August Sperl
Der Archivar
August Sperl

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13. Wendungen

Die letzte Woche vor Weihnachten war gekommen. Schneelicht durchflutete die Räume des Archivs.

Und wieder war es behaglich warm in der Amtsstube des Vorstandes, behaglich warm. Aber die Stimmung im Archive war keineswegs eine behagliche noch eine warme zu nennen.

War da vorgestern früh eine Regierungsentschließung eingelaufen, es wolle umgehend alles noch einmal vorgelegt werden, was an Akten und Urkunden über die Kirche in H. vor drei Jahren vorgelegt worden war. Und schon wartete auf dem Arbeitstische des Archivdieners ein Stapel Akten aus drei Jahrhunderten, wartete eine Holzkiste mit Urkunden, deren Siegel einzeln in Watte und Seidenpapier gehüllt waren. Alles zur Versendung vorbereitet. Vor seinem Schreibtisch aber saß der Archivar und trommelte erregt mit dem Bleistift auf der Platte. Dann sprang er auf, kam in den Benützersaal, prüfte den Stapel, den er schon so und so oft geprüft hatte, murrte Unverständliches vor sich hin, ging in das Zimmer des Sekretärs, fragte diesen zum dritten Male ob er denn gar keine Vermutung habe, und dieser antwortete zum dritten Male, er könne nichts vermuten, er habe noch nie etwas mit Archivalien von H. zu tun gehabt. Der Vorstand ging zurück in seine Stube, und nach einiger Zeit stampfte es draußen im Vorplatz, der Archivdiener klopfte den Schnee von seinen Stiefeln, kam herein und meldete: »Hab' gestern und heut alles ausg'sucht, ich find' und find' den Akt ›Baufallwendung an der Kirche zu H. 1582–1583‹ einmal nit.«

»Sie müssen ihn finden!«

»Ich such' seit zwei Tagen, ich kann ihn nit finden.«

245 »Sie müssen suchen, bis Sie schwarz werden!« rief der Archivar erregt. »Der Akt war vor drei Jahren der Regierung vorgelegt, er ist nach Ausweis des Ausleihbuches im März vor einem Jahr richtig zurückgekommen, ist eingelegt worden – der Akt ist da, er muß her!«

Der Archivdiener schwieg, der Vorstand trommelte mit dem Bleistift auf seinem Schreibtisch. »Es bleibt uns nichts anderes übrig, als alle Archivalien, die um jene Zeit benützt und wieder eingelegt worden sind, auszuheben. Denn es ist zu vermuten, daß dieser Akt versehentlich einem andern Akt beigebunden wurde. Also bringen Sie mir die Zettel über die im März vorigen Jahres wieder eingelegten Akten.«

Der Archivdiener verschwand und kam nach kurzer Zeit mit einem wohlverschnürten, ziemlich umfangreichen Päckchen Oktavzettel zurück. »Im März vor einem Jahr ist der Archivbenützer aus Regensburg dagewesen, der wo die vielen Schwandorfer Akten durchgesehen und das halbe Archiv umeinander gekehrt hat,« berichtete er.

»Aha! Ich erinnere mich. Um so mehr ist zu vermuten, daß damals ein zurückkommender Akt versehentlich –«

»So was passiert doch mir nit!« brummte der Amtsdiener.

»Na, na!« lachte der Archivar und blätterte in dem Zettelpaket. »Ich schätze, es sind damals im März über hundert Schwandorfer Akten eingelegt worden. Einem dieser Akten ist der gesuchte Akt beigebunden worden – das steht mir jetzt außer allem Zweifel. Ziehen Sie sich warm an, wir gehen in die Gewölbe und suchen, bis wir ihn gefunden haben.«

»Bei der Kälte wollen der Herr Archivar –?« wagte der Amtsdiener zu bemerken.

»Wir suchen, bis wir blau werden!« entschied der Vorstand. »Wenn Sie aber vielleicht mit einem Katarrh behaftet sind, dann bleiben Sie in der warmen Stube, und ich suche allein.«

246 Der Amtsdiener beeilte sich zu beteuern, daß er keineswegs mit Katarrh behaftet sei. Und so zogen die beiden Männer wohlvermummt über die Straße in die Gewölbe des Nachbargebäudes auf die Jagd. –

Es war keine kleine Arbeit, dieses Suchen in den verschiedensten, auf etwa sechs Säle verteilten Beständen. Wie die Eichhörnchen kletterten die beiden Beamten die hohen Leitern auf und ab und stemmten, wie Athleten ihre eisernen Kugeln, die schweren Aktenfaszikel. Immer steifer wurden die Finger, während sie die Stricke lösten, die im März vor einem Jahre eingelegten Akten hervorsuchten und die Faszikel wieder verschnürten.

