihm gewesen, als hörte er nebenan eine Frauenstimme, so klar und weich, so tief und süß – hörst du die Amsel drüben im Garten?«

»Ich höre sie wohl«, versetzte Christel, und ihre Augen waren fast andächtig auf seine Lippen gerichtet.

»Torheit!« fuhr er fort, »wie kann man eine solche Menschenstimme mit dem Lied eines Vogels vergleichen! Aber es sind Töne in dem Vogelgesange, die sich im Gleichklange befinden mit jener wundersam lieblichen Stimme!«

»Wie könnt Ihr das so genau wissen?« fragte sie zweifelnd.

»Er hat mir's zu oft erzählt. Jetzt höre ich selber die Stimme bei Tag und bei Nacht. – Daß ich mich kurz fasse: Er blieb in der Wartung der alten Beschließerin und genas so rasch, daß er nach zwei Wochen schon an die Weiterreise denken konnte. Aber je besser seine Wunden heilten, desto kränker wurde sein Herz. Denn Tag für Tag, bald zu dieser, bald zu jener Stunde hörte er in der Stube nebenan den leichten Schritt und die wunderbare Stimme. Er wußte längst, daß der Schritt und die Stimme der einzigen Tochter des Pflegers gehörten, aber niemals betrat sie die Kammer. Kannst du dir denken, Christel, daß man sich in eine Stimme verlieben kann, einzig und allein in eine Stimme – und so verlieben kann, daß man von ihrem Klange im Wachen und Schlafen verfolgt wird?«

»Ich verstehe doch von dem allen gar nichts!« wehrte sie ab.

»Am Tage vor seiner Abreise besuchte er den Pfleger, der 340 ein Witwer war, um ihm zu danken für Gastfreundschaft und Wartung. Und da erblickte er zum ersten Male das Antlitz der Tochter. Er ritt von dannen und ritt seine Straße wie ein Träumender. Denn er wußte von Stund an, er könnte niemals glücklich werden, wenn er sie nicht fürs Leben gewänne.«

»Abscheulich!« sagte sie und atmete tief auf.

Der Meister aber fuhr fort: »Und seltsam, als er sich wieder auf seine Geschäfte besann, da erschienen sie ihm so über die Maßen verwickelt, so unausführbar, daß er allen Mut verlor, sein Pferd wandte und heimritt.«

»Das war die Strafe für seine Untreue«, rief sie schaudernd. »Und« – sie zögerte ein wenig – »seine Braut –?«

»Die weiß bis zur Stunde noch nichts«, sagte er und lachte ein wenig.

Und wieder beobachtete sie seinen Mund. Dann flüsterte sie angstvoll: »Ihr sagt das so seltsam. Und – und Ihr denkt doch auch wie ich von solcher Untreue?«

»Ein Tropf ist er, mein Freund,« sagte der Bildschnitzer leichthin. »Aber was hilft da? So ist er!«

Da stand plötzlich die Gestalt des Mönches vor ihrer Seele, wie er ihr den Krug voll des klaren Wassers reichte, und langsam sprach ihre tiefe Stimme, daß es mahnend wie leiser Glockenklang tönte: »Hat ihm denn nie jemand gesagt –?« Sie hielt inne und besann sich; dann sprach sie unschuldvoll, wie ein Kind in der Schule seinen Spruch aufsagt, die Worte des Alten nach: »Wenn dich dein Auge arg macht, so reiß es aus und wirf es weg. Es ist dir besser, daß du mit einem Auge ins Himmelreich kommst, als sehend ins Feuer der Hölle.«

Da verzerrte sich sein Mund, und zischend brachte er heraus: »Dann hätte er zuvor seine Ohren durchstechen müssen; denn als seine Augen ihr Antlitz sahen, war es zu spät. Aber wir 341 wollen jetzt nicht mehr weiterlesen. Ich habe für heute die alten Legenden ganz satt.«

Sie blickte nach der Sonnenuhr, die fernher von der Wand des Münsters mit schwarzen, frischgestrichenen Ziffern glänzte. Und sie sprang auf und nahm das Buch unter den Arm: »Es ist die höchste Zeit, ich muß Euern Krug füllen.«

*

Am Abende dieses Tages sagte die Base zur Nichte: »Heut in aller Herrgottsfrüh bin ich im Garten gewesen und habe das Fenster in deiner Kammer offen gesehen.«

»Ich lasse es jetzt alle Nacht offen«, bekannte Christel leichthin. »Ich denke, mich wird so leicht keiner stehlen; denn es ist hoch hinauf bis unter den Giebel. Und hereingucken kann auch niemand.«

»Ich will aber, daß du das Fenster schließt,« sagte die Base zornig.

