August Sperl
Der Archivar
August Sperl

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5. Schicksal

Es war am übernächsten Morgen.

Schon lange hatte die Sonne der alten Stadt geholfen, ihre Reize für die Augen der Gäste zurechtzurücken, als Jonas mit glückstrahlendem Gesicht im Gasthof zum Löwen erschien.

Und wenn auch Theodor Fontane irgendwo ganz entschieden abrät, Türme zu erklettern, die uns nur dem Himmel näher führten, aber von allem andern desto weiter entfernten und im besten Falle nichts als Dächer, flache, schräge, schwarze, rote Dächer zeigten, – wenn auch, so bestand der Major, seinem Grundsatze gemäß, doch darauf, die Stadt zunächst von oben herab zu betrachten.

Und so führte Jonas seine Gäste den nächsten Weg hinauf in den Turm des heiligen Martin.

Da standen sie nun auf der Galerie unter den Uhren, und auch Fontane hätte hier mehr gesehen als Dächer.

Eirund lag die Stadt, eingeengt in ihre alten Mauern, aus denen die vier Tortürme in scharf gezeichneten Linien emporstarrten. Wie ein halbiertes Ei, Kern und Hülle und Schalenwand nach oben gekehrt. Und der zackige Schalenrand war die Stadtmauer, die Hülle eine jüngere Stadt und der Kern ein winziges Städtchen aus ferner, mittelalterlicher Zeit, noch deutlich erkennbar an Zug und Strich enger Ringgassen und Gäßlein. Um das Ganze aber schlang sich ein dicker Kranz von Lindenbäumen.

Freilich waren auch Anwüchse vorhanden, die gar nicht mit dem ursprünglichen Bilde zusammenstimmten. Nicht die Vorstädtchen, die auch schon vom Alter angehaucht waren; die Vorstädtchen, die man ehedem immer kurzerhand wegrasierte, wenn Feindesnot es verlangte. Nicht diese, sondern 102 ungeschlachte Anwüchse der neuesten Zeit, die unserm Volke unter dem Hochdruck des Dampfes so manche Segnungen zweifelhafter Art gebracht hat. Vornehmlich im Südwesten eine große Ansiedelung mit qualmenden, himmelanstrebenden Schlöten, riesigen Werkstätten, roten, kistenähnlichen Arbeiterhäusern und ein paar Herrenhäusern, dick und plump in die Armutei und den rußigen Betrieb mitten hineingepflanzt.

So war die Stadt allüberall über den alten Bering hinausgequollen, und auch am Abhang des langgestreckten Berges lugten aus üppigen Obstgärten weiße Häuschen hervor – fast bis dorthin, wo der Wald von der Höhe herabwuchs und über den Wipfeln alter Buchen, Linden und Fichten der Turm einer Wallfahrtskirche mit mächtigem Zwiebeldach thronte.

Und angesichts der Unstimmigkeiten, der Mißtöne zwischen alt und neu, pflegten sich die Meinungen der Beschauer zu spalten. Weltfremde Schönheitsucher hätten am liebsten den ganzen neumodischen Plunder wegrasiert – wie ein rücksichtsloser Stadtkommandant der alten Zeit beim Anrücken des Feindes die Vorstädte wegputzte. Nur fehlte ihnen das nötige Kleingeld zum Aufkaufe. Schönheitsfremde Geschäftsleute dagegen äußerten sich geringschätzig über das Alte insgesamt und behaupteten mehr oder minder offenherzig, Mauern und Türme müßten ehestens niedergerissen und die Gräben ringsum eingefüllt werden, dann mache sich das Übrige schon allmählich von selbst. Nur, was sie unter dem Übrigen verstanden, sagten sie nicht. –

Lange Zeit standen die drei Freunde wortlos in die Betrachtung des großen Rundbildes versunken. Endlich sprach der Major fast andächtig: »Das da drunten ist über die Maßen altertümlich, und ein Geschichtsfreund wird immerfort wieder Neues entdecken. Aber wohnen möchte ich denn doch nicht in dem Gewinkel – sondern da draußen irgendwo im freien Land, in freier Luft.« Und mit einer sehr 103 entschiedenen Handbewegung wischte er über den Steinhaufen und deutete hinaus in die Ferne.