Der Mittag kam. Glockentöne fluteten über die Stadt, und der Amtsdiener erlaubte sich ein respektvolles Räuspern – worauf die beiden Jäger ihren Pirschgang unterbrachen. Aber um zwei Uhr begann die Jagd aufs neue, und endlich, als die Dämmerung des Winternachmittags schon beinahe das Lesen verbot, rief der Archivar triumphierend: »Da ist er untergebunden! Sehen Sie? Stiftungen zur Lateinschule in Schwandorf 1607 – und hier: Baufallwendung an der Kirche zu H. 1582–1583.«

»Nur drei Produkt'« murrte der Diener.

»Jawohl, nur drei Produkt', die vielleicht die entscheidenden Aufschlüsse enthalten,« spottete der Archivar und blätterte in dem andern, umfangreichen Akte.

»Bin ich froh!« seufzte der Diener.

»Holla – was steckt denn da?« rief der alte Herr plötzlich und trat mit dem Akte ans Fenster. »›Copia Testamenti Joannis ab Moos, 1607. Item 20 Gulden zur Schuel in Schwandorf gestifftet – – – Item meine beeden Söhne Hans Adam und –.‹ I, da soll doch! Verschnüren Sie den Faszikel; den Akt nehme ich mit.«

*

247 Als der Major am nächsten Tage ins Archiv kam, ging ihm der Archivar bis auf den Vorplatz entgegen, öffnete die Türe zu seiner Stube und sagte mit einer tiefen Verbeugung: »Ich habe die Ehre, den Herrn Landsassen von und auf Moos zu begrüßen, und bitte um Fortdauer seiner wohlgeneigten Gesinnung.«

Der Major lachte: »Warum so feierlich, Herr Archivar?«

»von und auf Moos –!« wiederholte der Archivar. »Und weil es nur noch wenige oberpfälzische Uradelsgeschlechter gibt, fühle ich mich als Vorstand dieses Archives zu ganz besonderer Höflichkeit verpflichtet.«

Der Major stutzte: »Haben Sie vielleicht etwas gefunden?«

Da hob der Archivar ein vergilbtes Schriftstück von seinem Schreibtische: »Nehmen Sie Platz, Herr Major – für alle Fälle nehmen Sie Platz und setzen Sie sich recht fest!«

Der Major ließ sich in den Lehnstuhl sinken.

»So – sitzen Sie? Die Einleitung können wir uns füglich schenken. Es ist ein Notariatsinstrument über ein Testament vom 7. März 1607. Was für Sie von einiger Wichtigkeit sein dürfte, ist dieses: ›Ich Johannes von Moos auf Moos bestimme und setze fest, das Landsassengut Moos und seine Wälder, Felder, Wiesen, Weiher, Weiden, besucht und unbesucht, sollen zu gesamter Hand besitzen meine beeden Söhne Hans Adam und Georg Titus von Moos – – –!‹«

»Viktoria!« rief der Major, sprang auf und griff mit zitternder Hand nach dem Schriftstück. »Wie soll ich Ihnen das – jemals vergelten?«

»Hab' ich doch selber eine diebische Freude daran«, sagte der Archivar und legte das Testament in die Hände des Benützers.

*

Das war ein Wintertag! Der Schnee knirschte und krachte, pfiff und schrie unter den Sohlen der Menschen und unter 248 den Rädern der Wagen. Dampfwolken stiegen aus den Nüstern der Rosse, und die Glöcklein an den Geschirren läuteten melodisch die Straßen entlang. Alles leuchtete und funkelte im Sonnenscheine, und zwischen den beschneiten Dächern schaute der blaßblaue Himmel herab. Auf den Gesimsen lagen weiße Polster, die Heiligenstatuen an den Häusern hatten weiße Häubchen auf. Jubelnd glitten die Schulkinder auf blanken Schleifen in langen Reihen hintereinander; fröstelnd, mit wollenen Tüchern um den Hals, mit Fäustlingen über den Händen, standen die Bauern auf dem Marktplatze bei ihren Christbäumen und trippelten von einem Fuß auf den andern.