»Ei Base, seid doch nicht so wunderlich. Es kann mir doch wahrhaftig nichts Böses geschehen!«

»Will das Küchlein wieder einmal klüger sein als die Henne?« sagte die gute alte Frau schon wieder besänftigt. »Kind, ich warne dich, denn das ist meine heilige Pflicht.«

»Aber Base, was ist denn zu fürchten?«

Die Base räusperte sich, als wäre das, was sie zu sagen hatte, zu arg. Dann kam's heraus: »Die Luft ist zur Nachtzeit so voll von Geistern wie ein gutes Fischwasser voll von Fischen. Wer die richtigen Augen hat, der kann sie sehen und muß sich nur so verwundern: das schießt und schwirrt und flattert durcheinander, und wenn's keine Geister wären, dann müßten sie sich stoßen, daß die Fetzen flögen. So, und jetzt weißt du's und bist folgsam und machst dein Fenster zu!«

»Base, habt Ihr die richtigen Augen?« fragte sie und streichelte ihre Wange.

»Ich doch nicht! Da soll mich die heilige Jungfrau bewahren!«

342 »Nun also, ich werde mein Fenster schließen. Hoffentlich vergesse ich's nicht.«


Gewissenhaft schloß sie an diesem Abend das Fenster und legte sich zur Ruhe.

Da hatte sie nach Mitternacht die Empfindung, als müßte sie ersticken in der eingeschlossenen Luft. Und halb im Traume erhob sie sich, öffnete uneingedenk der Warnung den Laden und legte sich wieder schlafen.

Plötzlich war ihr, als erwache sie. Mit großen Augen starrte sie auf das offene Fenster. Kein Zweifel: da auf dem Simse hockte regungslos der Bildschnitzer, und seine schwarze Gestalt war scharf hineingezeichnet in das Mondlicht der Nacht. Der Atem stockte ihr, sie wollte schreien, aber sie brachte keinen Laut hervor, sie wollte aufspringen, aber die Glieder gehorchten ihr nicht. Und langsam löste sich die Gestalt vom Simse, glitt lautlos heran, das Gesicht beugte sich über ihr Bett, die schwarze Binde war dicht über ihren Augen, zwei Hände legten einen schweren Stein auf ihre Brust, und ein höhnisches Lachen tönte durch die Kammer: »Das ist meine Seele!«

Dann glitt es lautlos zum Fenster hinaus.

Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, und endlich kamen gurgelnde Töne aus ihrer Kehle. Sie erwachte vollends und griff mit beiden Händen nach ihrer Brust. Die Last war verschwunden. Sie sprang auf und lief ans Fenster. In der Stille der Mondnacht dehnte sich der Garten zu ihren Füßen. Sie durchsuchte das Kämmerlein – alles war in Ordnung. Sie sah nach dem Türriegel – er war vorgeschoben! –

Aufatmend legte sie sich wieder zu Bette. Aber gegen Morgen erst fand sie unruhigen Schlaf; denn wie eine schwere Last fühlte sie es noch immer auf ihrer Brust liegen.

›Das ist meine Seele!› Was war das gewesen?

*

343 Als die Base am nächsten Morgen kam, die Stube des Meisters aufzuräumen, saß dieser in der Ecke auf seiner Truhe und erwiderte mürrisch ihren freundlichen Gruß. Dann schwieg er beharrlich. Ganz zuletzt begann er vorsichtig, gleichsam tastend: »Ein gutes Kind, Euere Christel.«

»Das muß wahr sein, Meister. Augenweide und Herzenstrost für jeden«, sagte sie eifrig.

»Sie tut mir viel Gutes in meiner Finsternis. Was finge ich an, wenn sie mir nicht mit Vorlesen und freundlichen Reden die Zeit vertriebe. Eine Augenweide sagt Ihr? Oft denke ich mir, wie sie denn wohl aussehen mag!«

»Frisch und gesund«, antwortete nun die Base auf einmal sehr zurückhaltend.