Aber sogleich erwiderte Jonas Eisenhut mit stolzer Bescheidenheit und wies schräg hinab zwischen das Gewirre der Dächer: »Und ich wohne eben da drunten wie meine Väter und wünsche mir niemals Besseres als dieses. Der Giebelbau in der Gasse dort mit dem Rokoko-Erker ist meine Behausung, und der Erker wie das Barockportal sind eine Rarität.«

Liselore hatte überhaupt nicht gesprochen, seit sie da oben standen. Denn ihr verschlug alles, was sie innerlich bewegte, die Stimme.

Träge wie immer strömte das Flüßlein beim Turme des oberen Stadttores herein, trennte die Stadt in zwei Teile, spiegelte die Häuser in seinem trüben Gewässer, strich an den moosigen Grundmauern hin, aus denen hüben Sankt Martin, drüben das Pfalzgrafenschlößlein mit seinem hohen Treppengiebel und dem schlanken Kapellenchörlein emporstiegen, gluckste unter der hölzernen Brücke, die auf altersbraunen Balken das biedere Ziegeldach trug, und verließ den Bering der Stadt durch den Doppelbogen, der sich im Spiegel des Wassers zur riesigen Brille ergänzte.

Tauben gurrten unten im Turme, Tauben strichen mit silberigen Schwingen über die Dächer, feiner Rauch stieg aus den Kaminen kerzengerade in die Luft, tausendfaches Leben pochte und kreischte, stampfte und rollte tief unten; und alles Harte, Scharfe klang gedämpft empor.

Auf dem länglichen Platze zwischen Sankt Martin und dem Rathause wimmelte die Geschäftigkeit des Marktes, auf dem Schienenweg von Böhmen her keuchte ein langer Güterzug durch die duftige Landschaft, und von fernen Höhen gellten kriegerische Hornrufe.

Sie stiegen vom Turm und begannen den Rundgang.

104 Liselore hat später noch oft an diesen ersten Gang durch die Straßen der Stadt gedacht, an das harmlose Wandern im Gefühle vollkommener Freiheit, mit dem erhebenden Bewußtsein, keinen von all den Zahllosen zu kennen und keinem etwas schuldig zu sein. –

Über die Menschen gießt die Sonne, um die Mauern webt sie in verschwenderischem Reichtum ihr unfaßbares, ungreifbares Gold.

Sie spielt über die steingewordenen, heiligen Geschichten an der gotischen Tumba Otto Pipans des Pfalzgrafen hinter dem Hochaltar der Martinskirche und läßt bläulich schimmern den Weihrauchdunst hoch oben zwischen den himmelanstrebenden Säulen des Schiffes. In ihrem versöhnenden Lichte vollzieht sich sogar die Enthauptung Johannes des Täufers auf fünf Quadratmetern Leinwand, gemalt von dem ›berühmtesten Maler in Niederland Caspar de Krayer‹, harmlos befriedigend wie ein selbstverständlicher, theatralischer Abschluß, während Maria im Kreise verschiedener Heiliger von einer andern Leinwand herab mit höfischer Anmut die malerische Heiterkeit des christlichen Glaubens zu verkünden bestrebt ist. Aber dieselbe Morgensonne leuchtet auch über das strenge, spätgotische Holzbild des heiligen Wolfgang, das mit ernsten, großen Augen, mit der Ruhe eines Abgeklärten vorbei an einer verwelschten, aus den Gliedern gerenkten Gottesverehrung in Ewigkeitsfernen hinausblickt, – deutsch von der Stirne bis an die Zehen.

Und deutsch ist auch der wuchtige Büchsenmeister, der auf der roten Marmorplatte da draußen neben dem Südportale eingehauen steht, einäugig, die leere Augenhöhle mit einem großen Pflaster verschlossen, die betenden Hände mit einem dicken Rosenkranz umschlungen – ohne Zweifel ganz fertig mit dem Zerstörungswerke seines Lebens, das seinen Ausdruck findet in den Wappenbildern zu seinen Füßen, der bösen Kanone und dem feuerspeienden Drachen.