Zwölf Uhr schlug's auf St. Martins Turm. Seine Glocke dröhnte durch den Mittagsrauch der Kamine zu St. Georg hinüber, und St. Georg gab kräftig Antwort darauf; friedlich mischte sich die lutherische Glocke in das ganz undogmatische Zwiegespräch. Da wollte St. Nikolaus auch nicht zurückbleiben und fuhr mit Schalle darein. Die Töne wogten ineinander und verklangen an den Hängen des Mariahilfberges. Und die Straßen wimmelten von Arbeitern, beides, der Hände und des Kopfes, die alle ein und dasselbe Ziel hatten, – die dampfende Suppe auf dem gedeckten Tische.

Es war wie damals, an jenem Spätherbsttage: der Major ging die Regierungsgasse hinunter und durch die Georgenstraße zum Bahnhof hinaus. Aber wie ging er heute dahin! Anders als damals. Durch diese Gassen waren einst jahrhundertelang seine Vorväter geklirrt, in diesem Regierungsgebäude hatte Georg Titus von Moos dem kurfürstlichen Kommissär sein stolzes Nein entgegengeschleudert. Vielleicht an ebensolchem Wintertage. Und über seinem Haupte hatte wohl dieselbe Glocke von St. Martin geklungen und Ja und Amen zu seinem Entschlusse gesagt. Wie lautete doch Liselores Klage immer wieder? ›Fremdlinge in einem fremden 249 Lande!‹ Nein, von nun an keine Fremdlinge mehr, sondern Einheimische, wie vielleicht kaum eines der ältesten Bürgergeschlechter dieser Stadt, aus der Fremde zurückgekehrt nach langer, langer Zeit, und – seltsam, über die Maßen seltsam! – in dasselbe alte Nest, aus dem einstmals der eiserne Wille des Kurfürsten den Ahnherrn mit Weib und Kind verjagt hatte.

Heimgekehrt!

Wie oft war er um diese Mittagszeit aus der Stadt zu seinem Wohnsitze hinausgefahren – wieder um eine Hoffnung ärmer. Heute aber! Wie freute er sich auf den Anblick des hohen Walmdaches, auf den grauen Bau mit den vier Turmresten! Sein Haus, das Haus seines Geschlechtes!

Und da stand es auch schon unter dem klaren Winterhimmel vor den verschneiten Hütten des Dörfleins, und der Rauch stieg lotrecht in die unbewegte Luft empor. Der Rauch von seinem Herde; von dem vielhundertjährigen Heimwesen derer von Moos! –

Der Zug hielt. Mit federnden Schritten ging der Major vom Bahnhäuschen hinüber.

Es war wie damals, nur daß die Linde ihre mächtigen Äste unbelaubt gen Himmel reckte, und daß auf der Bank nicht eine gelbe Blätterdecke, sondern ein dickes Schneepolster lag.

Deshalb wartete auch heute der Postbote nicht sitzend, sondern stehend auf den Herrn.

»Etwas Eingeschriebenes, Herr Major.«

»Sehr gut. Kommen Sie nur gleich mit und holen Sie sich Ihren Schnaps!«

»Der wird mir heut wohl tun, Herr Major. Ich bin halt so grob und geh' mit.«

Er bekam seinen Schnaps wie damals und der Major begab sich mit dem Eingeschriebenen in seine behaglich durchwärmte Studierstube. Es war alles wie damals – 250


»Vater – bitte zu Tisch!«

Keine Antwort.

Noch einmal: »Vater, bitte zu Tisch!«

Es rührte sich nichts in der Stube.

Liselore wartete geduldig. Sie stülpte einen Teller über die Suppenschüssel und griff nach dem ›Tagblatt‹ das der Postbote gebracht hatte.

Franzi, die Magd, trug das Fleisch und das Gemüse auf und murrte: »Hat der Herr Major ebba heut noch nit genug studiert? Muß denn alles schneekalt werden?«

Liselore sprang auf und ging über den Korridor.

»Lieber, lieber Vater, was ist denn heute –?« Mit dir, wollte sie sagen; aber entsetzt blieb sie auf der Schwelle stehen.

»Vater – um Gotteswillen – du bist krank?«

Sie eilte an den Schreibtisch.

»Ich bin nicht krank –!« brachte der totenbleiche Mann mit stockender Stimme heraus. »Ich, ich bin nicht krank«, wiederholte er. »Aber – du arme, arme Liselore!« Und damit lehnte er sich völlig erschöpft im Lehnstuhl zurück.