»Frisch und gesund! Dabei kann ich mir gar nichts denken. So sieht eine Stallmagd auch aus«, sagte er ungeduldig. »Ich habe ja das Kindergesicht noch ein wenig im Gedächtnis. Habe damals vor fünf Jahren freilich nur wenig auf sie geachtet. Aber jetzt! Ja, wenn ich mir's so zurecht lege, sie muß inzwischen wunderschön geworden sein. Ihr begreift doch, daß sich ein armer, zurzeit mit Nacht und Finsternis geschlagener Mann in Gedanken immer wieder abmüht, ein Bild von seiner Guttäterin zu gewinnen?«

Die Base hatte ihr Werk vollendet. Sie blieb einen Augenblick vor dem Meister stehen, sah ihn mißtrauisch an und sagte kurz: »Was kümmert's Euch im Grunde? Ihr habt schon so viele Weibsbilder gesehen in Euerm Leben, daß es auf diese eine wahrhaftig nicht ankommen kann. Seid ja auch wohl schon fürs Leben an eine solche gebunden.«

»Wer sagt das?« fuhr er aus.

»Wer? Ich denke mir's nur.« Damit ging sie hinaus.


344 In der Wohnstube fragte sie so nebenher: »Christel, was redet denn der Meister, wenn der Nachmittag lang ist und du ihm nicht vorliest?«

»Er hat mir viel von seinen Reisen in Welschland und Polen erzählt«, sagte diese unbefangen. »Gestern aber eine schreckliche Geschichte von einem Freunde, der seiner Verlobten untreu werden will. Und denkt nur, was mir heute nacht im Traume mit ihm begegnet ist!« Sie beichtete haarklein den Ungehorsam und den Traum, der sie so geängstet hatte.

Da guckte die alte Frau nachdenklich ihre Nase entlang und sagte: »Seine Seele hat er auf dich gelegt?«

»Aber es war doch nur ein Traum!«

»Einerlei. Seine Seele. Christel, nimm dich in acht vor ihm!«

»Aber Base, ein Bildschnitzer, der Heilige schnitzt!«

»Gerade deswegen«, sagte diese ganz störrisch. »Bildschnitzer, Maler, Pfeifer und Geiger – alles ein Volk.«

»Aber ein Herrgottschnitzer – ein solch frommer Mann!«

Die Base lachte spöttisch. Dann strich sie ihr liebkosend über die Wange. »Um dich hab' ich keine Sorge, liebes Kind. Aber trotzdem. Jetzt weißt du, was ich denke. Nimm dich in acht!«

*

Am Nachmittage saßen die beiden, Christel und der Meister, wieder unter dem blühenden Apfelbaume, und die Sonne schien wie gestern, nur daß der Himmel mit leichtem Dunst überzogen war.

»Es ist so schwül heute, und es liegt mir so schwer auf der Brust,« sagte Christel, als sie einen langen Abschnitt aus dem Legendenbuch beendet hatte. »Der Vater hat auch verreiten müssen, und Ihr wißt ja –.«

»Was sollte ihm geschehen?« tröstete er sie über den Tisch herüber. »Er hat zwei Knechte bei sich, und gegen den Abend will er zurück sein. Mach dir doch keine Sorgen!«

»Ich habe mich früher niemals um den Vater gesorgt, er 345 ist doch so stark. Aber jetzt! Ihr wißt ja, daß er einen Todfeind hat. Und seitdem komme ich nimmer zur Ruhe, wenn ich ihn über Land weiß. Freilich, er ist in Gottes und aller Heiligen Schutz. Wenn's nur nicht so schwül wäre!«

Regungslos standen die Bäume, und lautlos fielen weiße Blüten auf Buch und Tisch und auf die Scheitel der beiden.

»Euer Freund geht mir auch nicht aus dem Sinn«, begann sie nach einer Weile des Schweigens. »Höret, Ihr müßt alles daran setzen, daß er nicht schlecht handelt an seiner Verlobten. Denn seht, dann hat er nicht Glück, nicht Ruhe auf Erden, solange er lebt, und was ihn nach diesem Leben erwartet – es ist gar nicht auszudenken.«

»Huh!« sagte er und schüttelte sich. »Du kannst es ja wie ein Predigermönch!«

»Aber Ihr wollt ihm doch zureden?« fragte sie ängstlich.