105 Über die Menschen gießt die Sonne, um die Mauern webt sie mit verschwenderischem Reichtum ihr Gold. Und die Menschen von heute bewegen sich geschäftig zwischen den Zeugnissen vom Dasein derer, die gestern und ehegestern gewesen, und aus den Schatten hebt sich zwischen nichtssagenden Gebäuden das gerettete wundervolle Erbe alter, harmonisch in sich geschlossener Zeiten: Die Mauern von Sankt Georg, der Stadtkirche von einstmals. Die Reste jenes weitläufigen Schlosses, das vor fünfhundert Jahren ein strenger Herr einer aufsässigen Bürgerschaft auf den Nacken gesetzt hat. Der hohe Renaissance-Erker, der auf zwei Säulen über dem Tore des alten Regierungsgebäudes emporwächst und weit und breit seinesgleichen nicht hat. Die Pracht des Rathauses, das Werk so vieler Geschlechter. Die Zierlichkeiten alle, verstreut in Gassen und Gäßlein, ehedem Freude und Stolz derer, die längst schon ruhen und schlafen: hier eine Fassade, dort ein Fensterumrahmung, da ein Wappen, dort ein lauschiger Innenhof mit fließendem Brunnen, hier in einer Nische eine Pietà. Und endlich die Stadtmauer mit ihren wuchtigen Torbauten und den vielen Türmchen – dem Pfaffenhansel, dem Schadenfroh, dem Dockenhansel, wie Laune und Witz der Alten sie benannt hat.

Aber auf einer achthundertjährigen Vergangenheit ruht doch die Stadt! Wo sind dann die Zeugen der ältesten Zeiten?

Die ersten drei Jahrhunderte sind spurlos im Erdboden versunken. Kein Mauerrest, keine Inschrift, kein abgetretener Grabstein gibt Nachricht von ihnen. Aber da und dort treibt vielleicht ein alter Baum auf einem verlassenen Friedhofe seine Wurzeln in den Moder derer, die damals gewesen, und seine Saugadern winden sich zwischen einem Knöchlein und einem Goldring in noch tieferes Erdreich hinab.

Die Jahrhunderte tun sich kund als Jahresringe am Stamme der Geschichte – breit und scharf begrenzt die letzten, schmaler und schmaler die inneren, und die innersten so eng 106 aneinandergepreßt, daß die Linien zusammenfließen, je näher es dem Kerne zugeht. Und mit jedem neuen Ringe, der sich ansetzt, wird der nächstältere Ring enger zusammengeschoben und also ein Jahreszeuge nach dem andern zwischen den drängenden Ringen zerdrückt.


Man war müde und hungrig, als Jonas in einer stillen Seitengasse vor einem reichgeschnitzten Barocktore stehen blieb, das Pförtchen öffnete und mit einer Verbeugung erklärte: »Hier bin ich zu Hause, und im Hinblick auf ungezählte belegte Brötchen, die in den vorigen Wochen aus dem mildtätigen Armbeutel des gnädigen Fräuleins auch zu meiner Labung gestiegen sind, bitte ich die Herrschaften zum Mittagessen.«

*

Sein Name ist ›Es‹. Nicht Mann, nicht Weib, sondern ›Es‹.

Noch nie hat ein Sterblicher aus eigener Kraft sein wahres Antlitz geschaut, noch nie; denn ›Es‹ trägt immer eine Maske. Und immer eine andere, ganz für Ort und Zeit geeignete und auf die Menschen – auch aus ein ganzes Volk – berechnete Maske. Ganze Völker denken gar nie, einzelne Menschen erkennen nur selten, daß sie eine Maske vor sich haben, wenn ›Es‹ vor ihnen steht. Sie halten die täuschende Maske für ein leibhaftiges Antlitz.

›Es‹ kommt auf allen Erdenwegen; denn alle Wege sind gangbar für ›Es‹. Ja, ›Es‹ bedarf gar keiner besonderen Wege; ›Es‹ schreitet einher zu Lande, ›Es‹ fährt auf den Wassern, und ›Es‹ fliegt durch die Luft. Für gewöhnlich reitet ›Es‹ allerdings auf einem blinden Rößlein. Das Rößlein vermöchte keinen Schritt allein zu tun. Aber ›Es‹ sitzt fest im Sattel und lenkt das blinde Tier mit unwiderstehlichem Drucke.

›Es‹ ist das Schicksal, und sein Rößlein heißt Zufall.

Und ›Es‹ erscheint den Sterblichen zumeist als etwas unsagbar Falsches, Tückisches, Unberechenbares; denn sehr 107 oft bringt ›Es‹ dem kurzsichtigen Menschen in lächelnder Maske das Leid und in grausiger Maske das Glück.