»Ich –? Du träumst, Vater. Was soll denn mit mir sein? Ich bin doch frisch und gesund. Und du bist auch nicht krank, gottlob nicht!« Sie sank neben dem Zusammengebrochenen auf die Kniee und streichelte seine kalten Hände: »Gelt, nicht krank, lieber, lieber Vater? Oh, wie bin ich erschrocken!«

Er hob die Augenlider und sah sie hilflos an: »Du armes, armes Kind!«

»Aber so erkläre mir doch, liebster, bester Vater, ich verstehe dich nicht!«

Seine Linke tastete nach dem Geschäftsbrief. »Da, lies!«

Sie lag noch immer auf den Knieen, und ihre Linke streichelte seine Rechte, während sie Zeile für Zeile las.

»Also doch!« murmelte sie.

251 »Also doch!« ächzte er. »Oh, ich Tor! Gewarnt und trotzdem ins Verderben gerannt!«

Sie erhob sich, legte den Brief auf den Tisch zurück und versuchte zu lächeln.

»Lieber Vater, es ist ja nur Geldesverlust. Wie bin ich glücklich, daß du nicht krank bist!«

Er schob sie zur Seite und stand schwerfällig auf: »Liselore, ich hatte unser ganzes Vermögen, auch dein Muttergut, bei deinem unseligen Onkel stehen, wie es auch schon auf der Bank deines Großvaters gelegen war. Und jetzt sind wir Bettler.«

Er begann mit schleppenden Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Bettler? Lieber, guter Vater – wie magst du nur so reden! Ich verstehe ja kaum, was das alles bedeuten soll. Aber deine Pension kann dir doch nicht verloren gehen?«

»Meine Pension! Jawohl, meine Pension!« rief er bitter und blieb stehen. »Die haben wir freilich. Diese große Pension eines Majors. Wir werden also nicht verhungern – wenigstens nicht sogleich. Aber was dann, wenn ich die Augen schließe?«

Er begann wieder auf und ab zu gehen. »O ich Tor!«

Es pochte heftig, und Franzi streckte das Kopftuch herein. »Wollen jetzt die Herrschaften heut noch zu Mittag essen oder nit?«

Liselore glitt zur Türe: »Bitte, Franzi, stell es warm, Vater hat eine traurige Nachricht erhalten.«

Das Kopftuch zog sich zurück.

»Was dann, wenn ich heute die Augen schließe?« wiederholte der Major.

»Vater, ich habe dich nie nach unserm Vermögen gefragt. Ich weiß nur, daß du mir damals das Kommißvermögen mitgegeben hättest. Wieviel hast du verloren?«

»Soviel, daß du auch nach meinem Tode behaglich gelebt hättest, – rund Einhundertfünfzigtausend. Ich Tor!«

252 »Vater!« Sie ging zu ihm, legte den Arm auf seine Schulter und streichelte seine Wangen. »Es ist ja nur Geld, weiter nichts. Und denke doch nicht immer an mich. Die Hauptsache ist, daß du es dir nicht so sehr zu Herzen nimmst, daß du gesund bleibst. Dann kann alles wieder gut werden. Wir müssen doch nähere Nachrichten abwarten –. Ich habe ja keine Erfahrung in Geschäften, aber so etwas stellt sich oft zuletzt ganz anders heraus –.«

»Der Schurke!« ächzte der alte Herr. »Eine Million hätte ich ihm blindlings anvertraut, diesem Sohn eines Ehrenmannes, den ich auch für einen Ehrenmann hielt! Und nun hat er mit meinem offenen Depot spekuliert.«

Sie ging hinaus und kehrte mit einem Glas Wein und einem Tellerchen voll Weihnachtsbackwerk zurück, stellte Glas und Teller auf den Schreibtisch, hängte sich an den Arm ihres Vaters und bat flehend: »Nimm einen Schluck und einen Bissen! Das wird dich stärken.«

Widerwillig ließ er sich zu seinem Lehnstuhl ziehen und nahm einen Schluck.

»Liselore, wie kann ich vor dir bestehen? Und zu dem allen habe ich dich wider deinen Willen in das fremde Land, in das Unglücksnest geschleppt.«

»Liebster Vater, das ist nicht wahr, ich bin freiwillig mit dir gegangen, es ist mein eigenster Entschluß gewesen.«

»In meiner verfluchten Selbstsucht habe ich dich hierher geschleppt, und du bist als die allzeit Gehorsame mit mir gegangen,« wiederholte er störrisch. »Und wenn ich heute –«

»Ich bitte dich dringend, sprich es nicht wieder aus!« rief sie. »Wenn du nicht um deinetwillen zu einer ruhigen Betrachtung kommen willst, so mußt du es um meinetwillen tun. Bitte, nimm noch einen Schluck! So. Und jetzt einen Bissen! – Vater –!« Sie stemmte die geballten Hände auf die Tischplatte und sah liebevoll auf ihn herunter: »Jetzt 253 rufe ich selbst den Ahnherrn Georg Titus auf den Plan. Mag man ihn von hier oder von einem andern Orte vertrieben haben –«