»Ich bezweifle, liebes Kind, daß ich da viel über ihn vermöchte. Und ich denke, er wird sich zu trösten wissen bei der andern.«

»Das wird ihm niemals gelingen!« rief sie eifrig; »denn immer wird die erste zwischen den beiden stehen, und sein Gewissen wird ihn peinigen wie das höllische Feuer. Er kann in Ehren einhergehen vor aller Welt, aber inwendig ist er ein Grab voll Verwesung.«

»Woher du nur das alles so weißt mit deinen siebzehn Jahren?« sagte er zornig.

»Vergebt, ach ja, vergebt!« entschuldigte sie sich. »Es geziemt mir gar nicht, so zu Euch zu reden. Ihr wißt das doch alles viel besser als ich, wo Ihr so fromm seid. Oh, ich kenne Euch ganz durch und durch.«

»Du kennst mich?«

»Jawohl«, sagte sie eifrig und wurde über und über rot. »Aus Euern Werken. Oh, ich kenne alles, was Ihr für das Münster geschnitzt habt.«

346 »Frauen dürfen doch das Münster gar nicht betreten?« warf er ein.

»Für gewöhnlich nicht. Aber wenn ein großer Umbau gewesen ist, dann muß die Kirche neu geweiht werden. Und ehe das geschieht, steht sie neun Tage lang offen für alles Volk. So geschah's auch im Spätherbst vorigen Jahres. Und wahrlich, jene Zeit habe ich ausgekauft. Immer bin ich in der Kirche gewesen. Den ganzen Hochaltar mit all den vielen, vielen Figuren kenne ich auswendig, und wenn ich die Augen schließe, so sehe ich sie so deutlich, als stünde ich davor. Am liebsten aber ist mir –«

Er hatte entzückt zugehört. »Nun?« rief er.

»– Eure Pietà! Das ist Euer schönstes Frauengesicht. Und das Heilandsantlitz in ihrem Schoße sieht ihr so ähnlich, und ist doch wieder etwas in ihm – ach, wie vermöchte ich das, was ich fühle, richtig zu sagen? Sein Antlitz ist göttlicher als das der Maria.«

»Hast du das gefühlt?« sagte er hocherfreut.

»O du heilige Jungfrau,« rief sie, »– daß Ihr so etwas aus dem toten Holze zu schnitzen versteht! Was müßt Ihr doch für ein frommer Mensch sein!«

Er zerrte an seiner Binde, als wollte er sie herabreißen.

»Oh laßt die Binde vor den Augen!« rief sie angstvoll.

Seine Hand sank herab. Doch leidenschaftlich rief er: »Ich möchte dich sehen.«

»Mich?« sagte sie ängstlich.

»Fromm?« Er lachte laut auf.

Sie schüttelte ratlos den Kopf. »Ihr redet so seltsam. Ihr seid krank. Die Sorge um Euer Augenlicht macht Euch krank. Aber glaubt mir doch, Ihr werdet binnen kurzer Zeit sehend werden und auf all Euer Elend mit stiller Freude zurückschauen. Dann wird Euch Euere Kunst immer höher und höher führen, und Euere Werke werden Euch herzlich 347 beglücken. Eines aber möchte ich so gerne noch sehen von Euerer Hand –«

»Was meinst du?«

»Den gekreuzigten Herrn! Hier im Münster habe ich vergeblich nach einem solchen gesucht.«

Mit tiefem Ernst antwortete er: »An ihn habe ich mich noch niemals gewagt.«

Zwei große, erstaunte Augen blickten zu ihm hinüber. Er aber fuhr fort: »Ich habe den Herrn in Stein und Holz gebildet und auch gemalt, wie er lehrend vor dem Volke sitzt; denn für das Bild eines guten Lehrers habe ich viele Vorbilder gefunden. Ich habe ihn gebildet, wie er einen Kranken heilt, – es ist nicht schwierig, das Antlitz eines hilfreichen Arztes zu finden. Ich konnte sein Haupt formen – du weißt es ja – wie es ruht auf seiner Mutter Schoße, denn es gibt Tote, auf deren Antlitz ein unfaßbarer Friede thront. Von den Kinderbildern des Heilandes, deren ich zahllose geschaffen habe, gar nicht zu reden; denn die Kinder der sündigen Menschen predigen uns immer wieder das Wort – ich glaube, es ist von St. Paulus geschrieben: wir sind Seines Geschlechtes. – – – Oder sollten es sein«, setzte er schwermütig bei.