Die Menschen wähnen, daß sie nichts Besseres seien als Spielbälle in der Hand einer unheimlichen Macht, die ›Es‹ in der Maske auf dem Rößlein des Zufalls ausschickt zu den Wohnungen der Menschen.

Allerdings gibt es auch solche, die helle Augen ihr eigen nennen, Augen, mit heiligem Wasser gewaschen. Und diesen Augen ist es gegeben, hinter die Maske zu schauen. Sie sind sich immer bewußt, daß ›Es‹ ausgesandt ist von der Macht, die Himmel und Erde auch noch nach andern als den erkennbaren, erforschbaren Gesetzen beherrscht, und daß diese Macht es ist, die letzten Endes nicht nur das reitende ›Es‹, sondern auch das blinde Tragtier Zufall regiert. Sie sind deshalb doppelt und dreifach vorsichtig, wenn ›Es‹ mit verheißungsvoller Maske lockend und prüfend vor ihnen steht und ihnen die Hand bietet, und bergen ihre Hände auf dem Rücken und prüfen auch ihrerseits die Erscheinung. Und wenn ›Es‹ unerbittlich in der Maske des Leides über sie hereinbricht, dann verzweifeln sie nicht; denn sie schauen hellsehend hinter der Maske die ewige Liebe.


Diesmal hatte ›Es‹ eine harmlose, liebenswürdige Maske gewählt: ›Es‹ hatte sich in den ahnungslosen Jonas Eisenhut gesteckt. Und das Rößlein, das dieser ritt, war nicht einmal blind, es war nur behaftet mit dem Fehler des Hahnentrittes und nannte einen Hirschhals sein eigen.

Der Major aber schickte sich an, beide Hände dieses maskierten ›Es‹ zu ergreifen.


Augenblicklich saß er in einem tiefen Lederstuhle zu ebener Erde im staatlichen Archive des Kreises einem kleinen, alten 108 Herrn mit langem, weißem Barte, frischer Gesichtsfarbe und hellleuchtenden blauen Augen gegenüber.

Dieser hatte aufmerksam zugehört, lehnte sich jetzt zurück, strich nachdenklich über seinen Bart und sagte: »Nach allem, was Sie mir soeben und was mein lieber junger Freund Eisenhut mir gestern mitgeteilt haben, handelt es sich um eine sehr ausgedehnte und dazu ziemlich aussichtslose archivalische Forschung. Irgendein Hindernis steht Ihrer Arbeit von unserer Seite selbstverständlich nicht im Wege. Ihre Forschung ist eine familiengeschichtliche und als solche gebührenpflichtig. Sie verfassen also eine Eingabe des Inhaltes, daß Sie einen Vorfahren suchen, der angeblich zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges in Regensburg gelebt hat, möglicherweise infolge der Gegenreformation aus dem Kurlande Oberpfalz oder aus dem Fürstentum Sulzbach vertrieben worden ist, aber vermutlich gar nicht Titus, sondern ganz anders geheißen hat. Sie zahlen die ungeheuerliche Staatsgebühr von zwei Mark, und ich lege Ihnen unbedenklich die einschlägigen Register, Repertorien genannt, vor, Sie schreiben die Archivalienbetreffe auf die zu diesem Zwecke mit Vordruck versehenen Zettel, der Archivdiener wandelt in die weitgedehnten Gefilde unsrer Säle, die, nebenbei bemerkt, in zwei verschiedene, zum Glück nebeneinander liegende Gebäude verteilt sind, und hebt Ihnen alles nach Wunsch aus. Ich spende Ihnen meinen archivarischen Segen, und Sie begeben sich auf Ihre Pirschgänge – haben entweder Weidmannsglück oder unsägliches Pech. Da jedoch nach unsern Erfahrungen herzerfreuende Glücksfälle hierinnen ebenso dünn gesät sind wie draußen im Leben, so tun Sie gut daran, sich mit dem dreifachen Erze der Geduld zu wappnen.«

Der Major versicherte, daß er schon seit den Tagen seiner rekrutendrillenden Leutnantszeit ein ungewöhnliches Maß 109 von Kommißgeduld sein eigen nenne. Es bleibe ihm daher nur noch übrig, um die gütige Unterstützung der Beamten zu bitten.