»Er ist von hier vertrieben worden«, brachte er mühsam hervor. »Heute vormittag hat mir der Archivar die entscheidende Urkunde gezeigt.«

»Ei, du armer, armer Vater, gerade heute! Aber um so mehr darf ich ihn zu Hilfe rufen: Was ist unser Schicksal an dem seinigen gemessen? Glaubst du nicht auch, er wäre ganz gerne mit einer Majorspension in Moos sitzen geblieben? Vater, lieber Vater, – nicht so trübselig vor dich hinstarren – auf!«

Sie versuchte zu lächeln, nur wollte es ihr nicht recht gelingen.

Er aber saß gebrochen in seinem Stuhle und sagte mit dumpfer Stimme: »Das verwinde ich nicht. Was wird aus dir, wenn ich heute –?«

»Könntest du dich nicht entschließen, mit mir zu kommen und wenigstens einen Löffel Suppe zu nehmen?«

»Liebes Kind, ich bitte dich, laß mich jetzt stille sitzen. Mir ist, als hätte ich Blei in den Beinen.« Er legte die Arme auf den Tisch und vergrub seinen Kopf darein.

Liselore ging allein hinüber.

»Der Vater kann nicht essen, er ist unwohl,« sagte sie der Magd, als diese die Suppe wieder hereinbrachte. »Aber ich will essen – ich will!«

»Wie siehst denn du aus?« rief Franzi entsetzt. »Was ist denn los?«

»O Franzi –! Warte nur ein wenig, ich will dir alles erzählen, wenn ich erst selbst klarer sehe. O Franzi, es ist ein schweres Unglück über uns gekommen. Aber die schwerste Sorge macht mir jetzt der Vater. Paß auf, es wird wieder wie vor zwei Jahren!«

254 Die alte Magd war neben sie getreten und fuhr mit den rauhen Fingern liebkosend über ihren Scheitel. »Nit weinen, Liselorl, nit weinen! Was soll denn wieder werden wie vor zwei Jahr?«

»Eine böse Nachricht hat ihn wie ein Blitz getroffen. Und denk an mich, er wird nun wieder nicht aus dem Hause gehen, wird immer in einer Ecke sitzen und vor sich hinbrüten, und Gott weiß, was zuletzt daraus entsteht. Franzi, ich habe Angst, unsagbare Angst. Du hast ja damals auch alles mit mir durchgemacht, du weißt es.«

»Freilich, freilich,« nickte die Magd und streichelte ihre Wange. »Wir haben's durchgemacht, wir sind durchgekommen, und es ist alles wieder gut worden – gelt? Aber jetzt mußt du essen. Gelt? Essen und Trinken – du weißt ja.«

»Gewiß, ich will essen – ich will!«

Sie raffte sich zusammen und aß Löffel um Löffel von der Suppe, die ihr die Magd auf den Teller geschöpft hatte.


Am Abend kam der Major in die Küche und gab Franzi einige Briefe zu besorgen. Dann ging er ins Eßzimmer und würgte schweigend ein paar Bissen hinunter. Aber sogleich nach dem Essen zog er sich wieder in sein Zimmer zurück. Und bis nach Mitternacht hörte Liselore, die mit brennenden Augen in ihrem Bette lag, da drunten die Schritt des rastlos auf und ab gehenden Vaters.


Sie wußte nicht, wie lange sie geschlafen hatte, tief und traumlos geschlafen. Plötzlich aber schreckte sie empor.

Es war ganz stille, und der klare Mondenschein erfüllte ihre Stube; auf dem Fußboden lag der Schatten von Fensterkreuz und Fensterrahmen.

Sie richtete sich auf und griff nach ihrer Taschenuhr. Es war vier Uhr.

255 Sie legte sich zurück, faltete die Hände unter der Brust und starrte zur Decke empor.

Und jetzt, in dieser Einsamkeit, jetzt, wo sie nur noch das Klopfen ihres Pulses vernahm, jetzt krochen auch die Gedanken der Einsamkeit auf sie herein.

Aber nicht die guten Gedanken von gestern, die liebevollen, die sich nur dem andern, dem Hilfsbedürftigen, entgegenstreckten, die barmherzigen Gedanken, die Öl und Wein in des Nächsten Wunde zu träufeln bemüht waren, – sondern böse Gedanken, die sich aufbäumten gegen das Schicksal und unbarmherzig auf die Suche gingen nach der Schuld des Nächsten.