»Wie gut Ihr die Schrift wißt!« sagte sie leise.

»Einem Bildschnitzer müssen die Evangelien und Episteln bekannt sein«, versetzte er nachlässig.

»Ich dächte aber doch,« sagte sie nach einer Weile und blickte schüchtern zu ihm hinüber, »man müsse schon öfter einen Kruzifixus von Euch verlangt haben?«

»Zahllose Kruzifixi aus meiner Werkstatt hängen in den Kirchen weit und breit«, sagte er und wischte mit der Hand durch die Luft. »Und« – er hob sich stolz in den Hüften – »ihre Leiber sind bis auf die feinste Ader mit allem Vorbedachte geschnitzt und bemalt, und kein Arzt wird an einem 348 ersterbenden Muskel etwas zu tadeln finden. Keiner der Lebenden kommt mir gleich oder nur nahe in solcher Kunst –«

»Nun also –?« rief sie.

»Nun also?« wiederholte er gedehnt. »Nun also, wenn du's wissen willst, die Köpfe sind samt und sonders von meinen Gesellen geschnitzt.« Er lachte höhnisch: »Und sind auch danach. Bald ist's ein glattes Heiligenantlitz, dem man nicht ansieht, daß die Lippen vor kurzer Zeit geseufzt haben: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

»Weil die ganze Last unsrer Sünden mit ihm am Kreuze hing«, flüsterte sie andächtig und bekreuzigte sich.

»Bald«, fuhr er fort, »ist's ein armer Schächer – gleich denen, die draußen auf die Räder geflochten sind, und niemand kann sehen, daß er soeben zum wirklichen Schächer gesagt hat: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.«

Er schwieg eine Weile und strich leise über seine Binde. Dann rief er heftig: »Die Kriegsknechte haben's gesehen und haben die Wahrheit geahnt. Die Pharisäer haben's gesehen und haben ihren Sinn verschlossen. Die Jünger hätten's wissen können, und ihre Augen waren gehalten. Oh, wer doch als ein Wissender unter dem Kreuze gestanden wäre! Jeden Zug des Sterbenden hätte ich mir unauslöschlich eingeprägt, ich wäre nicht gewichen bis zu seinem letzten Worte – nur damit ich hingehen und der Welt das Bild schaffen konnte – – das einzig wahre Bild ihres Erlösers!«

Entsetzt hielt sich Christel die Ohren zu, angstvoll stieß sie heraus: »Dazu ist doch der Herr nicht gestorben für Euch – Ihr lästert!«

»Da könntest du recht haben«, sagte er betroffen. »Aber lästern – nein, das hatte ich nicht gewollt.« Und mit wildem Auflachen tippte er an seine Brust: »Da drinnen sitzt es, da steigen die ungebändigten Gedanken empor und formen von selbst die ungebärdigen Worte, daß reine Menschen vor ihnen 349 erschrecken. – Vergib mir! – – Es bedürfte auch gar nicht des Anblickes eines sterbenden Gottmenschen. Welche sterbliche Hand könnte sich unterfangen, das Göttliche in Wahrheit nachzubilden? Auch ein sterbender Mensch könnte meiner Kunst den höchsten Dienst leisten und dem, was gebunden in den Tiefen meiner Seele ruht, zur Befreiung verhelfen. Aber wer zeigt mir einen solchen Menschen in einer Welt, in der sie alle angefressen sind vom Roste der Sünde? Ein solcher Mensch müßte unschuldig gelebt haben, soweit menschliches Wesen auf Erden unschuldig sein kann. Er müßte in reiner Liebe umfassen alles, was atmet, und sich grämen, weil er nicht inniger liebe. Und seine Liebe müßte sich steigern bis zum Höchsten: bis zur bewußten Selbstaufopferung für ein anderes Leben. Und in dem Augenblicke müßte ich vor ihm stehen und in mich aufnehmen seine sterbenden Züge.«

Er schwieg, und die weißen Blüten fielen lautlos auf seinen Scheitel und auf ihren Scheitel und auf das geöffnete Buch.