»Das ist unsere selbstverständliche Pflicht«, sagte der Archivar. »Und nun will ich Sie dem Kollega vorstellen.«

Sie begaben sich durch einen Saal, in dem zwei untergeordnete Beamte arbeiteten, in das schmale Kabinett, das ein Herr mit langwehendem rötlichem Schnurrbart, einer schnarrenden Stimme und einem gewaltigen Schmiß auf der Wetterseite seines Angesichts bewohnte.

Die Vorstellung war rasch erledigt, der Vorrat an allgemeinen Redensarten in Bälde erschöpft.

Dann ging's in den Saal zurück, und der Archivar sagte gemütlich: »Hier, Herr Major Titus wird in nächster Zeit das Archiv benützen. Hier Herr Funktionär Sauerbrei, ehemals Wachtmeister mit der goldenen Tapferkeitsmedaille von 1870, und hier Archivdiener Hinterhuber, der zwar anno sechsundsechzig bei Kissingen seinen halben linken Arm gelassen hat, aber mit anderthalb Armen noch die größten Aktenfaszikel wälzt.«

Mit ein paar raschen Schritten trat der Major auf die Veteranen zu, die schmunzelnd, in militärischer Haltung dastanden. »Wo erworben?« fragte er den riesigen Wachtmeister mit dem grauen Schnurr und Knebelbart. »Bei Weißenburg, Herr Major!« – »Famos, famos, Herr Funktionär. Glänzende Erinnerung.« – »An der man zehrt bis zum großen Appell, Herr Major,« sagte der Graubart mit leuchtenden Augen. – »Und Sie – anno sechsundsechzig? Damals sind wir einander als Feinde gegenübergestanden. Aber die Zeiten sind andere geworden. Gottlob! Wenn ich nun mit Erlaubnis Ihres Vorstandes hier arbeite, so hoffe ich, daß wir gut miteinander auskommen!«

Funktionär und Diener fühlten sich geehrt, und der alte Wachtmeister bemerkte später zum Diener: »Da sieht man's 110 halt wieder einmal: ein alter Soldat. Jeder Zoll ein Kavalier, dieser Major Titus.«

Es klingelte und hallte wie der Ton einer Kuhschelle durch die Gewölbe, und der Diener begab sich hinaus.

»Sie haben den Wunsch geäußert, das Archiv zu besichtigen?« sagte der Archivar.

»Gelegentlich, ganz gelegentlich!« beeilte sich der Major zu entgegnen.

»Wir können sogleich einen Rundgang unternehmen. Ich trete heute ohnedies einen vierzehntägigen Stadturlaub an und habe deshalb alles Laufende bereits erledigt. Also stehe ich zur Verfügung.«

Der Diener kam zurück: »Ein Bauer will den Herrn Vorstand sprechen. Er glaubt, daß er ein Streurecht hat. Und ein Herr Pfarrer ist auch draußen. Strittige Kirchenbaulast.«

»Also zuerst die Kirchenbaulast. Ich lasse den Herrn Pfarrer bitten! Der Bauer soll sich hierher setzen und warten!« befahl der Archivar. »Entschuldigen Sie, Herr Major. Sie werfen inzwischen vielleicht einmal einen Blick in das Repertorium über die Akten aus der Zeit der Gegenreformation. Bitte, Herr Funktionär, legen Sie Repertorium vor.« – – –

Die Kirchenbaulast mußte sehr schwer, das Streurecht oder vielleicht auch die Auskunft des Bäuerleins etwas unklar sein; denn es währte eine gute halbe Stunde, bis der Archivar wieder zurückkam.

»Nun also, Herr Major, immer voran! Und damit mir vom Innern zum Äußern vorgehen – hier das Herz des Archives.«

Er öffnete die Flügeltüren des Repertorienschrankes, auf dem mit großen Buchstaben zu lesen war: ›Eigenmächtiges Ausheben dieser Bände ist im Hinblick auf die Dienstvorschriften untersagt.‹

»Hier haben Sie die Verzeichnisse all unserer Schätze: 111 Akten, Urkunden und geschriebene Amtsbücher. Es sind, wie Sie an den Nummern sehen, einhundertundzwanzig Bände, die ältesten zur Zeit des österreichischen Erbfolgekrieges entstanden, das jüngste –«

»Ist noch beim Buchbinder«, fiel der Amtsdiener ein.