Entsetzlich! Da saßen sie nun, die Nachkommen jener Vertriebenen, wieder in dem Unglückshause, einzig und allein hierhergekommen, damit sich das Trauerspiel an ihnen wiederhole. Jawohl, das ganze Trauerspiel von damals. Wie oft hatte der Vater von der Bank unter der Linde auf Brücke und Tor hinüber gedeutet: ›Liselore, ich sehe es, als wäre ich dabei gewesen. Der Fuhrmannswagen mit den Habseligkeiten ist schon abgefahren. Jetzt hält der Reisewagen mit dem Plandache vor der Brücke, und jetzt kommt Georg Titus – ich weiß ganz gewiß, daß er es war! – aus dem Hofe und stützt sein Weib, und neben ihnen geht der Knabe mit der Magd. Der Alte wendet sich noch einmal um und blickt lange auf das Wappen über dem Tor. Dann hilft er seinem Weibe unter das Tuch, der Knabe klettert selbst hinauf. Liselore, dieser Georg Titus ist ein ganzer Mann gewesen!‹

Sie hatte damals nichts gesehen, gar nichts. Ihr waren die Gestalten, von denen der Vater träumte, Schatten gewesen, nichts als Schatten. Aber jetzt auf einmal bekamen diese Schatten Fleisch und Blut. Jetzt ging ihr das Verständnis auf; jetzt ward ihr eine Ahnung davon, was es heiße, aus der warmen Sicherheit in die kalte 256 Ungewißheit, vom festen Boden des Besitzes in das Nichts hinaus zu müssen.

Der Vater hatte ja recht. Es konnte über Nacht geschehen, daß er die Augen schloß. Und was würde dann aus ihr? Dann hieß es auch, das Bündel schnüren und die alten Mauern verlassen, in denen sie nichts zu nagen und zu beißen hätte. Dann würde sie den Hausrat verkaufen, und leer und verödet wie einstmals stünde das Schlößchen.

Vor ihr stand eine düstere Gestalt und zerrte ihre Gedanken von Tiefe zu Tiefe.


O Phantasie, Phantasie, du Wesen mit dem rätselhaften Angesicht! Sind es Begnadete, sind es Gezeichnete, an deren Wiege du gestanden bist? Hast du gesegnet, hast du geflucht, als du dich leise über das Bettlein beugtest und sprachst: ich will dich geleiten –? Du berührst mit deinem Stab den Sandhaufen des spielenden Kindes, und er wird zum Gebirge; du hauchst über die tote Puppe, und sie wird zum lebendigen Säugling. Du läßt dich nieder in einer verwilderten Gartenecke und verzauberst die Büsche zum Urwald; du setzest ein altes Wiegenpferd in Bewegung und es jagt als schnaubendes Roß in die Schlacht. Aber du wächst mit dem wachsenden Kinde, und wenn es die ersten Schritte hinaus tut, entführst du sogleich auch sein Begehren bis dorthin, wo der blauduftige Wald in den Himmel hineinragt. Du wächst mit dem Wachsenden. Sind es Begnadete, sind es Gezeichnete, die du erkoren hast? Bist du ein Unhold oder bist du eine Göttin? – Du kannst beides sein, du Doppelwesen mit dem wechselnden Antlitz. Du schlägst die Flügel um deine Kinder und trägst sie schwebend über blumige Gefilde. Das Enge wird weit, und silberne Wölklein locken von Ferne zu Ferne. Der gelbleuchtende Stern der Wiese entfaltet sich zur flammenden Sonnenblume, und als 257 köstliches Geschmeide funkelt der Tau des Morgens auf dem zitternden Gras. Dann aber schlägst du wieder mit ehernen Flügeln auf dein Opfer und treibst es in Wüsten. Dein heißer Atem fährt über sein Haupt, und seine Säfte vertrocknen. Dein sanfter Zauberstab wird zur Geißel und peitscht seinen Rücken. Aus allen Vergangenheiten rufst du deine Dämonen. Wegversperrende Gräben vertiefen sich zu Abgründen, Wildbäche werden zu reißenden Strömen, Hügel türmen sich zu Gebirgen, und Gewitter flammen auf zu Jüngsten Gerichten. Und im wilden, öden Tale lässest du endlich von dem Gefolterten und übergibst ihn hohnlachend deinem Vetter, dem Wahnsinn.

Wehe dem, an dessen Wiege du als die einzige Patin gestanden bist! Wehe dem von dir Begnadeten, von dir Gezeichneten, der sich nur deiner Führung überläßt und nicht beizeiten anruft deinen Widerpart, den eisernen Willen!