»Einmal freilich,« fuhr er leise fort, als spräche er zu sich selbst, »einmal ist mir gewesen, als trage auch ich zu tiefst in der Seele das Bild des Erlösers. Damals war's, als ich fürchtete, blind zu werden. Mir war, als stürbe ich dieser Welt langsam ab bei lebendigem Leibe. Ach, solches Absterben ist schmerzhaft. Da wacht so vieles auf, was längst vergessen war, und siehe, es hatte nur leise geschlafen. Die Gedanken kommen und rennen an – ach, was verstehst du davon, Christel! – Und siehe, je tiefer die Hoffnung auf das goldene Sonnenlicht, auf das Wiedersehen all dessen, was ich so heiß liebte, in mir herabsank –.« Er hielt inne und fuhr nach einer Weile flüsternd fort: »Je mehr ich mir und meinem Wesen feind wurde, und vollends, als ich eines Abends den heiligen Entschluß faßte, begangenes Unrecht nach Kräften wieder gut zu machen – da stieg vor meinen kranken Augen in wunderbarer Klarheit das Bild dessen 350 empor, der alle Bitterkeit des Lebens gekostet und dennoch frei vom Roste der Sünde unsere Krankheit ans Marterholz hinaufgeschleppt hat. Nur wer sich reinigen kann in ihm vom Roste der Sünde, vermag Göttliches zu schaffen mit irdischen Händen. Und ich hätt' es vermocht. Meine Finger lechzten nach dem Schnitzmesser, in wenigen Tagen wäre das Werk vollendet gewesen –.«

Der Himmel hatte sich ganz überzogen, und über den First des Hauses schob sich eine schwere Wolke herein. Aus weiter Ferne kam ein leises Grollen.

»Zuweilen sprecht Ihr, daß es einem warm ums Herz wird. Ich hab's noch nie so fromm in der Kirche gehört«, sagte sie und saß regungslos mit schlaffen Armen.

»Das ist eben der Jammer!« rief er mit kläglicher Stimme und schlug sich mit der Faust auf die Brust: »Siehe, das alles wohnt hier in dem engen Schrein und steigt und sinkt wie die Schalen einer Wage, lockt und ängstigt mich, zieht mich hoch empor und wirft mich tief hinab. Ich bin das eine und bin das andere und bin, ach, beides nur halb. Heiligenbilder und Teufelsfratzen schlafen in mir –.«

»Aber jetzt – jetzt tragt Ihr doch das Bild des Gekreuzigten in Euch?« rief sie eindringlich. »Und Ihr werdet es schaffen!«

»Sein Bild? – Ich hab's nicht zu halten vermocht. Sein Antlitz ist schwächer und schwächer geworden von Stunde zu Stunde, seine Züge verschwimmen, das Göttliche wird mir alltäglich« – ein fahler Blitzschein flammte über den Garten, ein Donnerschlag dröhnte und grollte und rollte endlos über den Himmel – »alltäglich ist mir's geworden und ist mir nun völlig entschwunden.«

Sie lauschte ängstlich und hielt fast den Atem an.

»Mir ist, als griffe das Leben wieder nach mir, ich weiß, daß ich sehend sein werde, in unbändiger Lust pocht mein Herz gegen meine Rippen, ich bin wieder der Alte wie vordem.«

351 »Seit wann?« rief sie entsetzt mit hellsehenden Augen und Sinnen.

»Seit ich tagtäglich deine Stimme höre wie Glockenton!« brach es heraus. Er riß die Binde ab und schlug entzückt die Hände zusammen: »So bist du geworden, du Kind von damals?«

Mit Grauen blickte sie auf sein schönes Gesicht, aus dem die großen, dunkeln, nur noch leicht entzündeten Augen sie anflammten. Und es rang sich schwer aus ihrer Brust: »So seid Ihr selber der Freund, der sich liebt und sich haßt –? O Herr Jesus Christus erbarme –!«

Sie vollendete die Rede nicht mehr. Von dem alten Turme drüben, den man den Prälaten nannte, war ein Geräusch an ihre Ohren gedrungen. Sie blickte auf und sah in der großen Lucke neben der Armbrust ein wohlbekanntes, scharfgeschnittenes Gesicht –.

Sie saß einen Augenblick wie erstarrt.

Da tönte freudig die Stimme der Base aus dem Hausflur: »Christel, der Vater –!«

Und schon dröhnte der Hausflur von der Stimme des Riesen: »Grad noch zur rechten Zeit, das nennt man ein Glück!«

Mit einem Angstschrei war die Tochter aufgesprungen und jagte quer durch den Garten.