»Und von hier aus beherrschen wir unser Archiv. Jetzt in die Säle!«

Sie gingen zwischen den eng aneinandergerückten Aktengestellen hin, die bis zu den Gewölben emporragten. Reihenweise prangten die festumschnürten Faszikel in den Fächern, ein jeder mit weithin sichtbarer Aufschrift versehen. Sie gingen in die luftige Kammer, wo die Urkundenkästen standen mit runden Löchern in den Schubladen und feinem Drahtgitter vor diesen Löchern. Anzusehen wie Speiseschränke. Sie traten auf die Straße und begaben sich in das große Gebäude nebenan, wo sich im gewölbten Erdgeschosse auch wieder Saal an Saal reihte, jeder vom Boden bis in schwindelnde Höhe vollgepfropft mit Aktenfaszikeln, mit Sal- und Lagerbüchern, Katastern und Rechnungsbänden in allen Formaten.

»Ein ganz altmodisch eingerichtetes Archiv, wie Sie sehen, Herr Major. Jeder Saal mit List und Ausdauer der Nachbarbehörde abgerungen. Alles angepaßt; Flickwerk, so billig als möglich hergestellt. Neue Archive haben andere Einrichtungen: Eisengestelle mit Wendeltreppen und Galerien, Aufzüge, Klapptische. So vornehm treiben wir's nicht. Allerdings windet sich auch der Gedanke an einen Neubau schon durch Jahrzehnte wie eine Schlange durch unsere Akten – vorläufig aber behauptet der Staat, er habe kein Geld. Kommen muß ja dieser sagenhafte Neubau einmal; denn Sie sehen, wir sind an der Grenze unserer Aufnahmefähigkeit angelangt.«

»Ich habe noch nie ein neues und auch kein altes Archiv gesehen«, bekannte der Major. »Aber ich kann Ihnen nur sagen, ich bin überwältigt von der Fülle dessen, was ich hier 112 erblicke. Und diese Archivalienmassen sind also in einem Zeitraum von sechs-, achthundert Jahren erwachsen?«

»Oho!« rief der alte Herr. »Machen Sie mir den Appetit nicht rege! Unsere älteste Urkunde stammt aus dem Jahre1401. Nur einige, von einer Stadt hinterlegte Stücke sind aus dem dreizehnten Jahrhundert. Akten gibt es ja überhaupt erst seit Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Aber die ältesten Urkundenschätze der Oberpfalz liegen im Hauptarchiv in München. Diese Einteilung ist eine Frucht der napoleonischen Zentralisationsidee: alle Kostbarkeiten des Landes in den großen Städten vereinigen, damit sie doch ja bei irgendeiner Katastrophe samt und sonders in Rauch aufgehen. So sind unsere Kreisarchive weitgedehnten Obstgärten zu vergleichen, deren unterste Äste, Zweige, Blätter und Früchte fein säuberlich abgesägt, abgerupft und gepflückt sind. Wenn sich also Ihre Familienforschung infolge eines glücklichen Fundes ins vierzehnte und dreizehnte Jahrhundert zurückerstrecken müßte, dann könnten wir Ihnen mit dem besten Willen nicht mehr dienen.«

Der Major lachte: »Ich bin zufrieden, wenn ich vorderhand jenen Titus X., zirka 1630, glücklich beim Kragen gefaßt habe. Im übrigen möchte ich nun eine Wünschelrute zur Hand haben, mit ihr diese endlosen Gestelle entlang gehen und auf leises Zucken warten, – Sie wissen doch? – das Zucken, das mir anzeigte: hier steckt er!«

»Der Holzwurm?« fragte der Archivar.

»Nein, der Titus X.«, lachte der Major.