Wenn der Vater die Augen schloß, was wurde aus ihr?

Was war sie denn? Was hatte sie gelernt? Womit wollte sie sich im Kampfe ums tägliche Brot behaupten?

Sie mußte dienen! Jawohl, dienen; da konnte kein Zweifel bestehen.

Aber womit wollte sie denn dienen? Mit dem bißchen Latein und Griechisch, Französisch und Englisch?

Mit ihren Kenntnissen im Haushalt? Die waren gering genug. Da stand die alte Magd um vieles fester auf den Füßen.

Und überhaupt – dienen! Sie, die stolze Liselore Titus, sollte sich in Abhängigkeit begeben, den Launen einer Fremden unterwerfen?

Und dann – wenn sie sich auch mit zusammengebissenen Zähnen hindurchgerungen hätte, – worauf war denn ihr ganzes Dasein fortan gegründet? Einzig und allein auf ihre Gesundheit.

258 Ihre Gesundheit war gut; das konnte sie nicht leugnen. Aber welche Gewähr bot eine noch so gute Gesundheit für alle Zukunft?

O Phantasie, Phantasie!

Da lag eines Tages die kranke Liselore, und die langwierige Krankheit hatte all ihre Ersparnisse aufgezehrt. Vor ihr gähnte das Nichts. Unheilbares Siechtum machte sie unfähig zu jeder Arbeit. Da lag sie einsam und von aller Welt verlassen.

Immer grausamer kreisten ihre Gedanken. Sie warf sich hin und her. Wollte denn der barmherzige Schlaf nicht mehr kommen, ihr die wilden Gedanken zu bannen, die klopfenden Pulse zu beruhigen, süßes Vergessen herbeizuzaubern?

O Phantasie, Phantasie!

In alle Tiefen trieb sie der Flügelschlag des Unholds, und sein heißer Atem flüsterte über ihr: ›Liselore Titus, wo bist du denn heimatberechtigt? Hierzulande gewiß nicht. Wo steht denn das Armenhaus, das dich aufnehmen müßte, wenn du, gebrochen vom Kampf ums Dasein, am Wegrande lägest?‹

O Phantasie, Phantasie!

Da gibt's alte, sehr alte Häuser, in denen wird alles Gebrochene, Kraftlose, Untüchtige gesammelt und numeriert. Da gibt's Bettstellen, in denen schon Zahllose dem Ende entgegengeseufzt, entgegengebetet, entgegengeflucht haben. Menschenkehricht, zu nichts mehr nütze, als daß man ihn hinausfahre und einscharre in die allerbarmende Erde.

Ihre Augen weiteten sich, und sie sah die Kreidestriche in dem verödeten Schlosse, und in ihren Ohren tönte das Ächzen der Kranken auf ihrem verlassenen Lager.

Ei, und warum denn nicht? Bist du denn aus besserem Stoffe wie jene Armseligen zwischen den Kreidestrichen unter verwüsteter Pracht? Zufällig als ›höhere Tochter‹ geboren, zufällig bis heute in behaglichen Verhältnissen gewesen, freundlich vorbeigeführt an den Abgründen des Lebens – zufällig 259 alles, was du bist, was du hast. Und welche Gewähr auf Bestand ist vorhanden, warum könntest du nicht ebensogut dort landen, wo schon so viele gestrandet sind vor dir?

Aber Torheit! Nein, sie wollte nicht mehr denken. Sie wollte nicht, sie wollte, wollte nicht!

Das Fensterkreuz auf dem Fußboden war weiter gewandert. Die Taschenuhr zeigte die fünfte Stunde.

Liselore erhob sich, machte Licht und ging an ihr Büchergestell. Unschlüssig leuchtete sie alle die vielen Titel entlang, aber sie sah nichts, was ihrem Elend entsprach.

Endlich an letzter Stelle im untersten Fach –! Schon hatte sie den Band zur Hälfte hervorgezogen. Aber nein! Zornig stieß ihre Hand das dicke Buch zurück, und seufzend erhob sie sich von den Knieen.

Unschlüssig stand sie und leuchtete von neuem die vielen Titel entlang.

Nichts, gar nichts.

Sie glitt zurück an ihr Lager und löschte das Licht.

Aber horch – was war das? Kein Zweifel. Da drunten in seiner Studierstube ging der Vater auf und ab, auf und ab wie vor wenigen Stunden, ruhelos, rastlos.

War er schon wieder aufgestanden und hatte nach seiner Gewohnheit sogleich die Stiefel angezogen – oder war er überhaupt nicht zur Ruhe gegangen?