Der Hofrichter trat wuchtig und breit unter die Türe, und hinter ihm erschien das freundliche Gesicht der Base.

»Zurück, Vater, er will Euch erschießen!« gellte es durch den Garten.

»Wer denn?« rief er; »den möchte ich sehen!«

Jetzt hatte Christel die Steinstufen erreicht und keuchte: »Dort – dort!« Sie wandte sich gegen den Turm, wies auf die Lucke, breitete die Arme schützend aus und begann rückwärts die Stufen hinanzusteigen, das Antlitz starr gegen die Lucke gerichtet.

352 Da schwirrte es mit scharfem Pfeifen durch die Luft, und sie schlug mit ausgebreiteten Armen rückwärts auf die Steine.

Mit einem Blick hatte der Alte den Pfeil gesehen, der in der Brust seines Kindes stak. Und dumpf aufschreiend stürzte er neben ihr nieder, nahm ihr Haupt in die Hände und rief kläglich ein über das andere Mal ihren Namen.

Jetzt raffte sich die Base aus ihrer Erstarrung auf. »Einen Priester!« befahl sie, sank auf die unterste Stufe und bettete Haupt und Oberleib des Kindes in ihren Schoß.

Mit dröhnenden Schritten rannte der Hofrichter durch den Flur auf die Gasse.

Zaghaft kam nun auch der Bildschnitzer näher und bat leise: »Laßt mich doch helfen!« Und unverwandt starrte er auf das totenblasse Gesicht.

Die alte Frau schüttelte den Kopf und begann die Gebete zu murmeln.

Anfangs bäumte sich die Sterbende immer wieder auf und rang nach Luft. Bald aber lag sie mit geschlossenen Augen regungslos und röchelte schwer.

Unverwandt beobachtete der Bildschnitzer die Züge, die sich rasch veränderten. Eintönig murmelte die alte Frau ihre Gebete, und aus ihren Augen tropften die Tränen.

Das Röcheln ward schwächer und schwächer. Der Tod breitete seine Schatten über das Antlitz und grub tiefe Linien darein. Das Haupt sank auf die Brust, der Mund öffnete sich, der Unterkiefer fiel herab. Der Leib streckte sich. Noch ein paar Atemzüge, und es war alles vollbracht.

Die Blitze zuckten, der Himmel flammte, der Donner rollte, und einzelne Tropfen fielen prasselnd hernieder.

Zwischen den Häusern erklang das Glöcklein, das der Knabe dem Priester voranträgt.

Da trat der Bildschnitzer ganz nahe herzu, sank in die 353 Kniee, hob die Hände und sagte leise mit bebenden Lippen: »Ich gelobe dir, Christel, ich will's wieder gut machen.«

Der Meister Veit war sehend geworden.

*

In der Klosterkirche, die nun sehr alt ist, hängt seit fünfthalbhundert Jahren das lebensgroße Schnitzwerk eines sterbenden Heilands.

Es ist anders als die Bilder alle, die gemalten und geschnitzten und gemeißelten, zu denen weit und breit über die Erde hin die Menschen ihre Augen erheben, ganz anders.

Und die Menschen, die vor diesen Kruzifixus treten, sehen verschieden – wie einst die Juden, die Kriegsknechte und die Jünger unter dem Kreuz verschieden gesehen haben. Die einen sagen: Ein jeder Zug, eine jede Ader der gebrochenen Gestalt beweist es, dieser Mensch ist wahrhaftig gestorben. Andere ahnen etwas von der göttlichen Majestät, die dennoch triumphierend hinter diesen gebrochenen Zügen leuchtet – und staunen. Wieder andere endlich hören ganz deutlich das letzte Wort der röchelnden Stimme – Es ist vollbracht! Sie falten die Hände, sie sprechen leise nach, es ist vollbracht, beten an die ewige Liebe und schlagen an ihre Brust: Vergib uns unsere Schuld!

Und doch ist auch das nicht das richtige Bild; denn es ist ja nur nach dem sterbenden Antlitz eines in seinem Erlöser unschuldigen Menschenkindes geschnitzt. Keiner hat das wahre Bild zu schaffen vermocht, und keiner wird es schaffen können und dürfen bis ans Ende der Tage. Denn es steht geschrieben: Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.

* * *

›Liselore Titus – auch du bist sehend geworden!‹ murmelte der Archivar und strich über seine Augen. 354

 


 


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