»Und ich möchte zuweilen dem unvermeidlichen Holzwurm auf solche Weise zu Leib gehen«, sagte der Archivar. »Übrigens, die Wünschelrute in Ihrem Sinn und Belang ist eben das Repertorium.«

»Ein ungemein interessanter Beruf, dem Sie da leben!« rief der Major begeistert. »Alle Tage neue Forschungsreisen, jede Stunde eine neue Entdeckung –«

113 »– daß schon der Urgroßvater des Bauern Grashuber widerrechtlich im Staatswalde Streu gerecht hat und der Oberförster darob höchlich erbost war, oder daß der Kirchturm von Schnackelricht schon anno 1480 bedenklich gewackelt hat und anno 1517, gerade als Luther seine Thesen an die Wittenberger Schloßkirche heftete, richtig auch eingefallen ist,« sagte der Archivar ein wenig spöttisch. »Ja, sehen Sie,« fuhr er etwas ernsthafter fort, »unser Kuchen besteht auch nicht aus lauter Rosinen. Und für gewöhnlich ist's gar kein Kuchen, sondern richtiges Hausbrot. Und wenn wir dann wirklich einmal bei unsern Arbeiten auf etwas Interessantes stoßen – glauben Sie, dann dürfen wir dem auch so ohne weiteres nachgehen?«

»Nicht?« fragte der Major verwundert.

»Nehmen Sie an, ich finde beim Durchforschen der Pfarrakten von Schnackelricht die ergreifendsten Berichte über einen Einfall der Mansfelder Soldateska oder Klagen anläßlich der rücksichtslosen Durchführung der Gegenreformation niedergelegt und dergleichen mehr – kann ich mich mit dem eingehenden Lesen dieser Schriften aufhalten? Nein! Denn was suche ich? Baufallwendungen, weiter nichts. Also werfe ich auf einen Notizzettel die Stichworte ›Mansfelderkrieg, Gegenreformation, siehe Repertorium x, Faszikel y, Nummer z‹ und lege dann alles beiseite. Oder ich habe einen großen, neuzugegangenen Bestand zu ordnen. Ein in sich geschlossenes Archiv von zehntausend, fünfzehntausend Nummern. Und ich finde in diesen Archivalien Fehdeakten aus dem fünfzehnten, Stiftungsakten mit einer Fülle von genealogischen Nachweisen, gemalten Ahnentafeln mit Wappen, Abschriften von Diplomen aus dem achtzehnten Jahrhundert – darf ich mich damit weiter beschäftigen, als es die Verzeichnung all dieser Schätze erfordert? Unter keiner Bedingung! Wo käme ich hin, wollte ich bei einer Wanderung in jedes Seitental eindringen und an jeder Quelle verweilen? Also die 114 Zähne zusammengebissen bei Akt 5601, das, was mich fast unwiderstehlich anzieht, in den Umschlag gelegt, mit Bindfaden verschnürt – weg damit und weiter zu Akt 5602! Sehen Sie, so arbeitet der Archivar, und wenn er's anders macht, kommt er zu nichts – wovon es allerdings auch Exempla von Beispielen gibt. Nein, Herr Major, unser Beruf ist ein trockener und führt uns durch manche Papierwüste. Aber allerdings, diese Wüste birgt ihre Oasen, und zu denen kommen wir in den Höhestunden unseres Daseins. Klarlegung von Rechtsverhältnissen, oft auf vier-, fünfhundert Jahre zurück, das ist der eine Teil unserer Tätigkeit, und er befriedigt den Mann, wie ihn jede gewissenhaft durchgeführte Arbeit, Pflügen und Säen, Holzhacken und Stiefelputzen befriedigt. Förderung der privaten Archivbenützung, der ortsgeschichtlichen, der familiengeschichtlichen Forschung, das ist der andere Teil. Und dieser Teil erhält uns frisch, läßt uns nicht bei unserer trockenen Arbeit selbst unversehens vertrocknen; denn er bringt uns fort und fort mit Menschen in Berührung und vermittelt auch mitunter sehr angenehme Bekanntschaften.«

Beide Herren verneigten sich lächelnd voreinander.

»Der dritte Teil«, fuhr der Archivar fort, »gehört der Ordnungsarbeit. Und mit dem Ordnen kommen wir niemals zu Ende. Niemals! Wird uns ein Archiv geordnet übergeben, dann setzen wir unsere Ehre darein, es dereinst wohlgeordnet weiter zu geben; und haben wir's wohlgeordnet überkommen, dann muß es eben mit allem Fleiß hochwohlgeordnet werden. Aber auch in glänzend geordneten Archiven wird man niemals fertig, kann nun und nimmermehr sagen: Sei getrost, liebe Seele, tu, was dir behagt, und streichle tagtäglich die ledernen Rücken deiner Repertorienbände. – Aber ich fürchte, meine Ausführungen möchten Sie langweilen?«

»Ich könnte Ihnen stundenlang zuhören!« rief der Major mit Begeisterung.