Sie schlüpfte in die Kleider, und alle bösen Gedanken waren verflogen. Ein uraltes, einstmals bewußtlos gelerntes Wort stieg ihr empor und erschreckte sie tief. Das hieß: ›Aus dem Herzen kommen arge Gedanken –‹

Gottlob, sie dachte jetzt nur noch an ihren Vater. Und sie wollte nur noch an ihn denken. Sie wollte!

Leise ging sie ans Fenster, öffnete und blickte hinaus. Kein Lichtschein fiel aus der Stube da drunten. In geheimnisvolle Ferne aber dehnte sich in der blinkenden 260 Frostnacht die Landschaft, und glührot neigte sich der Mond im Dunste dieser Ferne zum Untergang.

Sie lief über die knarrenden Treppen hinab.

»Liselore –!« Die Magd kam vom Ende des Ganges »Recht, daß du da bist. Grad hab' ich dich wecken wollen.«

»So hast du's auch gehört?«

»Bis um zwei Uhr ist der Herr Major auf und ab gegangen.«

»Und ich habe schlafen können!«

»Dann muß er eingeschlafen sein; aber aus seiner Studierstub' ist er nicht gekommen die ganze Nacht. Sein Bett ist, wie ich's gestern gemacht hab'.«

Liselore klopfte leise an die Türe. Der Mann da drinnen ging auf und ab und wollte nicht hören.

Liselore versuchte zu öffnen. Die Türe war verschlossen.

»Vater, lieber Vater, ich bitte dich, laß mich herein.«

Die Schritte kamen zur Türe.

»Bitte, bitte, lieber Vater, ich bin so sehr in Sorge!«

»Aber Kind, laß mich doch in Ruhe! Es ist gar kein Grund zur Besorgnis!«

»Möchtest du nicht lieber noch schlafen gehen, lieber Vater?«

Er stampfte. »Laß mich doch! Ich muß mir nun alles zurechtlegen.«

Und wieder begann er auf und ab zu gehen – auf und ab, auf und ab.

Sie wartete noch lange Zeit mit gefalteten Händen an der verschlossenen Türe. Da schlich die Magd herzu, ergriff sie beim Arme, zog sie die Treppe hinauf, half ihr beim Auskleiden und setzte sich auf den Stuhl neben das Bett.

»Jetzt schlaf wenigstens du!« bat sie mit rauher Zärtlichkeit und streichelte ihre kalte Hand.

»O Franzi, Franzi, paß auf, es wird arg.«

261 »Warten wir lieber, bis es wirklich so arg ist. Jetzt schlaf!«

»Ich kann nicht schlafen, mir ist so angst.«

Die Magd seufzte tief auf. Nach einer Weile sagte sie: »Es ist und bleibt ein Kreuz! Du kannst halt nit betten.«

Liselore schüttelte heftig den Kopf.

»So muß ich betten – für dich«, murrte die Magd, ließ ihre Hand fahren und sank auf die Kniee:

»O du heilige Mutter Gottes, da schau doch her zu uns aus deinen himmlischen Höhen! Es ist auf uns hereingekommen ein schmerzhaftes Leid. Du weißt es, was Schmerzen sind, die durch das Herz gehen wie brennende Schwerter. Heilige Mutter Gottes, bitt du für uns! Schau her, da ist der Herr Major. Du weißt es ja, was er für ein Herr ist, wenn er auch nichts von dir wissen will. Heilige Mutter Gottes, bitt du für ihn bei deinem lieben Sohn, dann wird alles noch gut. Solang ich bei ihm dien', hat er mir noch kein unrechtes Wort 'geben, das weißt du doch alles. Und schau her, wenn du ihm nit hilfst, dann wird er uns krank. Heilige Mutter Gottes, hochgelobet in Ewigkeit, gedenk du an deine Schmerzen, die du gelitten hast, und hilf uns in unsern kleinen Schmerzen bei deinem lieben Sohn, hochgelobet in Ewigkeit, Amen. Vater unser, der du bist in dem Himmel –«.

Liselore lag still in ihren Kissen, und die Tränen flossen ihr über die Wangen. Wie ein Kind lag sie und lauschte auf das rührende Gebet der alten Magd. Und als diese nun anhub – »Vater unser –«, da bewegten sich auch ihre Lippen unhörbar. –

Die Magd hatte das Vaterunser dreimal gebetet. Jetzt erhob sie sich, strich mit rauher Hand über die Wange ihres Lieblings und ging leise hinaus. 262

 


 


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