115 »Dann sind Sie entschieden archivalisch infiziert«, erklärte der Amtsvorstand. »Und in diesem Falle gehen Sie einer Gefahr entgegen!«

»Das wäre?«

»Sie schrumpfen ein, verlieren Arme und Beine, Ihr Leib wird – entschuldigen Sie – walzenförmig, und zuletzt sind Sie in einen Archivwurm verwandelt. Lachen Sie nicht! Jeder Archivar kennt solche Exemplare. – Nun aber zum vierten und letzten Teil meiner Predigt – das ist die Wissenschaft als Arbeitsgebiet des Archivars. Die wissenschaftliche Forschung, die wir selbst in unsern Nebenstunden betreiben, und die, zu der wir den Forscher geleiten, der aus der großen wissenschaftlichen Welt an unsere Küste verschlagen wird. Und sehen Sie, solch ein Forscher ist zum Beispiel Jonas Eisenhut.«

»Mir imponiert natürlich sein Wissen ganz gewaltig«, sagte der Major. »Aber ist er in der Tat so bedeutend?«

»Bedeutend? Ich sage Ihnen, er könnte morgen ein epochemachendes Werk in Druck geben, und in einem Jahre wäre er Hochschullehrer – wenn er nur wollte.«

»Darf man fragen, was ist das für ein Werk?«

»Er hat's Ihnen nicht erzählt? Das sieht ihm gleich. Aber es ist ja kein Geheimnis. Eine Wirtschaftsgeschichte der Oberpfalz von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Und dieser Mann« – der Archivar stampfte zornig – »dieser Mann, der nur hundert Seiten seines Riesenmanuskriptes an die nächste Universität einzuschicken brauchte, kann sich nicht einmal entschließen, den Doktor zu machen.«

»So ist sein Werk schon ganz fertig?«

»Ganz fertig. Das ist's ja eben! Er hat es fertig, soweit Menschenwerk überhaupt fertig, soweit wissenschaftliche Forschung jemals zum Abschluß gebracht werden kann. Er aber behauptet fortwährend, er könne eine so unfertige Arbeit nicht herausgeben, gräbt immer weiter und findet dann 116 gewiß noch ein Würzelchen, das etwas anders riecht als die übrigen. Am liebsten aber spaltet er Haare, und wenn er sie gespalten hat, dann viertelt er sie der Länge nach. Das ist Jonas Eisenhut – im übrigen einer der besten, lautersten Menschen und mir ein so lieber junger Freund, daß ich es im Grund meiner Seele doch lebhaft bedauern würde, wenn er seinen Rokokokasten verließe und einem Lehrstuhle zupilgerte. – Aber was gedenken Sie nun zunächst zu tun, Herr Major, wenn ich fragen darf?«

»Wir bleiben ein paar Wochen hier und machen Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung. Dann reisen wir heim, und im Herbste komme ich auf einen Monat zurück und erledige meine Forschungen.«

»Und machen während dieses Monats einen kleinen Anfang in Ihren Forschungen«, berichtigte der Archivar.

»Glauben Sie, daß ich in einem Monat nicht zum Ziele komme?«

»In einem Jahre – möglicherweise. Unter Umständen in Jahren. Vielleicht aber auch nie.«

Der Major blickte betreten zu Boden.

»Lassen Sie sich's nicht bekümmern«, tröstete der Archivar, »und fangen Sie an. Dann kommen Sie wieder und wieder, und vielleicht glückt's doch einmal. Übrigens – darf ich Sie während meines Urlaubs zuweilen auf Ihren Wanderungen führen? Ich könnte Sie vielleicht auf so manches aufmerksam machen, was man gewöhnlich übersieht. Allerdings haben Sie ja auch Eisenhut an der Seite. Aber was der eine von uns nicht weiß, das kann wohl der andere ergänzen.«

Der Major streckte dem alten Herrn beide Hände entgegen. –

Diesmal hatte ›Es‹ sich in die Maske eines Archivars gesteckt und ritt auf einem großen, vom Alter gebräunten Aktenfaszikel. 117

 


 


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